In Dekaden denken
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Die aktuelle Think:Act-Ausgabe wirft einen frischen Blick auf die Business-Konzepte der letzten Jahrzehnte – und ihre Bedeutung für die kommenden 20 Jahre.
von Fred Schulenberg
Unternehmen müssen heute mehr Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft übernehmen. Konsumenten fragen sich jedoch: Wer meint es ernst? Und wer nutzt Siegel nur fürs Marketing?
Schmuck brachte eines der ältesten Gewerbe der Menschheitsgeschichte hervor. Doch die Schmuckproduktion hat ihre Schattenseiten: Von der Förderung der Rohstoffe bis zur chemischen Veredelung zählt die Schmuckindustrie zu den umweltschädlichen Wirtschaftszweigen und ist besonders anfällig für ethisch fragwürdige Praktiken. Danielle und Wade Papin wussten, worauf sie sich einließen, als sie vor 30 Jahren ihre Schmuckmanufaktur Pyrrha im kanadischen Vancouver gründeten. Von Beginn an war das Paar entschlossen, Schmuck auf eine nachhaltigere Weise zu produzieren. Ihr Sortiment reicht heute von einer Choker-Kette aus grünem Onyx für einige Hundert US-Dollar bis zu einem breiten "Multi-Talisman-Armreif" für mehr als 5.000 US-Dollar. In einem ersten Schritt nutzten sie recycelte Materialien. "Als wir anfingen, war Nachhaltigkeit noch kein großes Thema", erinnert sich Wade. "Aber wir wollten einen anderen Weg einschlagen."
Pyrrha steht beispielhaft für eine internationale, branchenübergreifende Bewegung von Unternehmen, die sich einer grundlegenden Neuausrichtung ihrer Geschäftspraktiken verschrieben haben. Sie wollen sich als Kraft des positiven Wandels etablieren. Die Firmen müssen strenge Umwelt- und Sozialstandards einhalten und strikt auf Transparenz in der gesamten Lieferkette achten: Willkommen in der Welt der sogenannten B Corps, der "Benefit Corporations".
Die Idee entwickelten 2006 drei amerikanische Studienfreunde. Bis heute ist die Bewegung zu einer Gemeinschaft von rund 9.000 Unternehmen in mehr als 100 Ländern angewachsen. Sie durchlaufen einen aufwendigen Bewerbungsprozess für die B-Corp-Zertifizierung, die alle drei Jahre erneuert werden muss. Pyrrha, seit 2014 zertifiziert, zählt zu einem exklusiven Kreis: Bis heute tragen nur 45 Unternehmen der Schmuckindustrie das Siegel.
Die Bewegung umfasst mittlerweile ein breiteres Spektrum an Unternehmen, von Coffee Shops und Tech-Start-ups bis zu Kosmetikfirmen und Finanzdienstleistern. Mit dabei sind Firmen wie der Buchverlag Canongate aus Edinburgh. In einer Branche, die von Großkonzernen dominiert wird, scheint der kleine unabhängige Verlag wie geschaffen für die B-Corp-Idee. Aber auch Traditionsfirmen wie die Rothschild-Weingüter und multinationale Konzerne gehören dazu.
Manche Beobachter sehen in der Entwicklung einen Beleg für den Erfolg einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise. Andere fragen sich, ob das Ziel echter Veränderung verwässert oder sogar untergraben wird. Besonders die Zertifizierung von Unternehmen wie der Nestlé-Tochter Nespresso und Ben & Jerry's schürt Bedenken. Der Eiscreme-Hersteller entstammt dem Hippie-Milieu und gehört heute zum Unilever-Konzern. Kritiker fürchten, dass Großkonzerne die Bewegung vereinnahmen und eine Zertifizierung womöglich eher der Imagepfleg dient.
"Wir brauchen Firmen, die sich grundlegend wandeln und erneuern, um mehr zu bewegen als heute."
So stieß die Zertifizierung von Nespresso in der B-Corp-Gemeinschaft auf scharfe Kritik. Die kleine schottische Kaffeerösterei Glen Lyon Coffee wurde sehr deutlich: "Als wir hörten, dass Nespresso ein B Corp werden sollte, waren wir entsetzt", schrieb die Rösterei. "Es lässt sich nicht leugnen, dass die riesigen Abfallmengen dieser Firma unseren Planeten schädigen." Im Zentrum der Kritik: Nespressos Kaffeekapseln, die Jahr für Jahr mehr als 12.000 Tonnen Aluminiumabfall hinterlassen. "Eine Menge, die dem Gewicht von 60 Freiheitsstatuen entspricht", wie Glen Lyon Coffee vorrechnet.
