Robuste Organisationen
Roland Berger veröffentlicht regelmäßig Studien zum Thema Robustheit – darin wird erörtert, wie Organisationen gestärkt aus Wandel, Disruption und Krisen hervorgehen können.
Von Fabian Huhle und Beate Rosenthal
Die Nestlé Deutschland AG vollzieht seit Jahren eine strategische Transformation ihrer gesamten Organisation. Der Umzug in die neu erbaute Firmenzentrale in der Frankfurter Innenstadt soll symbolisch für den Wandel des Unternehmens stehen: mehr Innovation, mehr Nachhaltigkeit, mehr Transparenz. Personalvorstand Ralf Hengels steuert den Kulturwandel des Unternehmens seit dem Startschuss 2019. Ein Gespräch über erfolgversprechende Transformationsansätze, den Rückenwind durch gecoachte Führungskräfte und die Verankerung einer neuen Unternehmenssprache.
Ralf Hengels ist Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Nestlé Deutschland AG. Der studierte Betriebswirt ist seit 2008 in verschiedenen Positionen im HR-Bereich des Nahrungsmittelkonzerns tätig. Im Oktober 2016 wurde er in den Vorstand der Nestlé Deutschland AG berufen.
Die Nestlé Deutschland AG mit Sitz in Frankfurt und rund 7.000 Mitarbeitenden ist Teil der globalen Organisation der Nestlé SE mit Sitz im schweizerischen Vevey. Nestlé wurde vor über 150 Jahren von dem Frankfurter Heinrich Nestlé in der Schweiz gegründet und ist heute das weltweit größte Nahrungsmittelunternehmen mit über 2.000 Marken – von Babynahrung über Getränke, Kaffee und Süßwaren bis hin zu Tiernahrung – an 188 Standorten weltweit.
Beate Rosenthal: Der Umzug von Nestlé Deutschland vom Frankfurter Süden in die Innenstadt soll eine neue Phase für das Unternehmen einläuten. Zurück an der Geburtsstätte des Firmengründers, will das Unternehmen ein Zeichen für Transformation und Dialog und damit letztlich für den Kulturwandel bei Nestlé setzen. Was waren die Beweggründe und Auslöser für diesen Kulturwandel?
Ralf Hengels: Wir haben unser Kulturprogramm bereits 2019 gestartet. Ziel war es, das Unternehmen als gesamtes Team strategisch neu aufzustellen, um den komplexen Herausforderungen unserer Zeit und unserer Branche besser begegnen zu können. Nachhaltigkeit und die Gestaltung gesünderer Produkte, verbunden mit der Frage nach Innovationen in einem anspruchsvollen Wettbewerbsumfeld, standen dabei für uns damals im Mittelpunkt. Gleichzeitig wussten wir, dass wir unsere Unternehmenskultur weiterentwickeln müssen, um alle Kräfte im Unternehmen für unsere ambitionierten Geschäftsziele zu mobilisieren. Wenn man sich große Ziele setzt, braucht man die ganze Energie und das ganze Engagement der Organisation, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.
Fabian Huhle: Wie haben Sie sich dem Thema Kulturwandel genähert und wie sind Sie dabei vorgegangen?
Ralf Hengels: Wir haben mit dem Managementteam in einer Art Vorphase zunächst die wichtigsten Themenfelder identifiziert, an denen wir arbeiten wollen. Unser Ziel war es, innerhalb dieser Themenfelder dann konkrete Maßnahmen zu definieren und entsprechende Projekte zu deren Umsetzung aufzusetzen. Ab diesem Zeitpunkt haben wir unternehmensweit Experten, Führungskräfte und Mitarbeitende intensiv eingebunden. Zum einen haben wir Personen direkt angesprochen und zur Mitarbeit eingeladen. Zum anderen sind aber auch Mitarbeitende auf uns zugekommen und haben ihr Interesse an einer Mitarbeit bekundet. So hatten wir einen guten Querschnitt hinsichtlich Alter, Betriebszugehörigkeit und Fachexpertise. Für jedes der fünf definierten Themenfelder bestand das Projektteam aus 20 bis 25 Kolleginnen und Kollegen.
Fabian Huhle: Können Sie uns Themenfelder nennen?
Ralf Hengels: Ein Thema war die Kommunikation. Wir haben festgestellt, dass wir oft sehr wissenschaftlich und nüchtern miteinander oder nach draußen kommunizieren. Unser Ziel war es, eine neue Unternehmenssprache zu etablieren, die von Wertschätzung und Empathie geprägt, aber auch mutig, respektvoll und inspirierend ist. Dieses neu entwickelte Sprachkonzept nennen wir „HENRI“, also Herzlich, Entschlossen, Natürlich, Respektvoll und Inspirierend. Ich glaube, es ist uns gut und schnell gelungen, sie zu verankern. Wenn Kolleginnen und Kollegen jetzt einen Textentwurf vorlegen, gibt es häufiger den Hinweis, ein bisschen mehr „HENRI“ in den Formulierungen zu sein.
