Wie Krisen die Transformation von Firmen beschleunigen
Diese Ausgabe geht der Frage nach, wie Gesellschaft und Wirtschaft nach der Coronakrise aussehen werden.
Artikel von Steffan Heuer
Illustrationen von Joe Waldron
Nearshoring statt Offshoring. Daten transportieren statt Container. Ist die Globalisierung am Ende? Kann sein. Vielleicht ändert sich aber auch nur ihre Gestalt.
Das Wahrzeichen der Globalisierung hat sogar eine Monografie. The Box lautet der schlichte Titel des Buchs über die schlichte Kiste. Mehr als 32 Millionen Schiffscontainer sind weltweit im Umlauf. Wenn Sie ein neues iPhone bestellen, ist es sehr wahrscheinlich, dass es von China aus in einem dieser Container den Weg zu Ihnen nach Europa findet, im besten Fall innerhalb weniger Tage.
So war es zumindest vor Corona. Spätestens seit den 1980er Jahren galt Globalisierung Ökonomen als das Nonplusultra: ein Trend, der nicht aufzuhalten war und von dem fast alle profitierten. Südostasien wurde zur Werkbank der Welt. Allein China trug 2018 mehr als 28 % zur globalen Produktion bei – fast doppelt so viel wie die USA und mehr als viermal so viel wie die Exportnation Deutschland. Nun aber wird die Globalisierung grundlegend infrage gestellt. Nicht nur wegen der Pandemie, die das komplexe Netz globaler Warenströme durcheinanderbrachte und oft sogar durchtrennte. Aber Corona half dabei, die lange schwelende Debatte über eine "Deglobalisierung" neu zu entfachen. Weltweit denken nun Firmen darüber nach, wie und wo ihre Waren hergestellt werden, von Bekleidungsherstellern bis hin zu Autobauern.
Die Pandemie könnte den Trend zum "Nearshoring" beschleunigen, mit dem Unternehmen versuchen, ihre Abhängigkeit von einer Handvoll Zulieferern in weit entfernten Ländern zu verringern – angetrieben nicht nur von wirtschaftlichen Erwägungen, sondern auch durch technologische Veränderungen und die Zunahme von Populismus und Protektionismus. Der chinesische Zoll registrierte im Januar und Februar 2020 einen Exportrückgang von 17 % und einen Importrückgang um 4 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die Ausfuhren in die EU sanken um 30 %, die in die USA um 27 %, die Einfuhren von dort um 19 % beziehungsweise um 8 %.
Nicht nur Containerschiffe blieben leer in den Häfen liegen. Auch die Zahl der abgefertigten Fluggäste an großen Luftfahrtdrehkreuzen implodierte regelrecht, am Changi Airport in Singapur beispielsweise von 5,9 Millionen im Januar 2020 auf 25.200 im April. Die Zahl der Airlines, die den Flughafen noch anflogen, sank von 91 auf 35.
Der dramatische Einbruch könnte mehr als eine Momentaufnahme sein. Ende Juni 2020 schätzte die Welthandelsorganisation WTO, dass das globale Handelsvolumen im ersten Quartal um 3 % geschrumpft ist und im zweiten Quartal um weitere 18,5 % zurückgehen wird. Die WTO glaubt, dass sich die Weltwirtschaft danach wieder erholen wird. Doch einige Experten halten das für eine grobe Fehleinschätzung.
"Die Globalisierung, wie wir sie kennen, ist längst überholt, aber die Experten haben es nicht bemerkt", schrieb der inzwischen verstorbene Cambridge-Ökonom Finbarr Livesey 2017 in seinem Buch From Global to Local. Während viele Ökonomen die Globalisierung noch immer für das Ende der Wirtschaftsgeschichte hielten, sei die Weltwirtschaft längst dabei, ihre Regeln zu ändern, so Livesey. Seit Ausbruch der Krise erhalten die Argumente des Ökonomen mehr Beachtung. Danach könnte der 1956 eingeführte Schiffscontainer seine besten Jahre hinter sich haben. Die weltweiten Transportkosten seien jedenfalls nicht mehr gesunken, seit sie Mitte der 1990er-Jahre mit 6 % der Gesamtkosten den Tiefpunkt erreicht hatten, betonte Livesey.
