Der Kapitalismus geht auf Sinnsuche

Think:Act Magazin "In Dekaden denken"
Der Kapitalismus geht auf Sinnsuche

16. Februar 2025

Jedes Unternehmen braucht eine Daseinsberechtigung

Artikel

von Will Hutton
Illustrationen von Jan Robert Dünnweller

Die klare Definition eines Unternehmenszwecks motiviert Mitarbeiter, gibt strategische Orientierung und sorgt für treue Kunden und Aktionäre.

Man sollte es nicht eigens betonen müssen, aber Unternehmen sind soziale Organismen, in deren Mittelpunkt Menschen stehen. Natürlich werden Unternehmen durch vertragliche Beziehungen gestützt und müssen langfristig Gewinne erzielen. Aber man kann sie nicht nur als Netzwerke von Verträgen begreifen, die fast ausschließlich dazu dienen, möglichst schnell hohe Profite zu erzielen. Genau das aber macht die klassische Wirtschaftstheorie. Viele Management-Lehrbücher unterstellen es, und so wird es häufig auch an Wirtschaftsfakultäten gelehrt. Dahinter steckt aber ein grundsätzlicher Denkfehler: Denn diese Sichtweise erfasst nicht die Essenz dessen, was ein erfolgreiches Unternehmen ausmacht, was es voranbringt, was es innovativ hält und ihm zufriedene Kunden, engagierte Mitarbeiter und treue Aktionäre sichert.

"Wir brauchen also einen Lebenssinn, der unserem Dasein Bedeutung verleiht."

Will Hutton

Journalist und Co-Chef
The Purposeful Company

Um das besser zu verstehen, wenden wir uns Aristoteles zu. Der Philosoph erklärte sinngemäß, dass nicht materielle Güter oder Beziehungen den Menschen glücklich machen, sondern dass er diejenigen Fähigkeiten einsetzen möchte, die ihm die Götter verliehen haben, um die Welt ein bisschen besser zu machen. Wir brauchen also einen Lebenssinn, der unserem Dasein Bedeutung verleiht.

Das Gleiche gilt für Unternehmen. Sie müssen ihren Mitarbeitern Sinn bieten und zugleich eine weitere aristotelische Wahrheit berücksichtigen: Wer nicht am Gemeinschaftsleben teilhaben will, ist entweder ein Tier oder ein Gott. Große Unternehmen müssen für ihre Stakeholder ein gemeinsames Lebensumfeld und eine gemeinsame Sprache schaffen. Dafür müssen sich alle Beteiligten auf einen intrinsischen Zweck verständigen. So geben sie ihrem Arbeitsleben einen Sinn und zeigen vollen Einsatz für ihr Unternehmen. Tatsächlich wären Gesellschaft und Wirtschaft stärker, wenn sich Firmen, die am Markt agieren wollen, zu einem "Purpose" bekennen müssten. Darunter versteht man in der modernen Managementtheorie den tieferen Sinn und Zweck eines Unternehmens jenseits der Gewinnerzielung, der Begriff zielt indes auch auf den sozialen Beitrag von Unternehmen ab. Die Verpflichtung auf einen Unternehmenszweck ist kein Hexenwerk – und auch nicht so radikal, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Will Hutton

Will Hutton ist Präsident der Academy of Social Sciences, Co-Vorsitzender der Purposeful Company und regelmäßiger Kolumnist für The Observer, wo er früher Chefredakteur war. Das neueste Buch des Bestsellerautors, This Time No Mistakes: How to Remake Britain, erschien 2024.

In jüngerer Zeit ließen sich einige Irrwege beobachten. Man erinnere sich an Unilever: Der Konzern vertrat in der Vergangenheit entschieden den Purpose-Gedanken. Der neue CEO Hein Schumacher erklärte jedoch, ein Zweck könne die Mitarbeiter ablenken, und er beschloss, sich fortan auf die Unternehmensleistung zu konzentrieren. Ebenfalls 2023 sorgte die einem Unternehmenszweck verpflichtete National Westminster Bank (NatWest) für Schlagzeilen, als sie das Privatkonto des Brexit-Populisten Nigel Farage kündigte. Ein Eklat, der den CEO den Job kostete. Doch diese Vorfälle können die Bedeutung eines Unternehmenszwecks nicht schmälern. Zu stark, zu tief verwurzelt ist der Gedanke auch in der Unternehmensgeschichte. Geschickt in eine Strategie eingebunden, bleibt Purpose eine treibende Kraft für die Wirtschaft – heute wie ehedem.