Fabian Huhle: Die Coronaphase hat die Projektarbeit beim Kulturwandel teilweise gebremst. Als eine Antwort darauf haben Sie ein Online-Coaching gestartet.
Ralf Hengels: Die Pandemie hat in der Tat unseren Zeitplan durcheinandergebracht. Statt der geplanten Präsenz-Workshops mussten wir über virtuelle Formate nachdenken. Es hat sich ausgezahlt, dass wir ein individuelles Online-Coaching-Programm mithilfe der TheNextWe-App in dieser für uns alle schwierigen Zeit angeboten haben. Dabei haben wir drei Ziele verfolgt: eine neue Führungskultur, mehr Innovation und eine bessere Zusammenarbeit. Wir sind weit vorangekommen. Mittlerweile haben 500 Führungskräfte das Online-Coaching durchlaufen. Außerdem haben wir auch für die Teams Workshop-Formate zur Selbstreflektion und Verbesserung der Zusammenarbeit entwickelt. Dafür nutzen wir inzwischen unsere eigenen Trainer und Moderatoren und sind nicht mehr auf externe Unterstützung angewiesen. Wir haben jetzt Profis aus den eigenen Reihen, um deutlich mehr Workshops durchzuführen als noch vor zwei Jahren.
Beate Rosenthal: Wie haben Sie es am Ende geschafft, die einzelnen thematischen Elemente zu einem Gesamtprogramm „Kulturwandel“ zusammenzufügen?
Ralf Hengels: Die Programmbestandteile waren von Anfang an gut aufeinander abgestimmt. Wir haben natürlich trotzdem ein kontinuierliches Monitoring durchgeführt, Feedback eingeholt und gegebenenfalls nachgesteuert. Eine Sache wurde schnell klar: Dass wir den Teams mehr Zeit geben müssen, um miteinander zu interagieren und eine gute Zusammenarbeit zu entwickeln. Deshalb haben wir das „Insights Discovery“-Modell eingesetzt, um den Teams zu helfen, sich individuell und als Gruppe besser kennenzulernen und zu verstehen.
Fabian Huhle: Welches Thema hat im Prozess an Stellenwert gewonnen?
Ralf Hengels: Ganz klar die Themen Nachhaltigkeit und Innovation. Es hat sich in der Diskussion um Innovationsprozesse als ein wesentliches Zielbild herauskristallisiert und großen Einfluss auf unsere Kultur. Heraus kam beispielsweise, dass wir als Unternehmen mutiger sein wollen, zukunftsweisende Dinge auszuprobieren und vielleicht auch gemeinsam mit dem Handel ein neues Produkt zu entwickeln.
Beate Rosenthal: Wie halten Sie den Stand beim Kulturwandel nach?
Ralf Hengels: Indem wir hineinhorchen ins Unternehmen und in die Teams: Ergebnisse aus Befragungen sehr genau auswerten, Town Hall Meetings reflektieren. Wir stellen zum Beispiel zwei Dinge fest: Erstens trauen sich die Mitarbeitenden immer häufiger, gemeinsam Projekte anzustoßen. Zweitens geben sie uns deutlich zu verstehen, worum wir uns in Zukunft noch stärker kümmern sollten, und bringen meist auch direkt erste Vorschläge ein. Unsere Feedback-Kultur ist inzwischen sehr ausgeprägt. Das heißt konkret: Führungskräfte bekommen auch Kritisches zu hören, was sie bisher nicht gewohnt waren. Sie müssen lernen, damit umzugehen und Lösungen zu finden.
Fabian Huhle: Für 2024 planen Sie noch eine große internationale Mitarbeiterbefragung. Wird der Kulturwandel ein Thema sein?
Ralf Hengels: Ja, es ist eine große Chance, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Handlungsoptionen auszuloten. Die Herausforderung besteht allerdings darin, den Kulturwandel von anderen aktuellen Themen zu trennen. Ansonsten laufen wir Gefahr, dass die allgemeine Wirtschaftslage und die geopolitischen Krisen alles überlagern und negativ beeinflussen.
Beate Rosenthal: Seit 2023 gab es bei Nestlé Deutschland einige Wechsel auf Vorstands- und Geschäftsführungsebene. Wie sind Sie damit umgegangen?
Ralf Hengels: Das war sicherlich eine der Herausforderungen, wenn man sich als Team gemeinsam auf die Reise des Kulturwandels begibt und dann einige Beteiligte wechseln. Wichtig ist in einer solchen Situation, dass die vereinbarten Dinge mit den Personalveränderungen nicht plötzlich verschwinden. Eine meiner Aufgaben ist es, diese Kontinuität zu gewährleisten.
Fabian Huhle: Sie sprechen damit das Thema Führung an. Wie haben Sie Führung und die Rolle der Führungskräfte im Rahmen des Kulturwandels behandelt?
