Robuste Organisationen
Roland Berger veröffentlicht regelmäßig Studien zum Thema Robustheit – darin wird erörtert, wie Organisationen gestärkt aus Wandel, Disruption und Krisen hervorgehen können.
Von Fabian Huhle
Hinter der Lufthansa liegen herausfordernde Jahre während der Pandemie. Zwischen dem Hoch- und Herunterfahren des Flugbetriebs lagen teilweise nur wenige Tage. Entsprechend musste die HR-Abteilung in kurzer Zeit Personalabbau und -aufbau managen. Für Astrid Neben, CHRO Lufthansa Airlines, hat der Krisenmodus ihr Team unter dem Strich nachhaltig positiv geprägt, weil aus den Erfahrungen eine neue Stärke und ein neues Selbstbewusstsein entstanden sind. Ein Gespräch über zielgruppengerechte Krisenkommunikation, den Segen von künstlicher Intelligenz und das neue Rollenverständnis des Personalbereichs.
Die Lufthansa Group ist ein weltweit operierender Luftverkehrskonzern. Mit 109.509 Mitarbeiter*innen erzielte die Lufthansa Group im Geschäftsjahr 2022 einen Umsatz von 32,8 Mrd. EUR. Die Lufthansa Group besteht aus den Geschäftsfeldern Network- und Passagier-Airlines Lufthansa, SWISS, Austrian Airlines und Brussels Airlines und Eurowings sowie den Aviation Services. Zu letzteren zählen die Geschäftsfelder Logistik, Technik sowie die weiteren Gesellschaften und Konzernfunktionen. Alle Geschäftsfelder nehmen in ihren jeweiligen Branchen eine führende Rolle ein.
Astrid Neben ist seit 2020 CHRO bei Lufthansa Airlines und war zuvor bei Lufthansa Technik in verschiedenen Führungspositionen tätig. Sie war maßgeblich für die schnelle Umsteuerung des Personalkörpers der Lufthansa während der Coronakrise verantwortlich.
Fabian Huhle: Frau Neben, die mehrjährige Phase der Coronapandemie seit 2020 war geprägt von einem extremen Wechsel der personellen Anforderungen zwischen Abbau, Aufbau und Umbau. Wie hat die Lufthansa diesen Kraftakt gemeistert?
Astrid Neben: Mit dem Kabinenpersonal als dem größten Personalkörper haben wir bereits im März 2020 die erste Vereinbarung für rund 18.000 Mitarbeitende dazu treffen können. Es geschafft zu haben, sehr schnell eine Regelung zu treffen, um Kapazität in einem relevanten Maße reduzieren zu können, ohne direkt in ein Abbauprogramm zu gehen, war wirklich ein großer Erfolg und eine große Erleichterung. Wir haben bei unseren betrieblichen Sozialpartnern ein großes Verständnis für die Dringlichkeit der Situation und damit auch eine sehr hohe Kooperationsbereitschaft erlebt. Das ist dann kurze Zeit später quasi im Wochenrhythmus auch für die anderen Beschäftigtengruppen gelungen. Das war eine sehr wichtige Botschaft an die Belegschaft, weil wir durch das Instrument Kurzarbeit zunächst das Thema Arbeitsplatzverlust abwenden konnten und auf dieser Basis dann weiter überlegen konnten, was darüber hinaus erforderlich ist. Zudem sind in einem Unternehmen unserer Größenordnung Flexibilisierungsaspekte in der Belegschaft sehr relevant, z.B. mit Zeitarbeitnehmer*innen zu arbeiten. Nach diesen ersten erfolgreichen Schritten ging es darum, mittelfristig eine weitere Senkung der Personalkosten zu erreichen. Dazu haben wir jede einzelne Stelle bewertet und die Kapazitätsanpassungen mithilfe eines Ansprache- bzw. Freiwilligenprogramms realisiert.
