" Geschlechtergerechtigkeit ist kein Kampf zwischen Männern und Frauen. Alle Geschlechter tappen der Voreingenommenheit in die Falle. "
Think:Act Magazin “Das Unbekannte”
Über weiße Männer und Geschlechtergerechtigkeit
Think:Act Magazine
Echte Geschlechtergerechtigkeit kann es nur geben, wenn weiße Männer sich mehr dafür einsetzen
von Janet Anderson
Fotos von Burt Glinn
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Liebe weiße Männer, Ihr habt unsere moderne Arbeitswelt geformt und habt die Vorteile eurer Privilegien genossen – selbst wenn ihr euch dessen gar nicht bewusst wart. Jetzt ist die Welt dabei, sich zu ändern. Wie wäre es, wenn ihr mithelft, den Prozess zu beschleunigen?
Diverse Teams sind besser. Schon der gesunde Menschenverstand lässt vermuten, dass Firmen, die Produkte für Männer und Frauen herstellen, mehr erreichen, wenn ihre Belegschaft die Menschen widerspiegelt, für die sie arbeitet.
Zahlen bestätigen diese Vermutung. Viele Studien beweisen, dass mehrgeschlechtliche Teams bessere Entscheidungen fällen, innovativer sind und ein besseres Arbeitsklima für alle schaffen. Unternehmen mit diversen Führungsebenen erwirtschaften höhere Umsätze und Gewinne als ihre Wettbewerber. Hinzu kommt aber auch eine moralische Komponente. "Wie wollen wir uns nach vorn bewegen, wenn wir die Hälfte der Bevölkerung ausbremsen?" fragt Leena Nair, Personalreferentin bei Unilever.
Sicher, der Anteil von Frauen in der Arbeitswelt ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen, dennoch sind sie nach wie vor unterrepräsentiert. Und je höher man die Ränge emporklimmt, umso offensichtlicher wird die Diskrepanz. Aber wie können wir Veränderungen anschieben?
Ein großes Problem ist Voreingenommenheit. "Voreingenommenheit führt dazu, dass Frauen seltener eingestellt und befördert werden", sagt Rachel Thomas, CEO von Lean In, einem globalen Netzwerk, das sich dafür einsetzt, dass Frauen ihre Ziele verwirklichen. "Drei Viertel aller Frauen erleben täglich Voreingenommenheit am Arbeitsplatz, und dieses Problem nimmt zu, wenn es sich dabei um Frauen mit dunkler Hautfarbe handelt, um eine Frau aus der LGQBT+-Community oder eine Frau mit Behinderungen. Dennoch stellt sich nur einer von drei Angestellten Vorurteilen entgegen, wenn sie damit konfrontiert wird, und das schließt das Management mit ein."
Diejenigen, die bislang das sagen haben, müssen zu einem Teil der Lösung werden: weiße Männer. Warum treten sie nicht nach vorn und tragen ihren Teil dazu bei, den Wandel voranzutreiben? Ein Teil des Problems besteht darin, dass sich viele Männer in Führungspositionen der Privilegien, die sie genießen, nicht bewusst sind. Manche betrachten ihre Karriere als einen Beweis für ihre Leistungen und bemerken nicht, dass diese Sichtweise verzerrt sein könnte. Andere würden gern Veränderungen bewirken, aber wissen nicht, was sie tun können.
Hinzu kommt: Veränderung kann Angst machen und das Festhalten an konventionellen männlichen Normen ist oft die vermeintlich einfachste Lösung. "Wenn wir Unternehmen nach vorn bringen wollen, müssen wir herausfinden, welche Probleme es gibt– und warum es sie gibt", sagt Alixandra Pollack, Vizepräsidentin von Catalyst, einer global tätigen NGO, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt.
Pollack betreibt das Programm "Men Advocating Real Change" (MARC): In Workshops treten Männer und Frauen in einen Dialog mit dem Ziel, Männer zu motivieren, Anwälte für Gleichstellung zu werden. Darin legt Pollack offen, wie Geschlechterrollen konditioniert werden. Die Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Mädchen oder ein Junge zu sein, wird von der Kindheit in die Erwachsenenwelt übertragen. Die erlernten Muster überlagern sich mit den etablierten Führungsstrukturen. Ein weiteres Thema in den Workshops ist die Allgegenwärtigkeit weißer, männlicher Privilegien. Oft betrachten Männer, die hart dafür gearbeitet haben, dass sie dort stehen, wo sie stehen, ihren Erfolg nicht als ein Privileg, sondern als Verdienst.