Rund 30 B Corps aus den USA haben in einem offenen Brief gegen die Zertifizierung von Nespresso protestiert. Sie sehen die Glaubwürdigkeit der B-Corp-Bewegung in Gefahr. Mary Child, Nachhaltigkeitsmanagerin von Nespresso für Großbritannien und Irland, verteidigte das Unternehmen im Branchenblatt The Grocer: "Unser präzises Dosiersystem nutzt exakt die richtige Menge an Energie, Wasser und Kaffee für jede Tasse. Da der größte Teil unseres CO₂-Fußabdrucks aus der Beschaffung von Rohkaffee stammt, reduziert dieser Ansatz nicht nur Ressourcenverbrauch und Abfall, sondern minimiert auch unseren gesamten CO₂-Ausstoß."
In Vancouver beobachten die Papins solche Entwicklungen mit gemischten Gefühlen. Sie befürchten, dass kleine Firmen wie ihre – Pyrrha beschäftigt 30 Mitarbeiter – gegenüber Großunternehmen benachteiligt werden. Konzerne verfügten über mehr Ressourcen und hätten womöglich andere Motive für eine B-Corp-Zertifizierung. Das Paar sieht die Herausforderung darin, Wachstum und die Einhaltung strikter Standards in Einklang zu bringen. Ihre Bemühungen um einen Dialog mit B Lab, der für die Zertifizierung zuständigen gemeinnützigen Organisation, seien bislang ohne greifbare Ergebnisse geblieben, berichtet Wade.
Andere teilen die Bedenken der Kanadier. "Es besteht die Gefahr, dass Firmen die Zertifizierung ähnlich wie eine ISO-Norm behandeln. Sie nehmen ein paar Anpassungen vor, aber machen im Wesentlichen weiter wie bisher", schreibt Paul Hargreaves, CEO des Lebensmittelunternehmens Cotswold Fayre und B-Corp-Botschafter. "Die B-Corp-Bewegung muss mehr sein als Oberflächenkosmetik. Wir brauchen Firmen, die sich grundlegend wandeln und erneuern, um mehr zu bewegen als heute."
Andere Marktbeobachter weisen darauf hin, dass 95 % der B Corps kleine und mittlere Unternehmen seien, aber gerade die Größe der neuen Mitstreiter den nötigen Wandel bringen könnte. "Wir brauchen auch die Großen", schrieb Jonathan Petrides, Gründer der Londoner B-Corp-Firma Allplants, in einem Leserbrief an die Financial Times. "Wenn Konzerne die Vorteile des B-Corp-Modells erkennen, wären die positiven Auswirkungen auf der ganzen Welt enorm." Auch die Papins betonen, dass sie die Initiative weiterhin für sinnvoll halten. "Das Positive überwiegt", sagt Danielle. "B-Corp-Unternehmen sind besser für den Planeten und die Umwelt", ist Wade überzeugt.
Die kontroversen Debatten finden in einer Zeit statt, in der die Bereiche Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung (ESG) zunehmend skeptisch betrachtet werden: Aktionäre und Investoren stellen die potenziellen wirtschaftlichen Vorteile von ESG-Praktiken infrage und fordern von Vorständen und Boards, den Fokus wieder verstärkt von Purpose auf Profit zu lenken. In Zeiten wachsender geopolitischer und ökonomischer Spannungen finden diese Stimmen mehr Gehör. Verfechter des ESG-Ansatzes halten dem allerdings entgegen, dass es genau diese Ignoranz gegenüber den von ihnen thematisierten Problemen ist, die zu den globalen Verwerfungen beiträgt.
0,8%: Anteil der börsennotierten B-Corp-Unternehmen nach den neuesten verfügbaren Daten.
Quelle: B Lab Global 2023 Annual Report
Die Debatte um Kosten und Nutzen ethischer Geschäftspraktiken war schon immer heikel. Für B Corps kann sich bereits der Bewerbungsprozess als sehr aufwendig erweisen. Viele Unternehmen holen sich Berater zu Hilfe, um die Fragebögen bewältigen zu können und nötigenfalls ihr Geschäft von der Führungsebene bis zu den Betriebsabläufen neu auszurichten. Doch selbst eine erfolgreiche Zertifizierung bietet keine Garantie auf Dauer, wie der Fall der Brauerei Brewdog zeigt. Nach Mobbing-Vorwürfen und Kritik an der Unternehmenskultur verlor sie ihre Zertifizierung.