Ralf Hengels: Wir haben mittlerweile 500 Führungskräfte durch das erwähnte Coaching und verschiedene Workshopformate zu echten Botschaftern des Wandels gemacht. Die anfängliche Befürchtung, dass die Teilnahme eher als Pflicht denn als Chance wahrgenommen wird, hat sich nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil: Wir hatten eine große Nachfrage von Führungskräften, die in ihren Bereichen eigene Initiativen ergreifen wollten. Deshalb war es gar nicht erforderlich, eine sogenannte „Burning Platform“ zu schaffen, um den Wandel einzuleiten. Unsere Führungskräfte haben aus eigener Motivation heraus gehandelt und den Prozess vorangetrieben. Ein Erfolgsfaktor war sicherlich, die Distanz zwischen den Hierarchien abzubauen – nach dem Motto „Ich hier unten und die da oben“. Dazu haben sicher auch Eigenpräsentationen der Führungskräfte per Video und ein nahbarer Umgang miteinander beigetragen.
Fabian Huhle: Welche Rolle hat die HR-Funktion in diesem Veränderungsprozess gespielt und wie konnte sie wirksam Einfluss nehmen?
Ralf Hengels: Wir konnten zeigen, was wir können. Vielen im Managementteam ist bewusst geworden, dass wir überall in der Organisation HR-Ressourcen haben, die einen wertvollen Beitrag zur Transformation leisten. Wir haben sozusagen den praktischen Beweis angetreten, denn schließlich reden wir als HRler seit Jahren davon, dass wir am Tisch des Managements eine Stimme haben und gehört werden wollen. Die Voraussetzung dafür ist, als echter Business-Partner zu agieren und mit einem tiefen Verständnis für das Geschäft und die Geschäftsentwicklung einen echten Beitrag als Unterstützer und Berater zu leisten. Wir profitieren davon, dass die Unternehmensleitungen zunehmend erkennen, dass wirtschaftlicher Erfolg von guter zwischenmenschlicher Zusammenarbeit und Teamwork abhängt.
Fabian Huhle: Hätten Ihre Führungskräfte den Kulturwandel im Alleingang schaffen können?
Ralf Hengels: Das ist schwer zu beurteilen. Am Ende ist jedes Ergebnis eine Teamleistung und ich bin stolz darauf, dass das HR Team hier so aktiv beteiligt war. Wir haben sehr gutes Feedback vom Topmanagement, den Mitarbeitenden und den Betriebsräten erhalten, dass wir den Lead übernommen haben und wie wir den Prozess gesteuert haben. Gleichwohl haben wir auch begonnen, uns selbst kritisch zu hinterfragen. Angefangen bei der Art und Weise, wie wir kommunizieren, bis hin zum Thema Employee Experience: Wie können wir unsere Prozesse noch weiter vereinfachen und stärker vom Mitarbeitenden her denken? Aber auch Fragen nach mehr Nachhaltigkeit und den Einsatzmöglichkeiten von mehr Digitalisierung bis hin zu künstlicher Intelligenz beschäftigen uns.
Beate Rosenthal: Stichwort künstliche Intelligenz (KI). Welche Erfahrungen haben Sie bereits mit KI-Lösungen zur Weiterentwicklung der Personalarbeit gesammelt?
Ralf Hengels: Im Unternehmen arbeiten wir an unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten für KI-Lösungen und das in zahlreichen Bereichen. Für die Personalfunktion sind wir gerade dabei, dies stärker zu forcieren. Aktuell haben wir einen Chatbot im Einsatz, der einfache, eher standardisierte Fragen der Mitarbeitenden beantwortet. Um ehrlich zu sein, sind wir mit den Ergebnissen noch nicht zufrieden und wir sind auch noch von einer echten KI Lösung weit entfernt. Letztlich kommt es darauf an, Daten bereitzustellen, mit denen das Tool dann in einen echten Dialog mit den Mitarbeitenden treten kann. Wir versprechen uns davon, dass wir die dezentralen Einheiten noch besser erreichen und ihnen bei Personalfragen und einfachen Aufgaben, wie zum Beispiel dem Dokumentenmanagement, helfen können.
Beate Rosenthal: Wohin geht der Trend?
Ralf Hengels: Einen großen Mehrwert sehe ich persönlich beim 360-Grad-Feedback im Rahmen des Performance-Managements. Wo man früher seitenweise Kommentare mühsam durcharbeiten musste, kann ich heute mithilfe der firmeninternen "NesGPT" Lösung mit wenigen Clicks eine leicht verständliche Zusammenfassung erhalten, die man auch mit den Mitarbeitenden teilen kann und so viel besser in den Dialog kommt. Um solche und weitere Lösungen für uns zu identifizieren, veranstalten wir derzeit weltweit eine Reihe von Hackathons. Ausgehend von gemeinsam identifizierten „Problem Statements“ für HR-Prozesse skizzieren wir, wie eine Lösung aussehen könnte und ob es dafür bereits vorhandene Tools gibt. Die Toplösungen verfolgen unsere globalen Experten dann weiter und stellen dafür Ressourcen bereit. Ich bin fest davon überzeugt, dass uns KI-Programme große Potenziale bringen werden und uns das Leben und die Arbeit in Zukunft an vielen Stellen spürbar erleichtern werden.
Beate Rosenthal und Fabian Huhle: Herr Hengels, wir danken Ihnen für das Gespräch.