Tom Gellrich: Im Vor-Corona-Jahr 2019 war bei Ihnen alles auf Wachstum ausgerichtet – wie hat sich diese abrupte Kehrtwende für Sie angefühlt? Und welche Auswirkungen hatte das auf den HR-Bereich?
Astrid Neben: In der Tat kamen wir aus einer Hochrekrutierungsphase. Wir haben 2019 noch in großem Umfang Personal eingestellt, weil der HR-Bereich der Lufthansa in Deutschland trotz erster Abschwächungstendenzen auf Wachstum eingestellt war. Wir hatten unsere Prozesse professionalisiert und effizienter gemacht, um eine schnelle „Time-to-Hire“ zu haben. De facto haben wir dann beim Eintritt in den Krisenmodus unsere Recruiter zu „New Placement-Berater*innen“ gemacht. Kurzarbeit war für viele HR-Mitarbeitende zum ersten Mal ein Fachthema, ebenso die Umsetzung eines Freiwilligenprogramms. Mithilfe von Task Forces galt es, die wichtigsten Fragen zu beantworten: Wie läuft der Prozess ab? Unter welchen Rahmenbedingungen können geeignete Maßnahmen umgesetzt werden und was ist dabei zu beachten? Im Ergebnis haben wir in der HR-Funktion unsere eigenen Kräfte umgewidmet und uns neu aufgestellt. Es ging vielmehr darum, schnell diese neu nachgefragten Qualifikationen aufzubauen und die Themen Kurzarbeit und Freiwilligenprogramm zu steuern. Das ist sehr gut gelungen.
Fabian Huhle: Wie haben Sie diesen Wechsel im Mindset für die Kolleg*innen gemanagt, also die Drehung um 180 Grad? Wie haben Sie Ihre Mitarbeitenden in dieser Zeit begleitet? Für einen gestandenen HRler ist das ja ein deutlicher Wechsel im Selbstverständnis.
Astrid Neben: Für unsere HRler war die Radikalität der Veränderung in der Tat ein Schock. Am Anfang standen viele Fragen: Was machen wir jetzt eigentlich? Welchen Mehrwert bringen wir jetzt? Die ganze Maschinerie stand quasi von heute auf morgen still, und nicht nur das Thema Recruiting, sondern auch die Standard-HR-Prozesse. Gleichzeitig standen wir vor extremen Herausforderungen rund um das Thema Kapazitätsreduzierung und Bewältigung der neuen Gesundheitsregularien. Die Hauptanforderung war, den Betrieb aufrechtzuerhalten, da der Flugbetrieb zu jeder Zeit weiterlief, wenn auch im unterschiedlichen Ausmaß. Hier hat HR eine zentrale Rolle gespielt und es war entscheidend, dass wir als HR-Funktion zusammen mit dem medizinischen Dienst in der Lage waren, gut zu beraten, Risiken zu bewerten und eine konsequente Governance vorzuleben. Die große Sichtbarkeit und der Bedarf an Führung haben HR einen unglaublich großen Purpose gegeben. Und das HR-Team hat diese neuen Themen sehr beherzt angepackt. Es gab wenig Reaktanz, sondern eher die Einsicht in die Dringlichkeit, Unterstützung zu leisten. Alle haben erkannt, welche große Bedeutung der eigene Beitrag zur Bewältigung der Krise hat.
Fabian Huhle: Wie lief zu der Zeit die interne Kommunikation ab? Gab es neue Kommunikationskanäle und wer kommunizierte intern?
Astrid Neben: Schnelle, präzise und situationsgerechte Kommunikation war sicherlich erfolgsentscheidend. Plötzlich mussten wir mehrmals pro Woche kommunizieren und informieren: Welche Regeln gelten jetzt? Was bedeutet das? Kann man noch auf Dienstreise gehen? In welche Länder darf man reisen? Was gilt wo? Wir haben zwar einen internationalen Flugbetrieb, gleichwohl hatte jedes Land während der Krise seine eigenen Regeln. Als HR-Funktion waren wir besonders gefordert, auf vielen Ebenen zu informieren und zu kommunizieren. Kommunikation durch uns als HR war schon immer wichtig, aber jetzt mussten wir uns in kurzen Abständen direkt und verbindlich zu einem breiten Themenspektrum äußern. Und die zielgruppenorientierte Kommunikation rückte stärker in den Vordergrund. Zuvor waren wir als HR in der Kommunikation vor allem auf das Management fokussiert. Jetzt mussten wir deutlich breiter kommunizieren.