Doch es geht nicht nur um interne Abläufe: Manches liegt außerhalb der unmittelbaren Kontrolle einzelner Firmen. "Das Verlagswesen hat eine komplexe Lieferkette. Die Branche arbeitet zwar intensiv an Verbesserungen, aber allein die Messungen zu unseren Umweltauswirkungen waren eine echte Herausforderung", berichtet Caroline Gorham, Produktions- und Systemdirektorin bei Canongate, die den drei Jahre andauernden Bewerbungsprozess leitete. Der vor einem halben Jahrhundert in Edinburgh gegründete Verlag zählt heute zu den renommiertesten unabhängigen Verlagshäusern Großbritanniens – mit einem stetig wachsenden Autorenstamm, der von Booker-Preisträgern bis zu ehemaligen US-Präsidenten reicht.
Die Verlagsbranche genießt einen verhältnismäßig guten Ruf im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit. Doch das Gesamtbild ist komplexer. Zwar werden heute viele Bücher auf Recyclingpapier gedruckt, doch die Buchproduktion – von Papiermühlen über Druckfarben bis hin zu Klebstoffen und Laminierungen – belastet nach wie vor die Umwelt. Hinzu kommt der Transport der Bücher samt Verpackung zu Händlern und Endkunden. Für Canongate bestand die B-Corp-Zertifizierung vor allem aus einer grundlegenden Überarbeitung der Unternehmenssatzung. Diese definiert nun explizit, dass der Verlag seinen Erfolg nicht nur an den Vorteilen für Mitglieder, Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten ausrichtet, sondern auch an einem positiven Beitrag für die Gesellschaft und die Umwelt.
Viele der Zertifizierungskriterien erfüllte Pyrrha laut Danielle Papin schon vor der Bewerbung für das Siegel: Faire Löhne, der Einsatz recycelter Metalle und ein klimaneutrales Atelier waren bereits gelebte Praxis. Der Zertifizierungsprozess half ihnen, diese Dinge "richtig zu formalisieren, umzusetzen und sie auch weiterhin beizubehalten, da man dafür rechenschaftspflichtig ist", erinnert sie sich. Pyrrha verlagerte Produktion ins eigene Unternehmen und suchte nach kreativen Lösungen. Mit teils erstaunlichen Ergebnissen: Gegen Ende des Fertigungsprozesses benötigt man eine Trommelmaschine: einen rotierenden Behälter, gefüllt mit winzigen Stahlteilchen, die den Schmuck polieren. Die übliche Reinigung des verschmutzten Stahls mit hochgiftigen Chemikalien kam für die Papins nicht infrage. Die überraschende Lösung brachte ein Hinweis: Coca-Cola statt Chemie. "Das funktioniert traumhaft gut", erzählt Danielle.
"Unabhängige Zertifizierung wird nötig sein, da die Kunden mehr Fragen stellen."
Den Weg zur B-Corp-Zertifizierung meistern Unternehmen deutlich leichter, wenn sie bereits die Werte leben, die für eine Zertifizierung erforderlich sind, sagt die Goldschmiedin. Eine komplette Neuausrichtung eines Unternehmens – von der Kultur bis zu den Prozessen – sei dagegen ein enormer Kraftakt.
Ist es das Wert? Zertifizierte Unternehmen sprechen gerne über die Vorteile, die der B-Corp-Status für die Firmenkultur und die Kundenbeziehungen mit sich bringt: "Die Resonanz von Autoren, Agenten und anderen Verlagshäusern war sehr positiv", berichtet Caroline Gorham vom Verlag Canongate. Die Quantifizierung eines ökonomischen Nutzens gestaltet sich jedoch schwieriger. Innerhalb der B-Corp-Gemeinschaft habe sich ein dynamisches Handelsnetzwerk entwickelt, berichtet Danielle Papin. Zertifizierte Firmen verschiedener Branchen suchten gezielt die Zusammenarbeit. "Der B-Corp-Status hilft uns außerdem zu erklären, warum wir als Premium-Marke entsprechende Preise verlangen müssen", sagt sie.
Mit Blick in die Zukunft zeigen sich die Papins überzeugt, dass trotz der Debatten um die B Corps kein Weg mehr an unabhängigen Zertifizierungen vorbeiführe: "Ohne Zertifizierung durch unabhängige Dritte wird künftig kein Unternehmen mehr auskommen. Denn Verbraucher wollen genau wissen, wie und wo Produkte entstehen." Anders ausgedrückt: Etikettenschwindel hat in Zeiten kritischer Konsumenten keine Zukunft mehr.
Die aktuelle Think:Act-Ausgabe wirft einen frischen Blick auf die Business-Konzepte der letzten Jahrzehnte – und ihre Bedeutung für die kommenden 20 Jahre.