Zu Unrecht habe eine ganze Reihe wirtschaftlicher Phänomene das Label "Globalisierung" erhalten, meinte der Ökonom. Dazu gehörten für ihn unter anderem dichter verwobene Kommunikationsnetze und neuartige Produktionstechnologien. Als Faktoren, die tatsächlich Globalisierung ausmachen, betrachtete Livesey hingegen ausländische Direktinvestitionen und die stetig wachsende Datenmenge. Unternehmen, die seit 2008 den Wandel vorantrieben, waren für Livesey solche, die wieder Produktionsstätten in der Nähe zu ihren Kunden errichteten und auf Automatisierung setzten statt darauf, Unterschiede in globalen Lohnsystemen gegeneinander auszuspielen. Ein Roboter koste schließlich in Europa oder Asien fast das Gleiche. Er prognostizierte: "Unternehmen werden dort produzieren, wo sie verkaufen."
Aber es gibt kein reines Entweder-oder. Es geht nicht darum, Nearshoring gegen das Verlagern von Produktionsstätten auszuspielen. Livesey hält hybride Modelle für ideal, die individuelle Faktoren berücksichtigen. Etwa wie stabil eine Lieferkette ist und welche Spezifika der Markt aufweist, in dem ein Unternehmen aktiv ist. An dieser Stelle kommt die Technologie ins Spiel. Wer physische und digitale Prozesse vereint, kann schneller produzieren und sich schneller neuen Entwicklungen anpassen.
Die spanische Modemarke Zara lässt beispielsweise bereits seit einiger Zeit ihre Kleidung nicht mehr in Asien produzieren, sondern in Ländern wie Portugal, Marokko oder der Türkei. Das verkürzt den Zeitraum zwischen dem ersten Designentwurf und dem Moment, in dem die Ware in den Geschäften liegt – ein entscheidender Vorteil in der schnelllebigen Modebranche. Zu dem Vorteil, dass weniger Zeit bis zur Markteinführung vergeht, kommt der Umstand, dass es nicht sehr nachhaltig ist, Komponenten und fertige Produkte kreuz und quer über den Globus zu schippern.
Dieser Aspekt aber spielt heute eine zunehmend bedeutsamere Rolle. "Wirtschaftliche Zusammenhänge zwingen Unternehmen zu Lösungen, die eher lokal als global sind", schrieb Livesey. Nach seiner Ansicht sind es nicht protektionistische und populistische Politiker, wie in Großbritannien oder den USA, sondern Unternehmen wie Zara, die diese neue Welt der Produktion und des wachsenden Handels gestalten.
Auch neue Technologien wie der 3D-Druck verändern den Blick auf Globalisierung. Das amerikanische Start-up "Desktop Metal" etwa will Unternehmen ermöglichen, selbstständig Metallteile anzufertigen. Sollte sich die Technologie durchsetzen, ließen sich an jedem Ort der Welt Autoteile oder elektronische Komponenten herstellen und etablierte Fertigungsverfahren wie Spritzguss würden nahezu überflüssig. In Kombination mit intelligenten Fabriken, die über Sensoren mit dem industriellen Internet der Dinge verbunden sind, könnten Unternehmen so jede Produktionslinie in ein Ökosystem voller Daten verwandeln, aus dem sie fast in Echtzeit ständig neue Erkenntnisse gewinnen können.
Auch Anil Gupta, Wirtschaftsprofessor an der University of Maryland und Experte für Strategie, Globalisierung und Unternehmertum, meint, dass es an der Zeit ist, sich von der Globalisierung in der uns bekannten Gestalt zu verabschieden. Anders als Livesey glaubt er jedoch, dass sie bereits durch eine neue Form der Globalisierung ersetzt worden ist. Diese werde durch neue Technologien und Digitalisierung definiert. Den Begriff "Deglobalisierung" hält er darum für eine Fehlinterpretation: "Zu behaupten, die Welt befinde sich in einer Deglobalisierung, ist so, als würde man im Jahr 2000 die Umsatzeinbrüche bei analogen Kameras und Filmen als Ende der Fotografie beklagen."
Die Nachfrage nach Containern mag zurückgehen, aber der Handel mit Dienstleistungen, Kapital-und Datenstromen nimmt weiter zu. In Guptas "digitaler Globalisierung" sind Volkswirtschaften und Unternehmen durch Bits und Bytes miteinander verbunden. Und digitale Innovationen, die Produkte vom Auto bis hin zu intelligenten Sneakern aufwerten, leisten den größten Beitrag zum Wirtschaftswachstum .
Ausländische Direktinvestitionen liegen derzeit ebenfalls auf Eis, und damit ein weiterer Motor der Globalisierung. Die UN-Konferenz fur Handel und Entwicklung (UNCTAD) geht davon aus, dass Unternehmen ihre Direktinvestitionen ins Ausland in diesem Jahr um 40 % reduzieren werden, im Jahr 2021 um 10 % und in geringerem Maße voraussichtlich während des gesamten Jahrzehnts. Als Gründe dafür nennt die UNCTAD exakt dieselben Faktoren wie Livesey: wachsende Automatisierung, Protektionismus und neue Vorgaben zur Reduzierung von CO₂-Emissionen. Dies alles veranlasst Unternehmen nun dazu, einen Moment innezuhalten und noch einmal nachzudenken, bevor sie Geld in irgendeine Fabrik am anderen Ende der Welt pumpen.