Die MARC-Workshops helfen ihnen zu verstehen, dass Privilegien vor allem mit dem zu tun haben, womit sie sich während ihres Arbeitslebens nicht auseinandersetzen mussten. Wer sich keine Sorgen wegen finanzieller Probleme, einer Behinderung, Vorurteilen, der Verantwortung für Kinder oder Aufgaben im Haushalt machen muss, hat einen entscheidenden Vorteil. Die eigene Situation begreifen ist Voraussetzung, um die Empathie aufzubringen, die für das Anschieben von Veränderungen notwendig ist. "Widerspruch ist ein elementarer Bestandteil dieses Lernprozesses", sagt Pollack. "Wir müssen solche Gedanken an die Oberfläche bringen. Denn wir können davon ausgehen, dass sie von vielen geteilt werden."
Ein Punkt wird selten offen angesprochen. Die Angst, dass ein Gewinn für die Frauen einen Verlust für die Männer bedeutet. Untersuchungen von Catalyst belegen: Solches Nullsummendenken ist eine große Hürde. Viele Männer befürchten zudem, bei ihresgleichen oder bei Chefs an Ansehen zu verlieren, wenn sie Sexismus oder andere Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz ansprechen oder von etablierten männlichen Verhaltensweisen abweichen. "Wir statten Menschen mit Werkzeugen aus, um selbstbewusst aufzutreten", sagt Pollack. "Das ist sehr wichtig, denn 80% aller Männer sagen, sie wollen Sexismus verhindern, aber nur 31% sind selbstbewusst genug, um dies auch umzusetzen.
Elena Essig glaubt: Die Voraussetzung für eine Lösung ist es, die männliche Perspektive zu verstehen. Weil diese Seite bislang nur selten untersucht worden war, veröffentlichte Essig 2019 zusammen mit Richard Soparnot die Studie Re-thinking gender inequality in the workplace – a framework from the male perspective. Darin stellen sie heraus, dass das derzeitige System auch Männern schadet.
In männerdominierten Branchen leiden Männer unter hartem Wettbewerb, langen Arbeitszeiten und Burnout. Oft erfahren sie keine Unterstützung, wenn sie Elternzeit beantragen. Hausmänner werden oft sogar innerhalb der eigenen Familie diskriminiert. Das hat auch für die Frauen Konsequenzen. Je weniger Männer ermutigt werden, sich im Haushalt zu engagieren, desto mehr fällt auf sie zurück. So entsteht eine doppelte Belastung für Frauen, die gleichzeitig einen Beruf ausüben. Der Status quo wird zementiert. In weiblich dominierten Arbeitsbereichen verstärkt sich das Problem. Männer, die in der Krankenpflege arbeiten würden, ergreifen oft andere Berufe, weil sie fürchten, von Freunden, Eltern oder der Gesellschaft abgelehnt zu werden. All das verfestigt die Trennung der Geschlechter in der Arbeitswelt.
"Wenn wir über Geschlechtergerechtigkeit reden, denken wir fast immer an Frauen, weil diese seit Jahrhunderten für ihre Rechte kämpften. Aber das Thema schließt Männer mit ein. Wir sollten es ganzheitlich betrachten, nicht als zwei Seiten, die einander gegenüberstehen", sagt Essig. "Unsere Studie zeigt, dass das auch Frauen hilft. Wenn ein Vater in Teilzeit arbeiten kann, profitiert davon auch seine Partnerin."
Am Ende kommt es darauf an, dass Verantwortung und Chancen innerhalb von Familien aufgeteilt werden und Firmen ihre Unternehmenskultur so ausrichten, dass sich Männer und Frauen gleichermaßen davon angesprochen fühlen, egal, ob es um Beförderungen oder Elternzeit geht. "So wie Frauen an ihrem Selbstvertrauen arbeiten müssen, um nach einer Beförderung zu fragen, müssen Männer an ihrem Selbstvertrauen arbeiten, um nach freier Zeit für die Kinderbetreuung zu fragen", sagt Essig.
Aber auch wenn wir uns all dieser Probleme bewusst sind – wie können wir sicher sein, dass Jahrzehnte männlicher Dominanz nicht unsere Urteile, Vorlieben und Ängste geprägt haben? "Keiner von uns denkt, dass er rassistisch, sexistisch oder homophob ist, aber dennoch fühlen sich Frauen, Schwarze, Persons of Color und Angehörige indigener Völker oder der LGBT-Community oft ausgeschlossen. Irgendetwas steckt also in unserem Unterbewussten", sagt Annabel Coxon, die für das Diversitäts- und Inklusionsprogramm der neuseeländischen Handelsbehörde arbeitet.