Moderne Unternehmen entstanden in den Niederlanden und im England des späten 16. Jahrhunderts. Der Staat gewährte Gruppen von Aktionären das Recht, Handel zu treiben oder andere spezifische Aktivitäten zu unternehmen. Die Aktionäre legten einen Zweck und ihre Mission fest: eine Brauerei zu bauen, mit Indien zu handeln oder Schiffe zu produzieren. Stimmte der Staat zu, erhielten die Aktionäre, Kaufleute oder Investoren eine Lizenz, um gemeinsam die Risiken und Chancen eines Unternehmens zu teilen. Das englische Wort "Company" wurzelt im Lateinischen: "com" steht für zusammen und "panis" für Brot. Sich zum Backen, Essen oder Teilen von Brot zusammenzufinden war ein Akt der Gemeinschaft. In einer "Company" lebten Investoren oder Kaufleute diese Gemeinschaft: Sie teilten Risiko und Ertrag, um zweckgerichtete Aktivitäten zu entfalten.

"In einer 'Company' lebten Investoren oder Kaufleute diese Gemeinschaft: Sie teilten Risiko und Ertrag, um zweckgerichtete Aktivitäten zu entfalten."

Will Hutton

Journalist und Co-Chef
The Purposeful Company

Drei Jahrhunderte lang wurden in Großbritannien, den Niederlanden und im übrigen kapitalistischen Europa sowie in den USA Unternehmen auf der Grundlage einer Zweckerklärung gegründet.

Die Gründer konnten sich an den ersten Börsen Kapital beschaffen und ihre eigenen Anteile verkaufen, wenn sie Geld brauchten. Entscheidend war jedoch: Die Gründer – und mit dem Wachstum der Unternehmen auch ihre Kinder – behielten die Mehrheit der Stimmrechte und führten das Unternehmen im Sinne des vereinbarten Zwecks. Neue Aktionäre akzeptierten diese Regelung. Natürlich wünschten auch sie sich Dividenden und steigende Aktienkurse, aber das sollte durch das Verfolgen eines Unternehmenszwecks erreicht werden. Unternehmen funktionierten weitgehend als Gemeinschaften mit gewachsenen Beziehungen, wobei die Arbeitskräfte durch die Zünfte vermittelt wurden.

Mit dem Aufkommen von Fabriken und der Urbanisierung brach eine neue Ära an. In den USA begann eine Entwicklung, die bald darauf auch in Europa einsetzte: Unternehmen durften nun ohne Angabe eines spezifischen Unternehmenszwecks gegründet werden. So konnte man noch mehr Kapital von Investoren einwerben, um Fabriken zu bauen oder kapitalintensive Maschinen zu produzieren. Gründer waren nicht länger die Eigentümer, das Kapital verteilte sich auf viele Aktien im Streubesitz. Management und Kontrolle gingen auf eine neue Klasse professioneller Manager über, die den Unternehmenszweck als reine Gewinnmaximierung definierten oder ihren persönlichen Zielen unterordneten. Urbanisierung und Industrialisierung sorgten zugleich für unmenschliche Lebens- und Arbeitsbedingungen. Arbeiter gründeten Gewerkschaften, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die Vorstellung von Unternehmen als sozialen Organismen verblasste.

Was zum sinnstiftenden Handeln eines Unternehmens gehört:
Die Führungsebene steht hinter der Vision und dem Werteversprechen des Unternehmens

Klare Verknüpfung von Unternehmenssinn und strategischen Zielen

Regelmäßiger Dialog mit Stakeholdern für deren Einbindung

Kontinuierlicher Nachweis, wie sinnstiftendes Handeln Geschäftswert schafft

Quelle: Advancing Purpose, Report von The Purposeful Company, 2023

Kapital und Arbeit standen sich fortan diametral entgegen. Die Härte des Konflikts variierte allerdings von Land zu Land. Deutschland, die Niederlande und die nordischen Länder – später auch Japan – bewahrten alte Traditionen erfolgreicher als andere Länder: Hier galten Mitarbeiter weiterhin als wertvolle Träger von Fähigkeiten und handwerklichem Können. Diese Länder zeigten auch mehr Verständnis für Unternehmensmodelle, mit denen Gründer und Aktionäre durch Mehrheitsbeteiligungen ihren Unternehmenszweck schützen konnten. Ganz anders die Situation in Großbritannien und in den USA: Hier prägte ein weitverbreiteter Streubesitz der Anteilseigner das Bild, Kleinaktionäre wollten meist schnelle Profite sehen. Der Siegeszug der freien Marktwirtschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren befeuerte den Trend. Die Doktrin des Nobelpreisträgers Milton Friedman besagt, dass die wichtigste und vielleicht sogar einzige Aufgabe eines börsennotierten Unternehmens darin besteht, den Shareholder Value für die Aktionäre zu maximieren. Dennoch gab es auch im angelsächsisch geprägten Kapitalismus auch zahlreiche Ausnahmen: Unternehmen wie Unilever, Cadbury und John Lewis Partnership in Großbritannien trotzten dem neuen Zeitgeist und bewahrten sich ihre zweckorientierte Unternehmenskultur.