Ökonomen beschäftigen sich bereits seit geraumer Zeit mit den nachteiligen Auswirkungen des Welthandels: Nobelpreisträger Paul Krugman etwa kritisiert den Konsens, der seit den 1990er-Jahren unter Wirtschaftswissenschaftlern herrschte. Wer einen Blick auf die Verteilung von Arbeit und Einkommen in den USA werfe, sähe ein deutlich differenziertes Bild, sagt er: "Das rasante Wachstum und das zunehmende Handelsungleichgewicht hatte für viele Arbeiter Umwalzungen und Einbußen mit sich gebracht, die dieser Konsens nicht im Blick hatte." Bereits 2018 traf Krugman eine bemerkenswerte Aussage: "Versuche, die Globalisierung zuruckzufahren, werden künftig größere Disruptionen hervorbringen als Versuche, die derzeitigen Strukturen beizubehalten." Das wirft die Frage auf: Wie werden sich Länder wie China oder Indien in einer Welt entwickeln, in der nicht mehr der freie Fluss von Waren das entscheidende Kriterium ist, sondern der freie Fluss von Daten und Ideen? Ganz zu schweigen von kleineren, armen Schwellenländern?
China war der grösste Nutzniesser des wachsenden Warenhandels und hat darum am meisten zu verlieren, wenn der Abwärtstrend bei der Offshoring-Produktion an Dynamik gewinnt. Die anhaltenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA und China über den Zugang zu Schlüsseltechnologien und den Umgang mit potenziell sensiblen Daten werden China den Zugang zu einer digital globalisierten Welt erschweren.
Indien hat bereits im Juni 2020 eine Selbstversorgungsstrategie verkündet, um sich in dieser neuen Welt zu positionieren. Zu den geplanten Maßnahmen gehören Steueranreize für die heimische Wirtschaft und eine Bevorzugung lokaler Produkte sowie gesetzliche Regeln, die Importe erschweren sollen – wenn auch nicht in Form von Zöllen. "Wir haben es geschafft, während der Krise all unsere Bedürfnisse mit lokalen Produkten zu stillen", sagte Premierminister Narendra Modi bei der Vorstellung des Plans: "Es ist an der Zeit, dass wir diesen lokalen Produkten dabei helfen, global zu werden."
Der Ökonom Kenneth Rogoff sieht darum schwere Zeiten heraufziehen: "Es gibt zahlreiche Zwänge und politischen Druck, der dafür sorgen wird, dass die Globalisierung auf absehbare Zeit nicht mehr das Niveau vor der Pandemie erreichen wird. Die Coronakrise befeuert einwanderungs- und handelsfeindliche Strömungen, die schon zuvor im Aufwind waren", sagt Rogoff. Er bezweifelt, dass lokale Produktionsstätten und digitale Globalisierung die Verluste ausgleichen können, die durch das Zurückfahren der Globalisierung entstehen. "Einige Branchen könnten davon profitieren, aber nicht die überwiegende Mehrheit."
Für China würde ein Herunterschrauben des Welthandels einen enormen Produktionseinbruch bedeuten. Am härtesten aber würde es arme Schwellenländer treffen, wenn Unternehmen neue, kürzere Lieferketten aufbauen und neue Technologien für smartere Produktionslinien einsetzen, sagt Rogoff: "Das würde dort Hunderte von Millionen Menschen zurück in die Armut werfen." Auch sehr kleine Länder würden unter einem Rückgang der klassischen Globalisierung leiden, selbst solche, die derzeit relativ wohlhabend seien, befürchtet er. "Für solche Länder ist es viel schwerer, ihre Produktion zu diversifizieren; sie sind darauf angewiesen, Teil der globalen Lieferketten zu sein."
Nicht nur Firmen müssen neu denken. Auch Regierungen haben eine Menge Arbeit vor sich. Sie müssen die Folgen abfangen, die der soziale und technische Wandel mit sich bringt. Livesey hat dafür zumindest eine positive Formulierung gefunden: "Wir haben die Chance, die Nachteile der Hyperglobalisierung auszugleichen."
Diese Ausgabe geht der Frage nach, wie Gesellschaft und Wirtschaft nach der Coronakrise aussehen werden.