Selbst Männer, die glauben, dass sie vorurteilsfreie Entscheidungen treffen, stellen eher andere Männer ein als Frauen, die die gleiche Qualifikation mitbringen. "Ein männlicher Kollege erzählte mir, dass er glaubte, nicht voreingenommen zu sein. Bis ihm klar wurde, dass er einmal fast einen Mann für einen Job ausgewählt hätte, weil es sich so anfühlte, als ob dieser besser geeignet sei", sagt Coxon. Dabei war der Grund dafür lediglich, dass die beiden sich während des Bewerbungsgesprächs angeregt über Rugby unterhalten hatten.
Voreingenommenheit ist Realität. Und diejenigen, die glauben, dagegen immun zu sein, sind oft die Ersten, die ihr anheimfallen. In ihrem Artikel The Paradox of Meritocracy in Organizations schreiben Emilio J. Castilla und Stephen Bernard, dass sich stark leistungsorientierte Manager selbst für unparteiisch halten und sich darum selten selbst hinterfragen. Coxon ist wichtig anzuerkennen, dass wir alle für Voreingenommenheit empfänglich sind. Wenn wir Schuldzuweisungen vermeiden, können wir der Diskussion ihre Schärfe nehmen.
"Wir alle haben schon erlebt, dass auf etwas, das wir getan oder gesagt haben, eine Reaktion folgte, die darauf beruhte, wer wir sind", sagt Thomas: "Geschlechtergerechtigkeit ist kein Kampf zwischen Männern und Frauen. Alle Geschlechter tappen der Voreingenommenheit in die Falle."
Miteinander reden – das ist die Basis für Wandel. Aber genau das läuft typisch männlichem Verhalten zuwider. Von früher Kindheit an lernen Männer, hart zu sein. Darum seien sie in einer "man box" gefangen, sagt Gary Barker, Gründer der Initiative Promundo, die weltweit mit Jungen und Männern am Thema Geschlechtergerechtigkeit arbeitet. In einer gemeinsamen Studie von Promundo und Unilever erklärten 47% der Umfrageteilnehmer, dass die Floskel "Sei hart" in ihrem Leben eine Rolle spielte. Viele übernahmen sie in ihr Erwachsenenleben, um ins System zu passen.
Wir müssen reden. Da Männer deutlich stärker in Führungspositionen vertreten sind und deutlich mehr verdienen als Frauen, gibt es für sie keinen wirklichen Anreiz, Dinge zu verändern. Aber sind Männer wirklich glücklich mit der Rolle, die man ihnen in der Arbeitswelt, der Familie und der Gesellschaft zugeschrieben hat? Oder stecken auch sie in einer Falle? Obwohl sie unbestreitbar Privilegien genießen und es sich in einer Position als weißer mittelalter Angehöriger der Mittelklasse gemütlich machen könnten, scheinen sie noch unzufriedener zu sein als die Frauen. Laut Weltgesundheitsorganisation ist die Selbstmordrate von Männern in den Industriestaaten dreimal so hoch wie die von Frauen. Allein in den USA werden 70% aller Suizide von weißen Männern begangen.
Die meisten Männer betrachten Frauen als gleichwertig. Und eine neue Generation, die ihren Platz in der Arbeitswelt einnimmt und zunehmend auch Management-Positionen besetzt, wird diese Entwicklung weiter verbessern. Aber Männer müssen aus ganz eigenem Interesse ihr Verhalten gegen sich selbst verändern.
Wenn Frauen wirkliche Gleichberechtigung erfahren wollen, müssen auch die Männer befreit werden und aus ihrer "man box" ausbrechen. Wollen wir uns von einer Arbeitswelt lösen, die auf maskulinen Eigenschaften aufgebaut ist, müssen wir eine neue erschaffen, die die Bedürfnisse aller abdeckt. "Voreingenommenheit behindert Frauen, aber auch Männer", sagt Thomas. "Darum müssen wir beginnen, anders über dieses Thema zu reden. Wir müssen uns klarmachen, dass wir alle davon betroffen sind. Wenn wir Teil der Lösung sein wollen, müssen wir zusammenarbeiten.
Aufbruch ins Unbekannte
Diese Ausgabe von Think:Act beschäftigt sich damit, wie Sie Ihr Unternehmen für die Unwägbarkeiten wappnen können, die vor uns liegen.