Tom Gellrich: Ein weiterer sehr wichtiger Baustein in solchen Zeiten grundlegender Veränderungen sind die Arbeitnehmervertretungen. Wie haben Sie die Gremien der betrieblichen Mitbestimmung eingebunden?
Astrid Neben: Die Sozialpartnerschaft war während der gesamten Zeit der Pandemie sehr wichtig und aus meiner Sicht wirklich sehr konstruktiv mit allen Beschäftigtengruppen. Es gab ein großes Bemühen, die Situation umfassend zu verstehen und gute Lösungen zu finden, die angemessen sind und den erforderlichen Schutz für unsere Mitarbeitenden bieten. Natürlich gab es auch Bereiche, in denen die Meinungen auseinandergingen, so war das Thema Datenerfassung/ Impfdatenerfassung nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch bei uns konfliktträchtig. Hier die Balance zu finden, nicht zu tief eingreifen zu wollen, aber trotzdem unseren Geschäftszweck erfüllen zu können, hat uns sehr gefordert.
Fabian Huhle: Welche Rolle haben Tools und digitale Lösungen in der Transformation gespielt?
Astrid Neben: Eine wichtige. Dazu ein sehr gutes Beispiel: Wenn unsere Mitarbeitende unser Gelände betreten wollen, können sie das nur mit ihrem Dienstausweis, auf dem auch eine bestimmte Berechtigungsinformation gespeichert ist, weil es ein Sicherheitsgelände ist. Damals gab es eine Vorschrift, dass beim Betreten des Geländes ein Impfnachweis vorgelegt werden musste. Das mussten wir aufwendig überprüfen. Wir hatten dann die Idee, diesen Impfcheck direkt in das Ausweissystem zu integrieren, was wir dann zügig umgesetzt haben. Ein weiteres Beispiel ist die Verarbeitung von Informationen wie Kurzarbeitslisten und Betriebsratsanfragen. Dies war bis dato hauptsächlich manuelle Arbeit. Einen Workflow gab es hier nur in groben Ansätzen. Die digitale Umsetzung hat Fehlerquellen minimiert und Zeit gespart.
Fabian Huhle: Welche begleitenden Maßnahmen haben Sie als HR während dieser sehr krisenhaften Zeit angeboten, die so vieles grundlegend verändert hat?
Astrid Neben: Viele Mitarbeitende haben sich sehr grundsätzliche Fragen gestellt: Bleibe ich trotz all der Unsicherheit bei der Lufthansa? Wann geht es wirklich wieder aufwärts? Wann kehren wir als Unternehmen auf den Wachstumskurs zurück? Das konnte damals niemand vorhersagen. Um dieser Unsicherheit zu begegnen, haben wir in großem Umfang Unterstützungs- und Gesprächsangebote gemacht, auch mit Hilfe externer Partner. Wir sind direkt auf einzelne Belegschaftsgruppen zugegangen: Wie kann es weitergehen? Woran glaubt ihr? Und auch mit Homeoffice haben wir vielfältige Erfahrungen gesammelt und daraus gelernt. Das Thema Vereinsamung und Isolierung zu Hause war eine große Belastung. Um dem entgegenzuwirken, haben wir, wie viele andere Unternehmen auch, umfangreiche Angebote gemacht, damit der soziale Kontakt erhalten bleibt und die Bindung zum Unternehmen nicht verloren geht. Dazu gehörten zum Beispiel tägliche Check-Ins und gemeinsame virtuelle Treffen zum Kaffee am Freitagnachmittag. Und regelmäßig gab es freiwillige Videomeetings auch für das operative Personal wie Piloten und Flugbegleiter, die in Kurzarbeit waren.