Blicken wir ins 21. Jahrhundert: Die wissensbasierte "immaterielle" Wirtschaft erbringt heute in Industrieländern einen größeren Teil der Wirtschaftsleistung als die Industrie. Wettbewerbsvorteile entstehen durch Geschäftsmodelle, die auf den immateriellen Werten von Daten, Intelligenz und Technologie basieren, die erfolgreich in einer Marke gebündelt werden. Doch das gelingt nur Organisationen mit engagierten und motivierten Mitarbeitern.

Die freie Marktwirtschaft hat durch eine Reihe von Misserfolgen Glaubwürdigkeit eingebüßt. Viele Menschen betrachten die Fokussierung auf die Gewinnmaximierung als einzigen Unternehmenszweck kritisch. Gleichzeitig suchen die Menschen in zunehmend säkularen Gesellschaften des Westens Antworten auf Sinnfragen.

"Ein klar definierter Unternehmenszweck ist der Schlüssel zum Erfolg."

Will Hutton

Journalist und Co-Chef
The Purposeful Company

Wenn weder der Glaube noch das Jenseits Antworten liefern, richten die Menschen ihren Blick verstärkt auf ihre Gegenwart im Diesseits. Sie suchen nach Sinn: bei der Arbeit, in ihrem Lebensstil, beim Essen, in ihrer Kleidung, bei ihren Kaufentscheidungen. Wer Mitarbeiter und Kunden gewinnen will, braucht deshalb einen überzeugenden Unternehmenszweck. Dieser muss sich sowohl in der Personalpolitik als auch in den angebotenen Produkten und Dienstleistungen widerspiegeln.

Es überrascht also nicht, dass sich große US-Tech-Konzerne wie Amazon, Apple oder Alphabet einem irgendwie gearteten Sinn verpflichten. Sie wollen die Welt verbessern. 2019 unterzeichneten 181 CEOs eine Erklärung des US-Wirtschaftsverbandes Business Roundtable zum Unternehmenszweck. Ihre Unternehmen wollen seither allen Stakeholdern dienen und nicht nur den Aktionären.

Bei Start-ups ist das Bekenntnis zum Unternehmenszweck am stärksten ausgeprägt. Sprechen Sie mit den Gründern von kapitalstarken Einhörnern, sie antworten alle gleich: Ein klar definierter Unternehmenszweck ist der Schlüssel zum Erfolg. Er motiviert Mitarbeiter, gibt strategische Orientierung und bindet die Aktionäre.

Eine Studie bestätigt, dass bei den Firmen der Wissensökonomie Purpose und Profitabilität verschmelzen. Eine weitere Studie zeigt, dass zweckorientierte Tech-Firmen am schnellsten auf Veränderungen reagieren. Ein Unternehmenszweck befördert eine Kultur des Vertrauens, die sich positiv auf die Innovationsfähigkeit auswirkt. In früheren Berichten der Purposeful Company, deren Co-Vorsitzender ich bin, wiederholten auch die Chefs etablierter Konzerne immer wieder dasselbe Mantra: Ohne Sinnorientierung keine Spitzenleistung. Sie führen Großunternehmen wie den britischen Versicherungskonzern Legal & General oder den Netzbetreiber National Grid.

Selbst Unilever hielt letztlich an seiner mehr als 100 Jahre alten Tradition fest: Man will die besten Produkte für den täglichen Bedarf entwickeln. Die echten Vorreiter der Purpose-Orientierung sind jedoch die Tech-Unternehmen. Für sie ist es einfacher, denn die Sinnorientierung war von Anfang an ein fester Bestandteil ihrer DNA. Wir erleben heute eine stille Revolution, die viele noch nicht begriffen haben. Zahlreiche Investoren und Vermögensverwalter zögern. Dabei ist der Trend eindeutig: Die besten Portfolioverwalter und erfolgreichsten Risikokapitalgeber sind solche, die die Sinnorientierung ernst nehmen und bei ihren Investitionsentscheidungen berücksichtigen. Der Kapitalismus des Westens steht vor gewaltigen Umbrüchen – und die neue, dynamische Ära der Sinnsuche hat gerade erst begonnen.

Gut zu wissen
Sinn treibt uns an:

Ob als Individuum oder Unternehmen, ein Sinn gibt uns die Motivation, die wir für dauerhaften Erfolg brauchen.

Die neue Wirtschaft ist immateriell:

Daten und Technik sind im Kapital einer "Marke" gebündelt. Sie motiviert Menschen, einem höheren Zweck zu folgen.

Top-Firmen folgen einem Zweck:

Ob Hightech oder Next Economy, sie setzen auf Sinnhaftigkeit und läuten so eine neue Phase des Kapitalismus ein.

Über den Autor
Portrait of Will Hutton
Will Hutton
Will Hutton ist Ökonom, Autor, Think-Tank-Leiter, Podcast-Moderator und regelmäßiger Kolumnist für The Observer. Er ist seit 2021 Präsident der Academy of Social Sciences, moderiert den Podcast The We Society und ist Co-Vorsitzender von The Purposeful Company.
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Veröffentlicht Februar 2025. Vorhanden in
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