Tom Gellrich: Hat sich das Engagement gelohnt, als Sie in die Phase des (Wieder-)Aufbaus kamen?
Astrid Neben: Ja, sicherlich. Allerdings haben wir beim Übergang in den Aufbaumodus gemerkt, dass es trotz aller Bemühungen einen Anteil von rund 10 bis 15 Prozent in der Belegschaft gab, die sich vom Unternehmen entfernt und zum Beispiel eine Nebenbeschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber gesucht hatten. Und plötzlich rief die Lufthansa wieder an! Da sind Loyalitätskonflikte entstanden. Gerade für das fliegende Personal, das keinen Büroarbeitsplatz hat, war es nicht einfach, weil es wenig Bezugspunkte gab. Hier ist Identifikation mit dem Arbeitgeber Lufthansa verloren gegangen.
Tom Gellrich: Welche unterstützenden Maßnahmen haben Sie und Ihr HR-Team eingesetzt?
Astrid Neben: Um wieder Brücken zu bauen, haben wir viele Veranstaltungen gemacht, beispielsweise ein „Welcome back“ für Piloten. Hilfreich war, dass auch viele Qualifizierungen erneuert werden mussten. Dieses erneute Onboarding bot eine gute Überbrückung, Prozesse wieder einzuüben, den persönlichen Kontakt zu fördern und damit wieder eine Heimat zu bieten. Es war aber sicher kein Selbstläufer. Gewisse „Ramp-Up-Schmerzen“ gab es in allen Beschäftigtengruppen. Für Mitarbeitende, die im Büro, an einer Station oder in der Technikhalle arbeiten, war es sicherlich einfacher, weil sie ihr Team wiedertreffen konnten und Führungskräfte vor Ort als Bezugspersonen hatten. Hier kam ein guter Austausch schnell in Gang. Wir haben die Führungskräfte in Videocalls vorab geschult, wie sie eine Atmosphäre des Zusammenhalts schaffen können. Und wir haben damit begonnen, die Attraktivität der Standorte wieder zu erhöhen. Wir haben zum Beispiel Kaffeebars und Coffee Points eingerichtet sowie Kaffee-Nachmittage eingeführt, wo wir Snacks und Kuchen angeboten haben. Kurzum, es wurde viel Kreativität freigesetzt, und wir haben auch sehr viel Freiheit gegeben.
Fabian Huhle: Wie sieht der Weg in die Zukunft aus? Erwarten Sie eine Rückkehr zum Status quo vor Corona?
Astrid Neben: Aus den Führungsetagen vieler Unternehmen kam nach dem Ende der Coronakrise der klassische Impuls, alle aus dem Homeoffice und den virtuellen Arbeitsräumen zurückzuholen. Für uns als HR war es wichtig, dem Gedanken zu folgen, dass jedes Team seinen eigenen Weg finden muss. Uns war klar, dass es kein gangbarer Weg ist, Arbeitnehmer*innen, die zuvor über Monate Strukturen im Homeoffice aufgebaut haben, pauschal zu verpflichten, mindestens vier Tage vor Ort im Büro oder am Standort zu sein. Am Ende braucht es eine gute Balance. Es war eine wirklich schwierige Aufgabe für HR, diese Balance zu finden und den Bogen nicht zu überspannen – weder in die eine noch in die andere Richtung. Hier haben wir als HR moderiert zwischen Extrempositionen und geholfen, eben diese Balance zu finden. Wir haben auf eine maßvolle Personalpolitik gesetzt und waren bereit, die Unsicherheit in Kauf zu nehmen, nicht hundertprozentig zu wissen, was richtig ist.
Fabian Huhle: Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang auf das Stichwort Resilienz schauen. Eine Definition von Resilienz basiert auf dem Gleichnis vom Schilfrohr, das einmal vom Wind nach unten gedrückt wird und sich dann aber auch wieder aufrichtet. Wenn Sie das abstrakt betrachten, was würden Sie aus Ihrer Lernerfahrung von Resilienz in dieser Krise anderen Unternehmen mitgeben? Was kann man auf die Art und Wiese, wie man als HRler arbeitet und als Unternehmen agiert, übertragen?
Astrid Neben: Zunächst ist es notwendig, in einer Krise schnell und klar zu handeln und viel Orientierung zu geben, um Ruhe und Sicherheit zu schaffen. Bildlich gesprochen muss das Schilfrohr den Druck nach unten aushalten. Dann muss alles getan werden, damit das Aufrichten gelingt. Aber sehr wahrscheinlich strebt das Schilf dann eine andere Neigung an. Allen waren klar, dass es nicht wieder genau so sein wird wie vor der Pandemie. Es kommt darauf an, die richtige Neigung zu finden und dabei ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Bereitschaft zu haben, die Bedürfnisse zu beobachten, bevor Entscheidungen getroffen werden. Schnelle und klare Kommandos von der Brücke sind – anders als in der akuten Krisensituation - eben gerade nicht mehr gefragt. Und trotzdem muss der Drive nach vorne in einem gemeinsamen Team da sein. Im Entscheidungsprozess ist es dann sicher besser, in einem Spektrum von Möglichkeiten zu denken, als nur richtig von falsch unterscheiden zu wollen. Das ist mein großes Learning, auch für die Beratung unserer Führungskräfte.
Tom Gellrich: Was bedeutet das für die Anforderungen und Kompetenzen von HR-Mitarbeitenden, auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels? Wie verändert sich Ihr Blick auf die Aufgaben und Rollen von HRlern?
Astrid Neben: Für meine HR-Mitarbeitenden bedeutet es vor allem, dass wir gefordert sind, Spannungsfelder auszuhalten und dazu auch beraten zu können. Wir müssen in der Lage sein, eben auch Führungskräfte, Mitarbeitende und Sozialpartner in den Prozess mitzunehmen. Wir dürfen Themen nicht zu schnell abhaken, sondern müssen auch den Mut haben, Dinge länger offen zu halten und nach Regeln zu suchen, die Gestaltungsspielräume ermöglichen. Dazu gehört, Entwicklungen zu beobachten und bei Endscheidungen auch Varianten zuzulassen. Diese Kompetenzen müssen HRler auf- und ausbauen, damit sie auch andere Stakeholder in diese Richtung beraten können. Der gängige Reflex nach der Krise war und ist, zügig klare Entscheidungen treffen zu wollen. Das ist für viele Fragestellungen der falsche Weg und kein Erfolgsmodell mehr. Um zu guten Entscheidungen zu kommen, brauchen wir unterschiedliche Perspektiven auf Probleme, um der Komplexität in der Realität gerecht zu werden. Das ist eine kulturelle Veränderung hin zum Kollektiv. Und das steht im deutlichen Kontrast zu dem, was uns eigentlich durch die Krise gebracht hat.
Fabian Huhle: Kann künstliche Intelligenz (KI) dabei helfen? Oder anders gefragt: Nutzen Sie KI bereits in irgendeiner Form und ist das ein Thema für Sie?
Astrid Neben: Natürlich ist das ein wichtiges Thema für uns. Vor allem in Bereichen, in denen es um Regeln und Prozesse geht, kann KI helfen, effizienter zu agieren. Wir werden die neuen technologischen Möglichkeiten in der Rekrutierung nutzen, zum Beispiel beim Screening von Lebensläufen, und auch im Personalwesen, zum Beispiel bei Anträgen. Wir sehen zudem großes Potential darin, digitale Kommunikationsmöglichkeiten zu schaffen und Mitarbeitende mit Chatbots zu informieren. Unter dem Strich werden wir Entlastungen zunächst vor allem bei einfachen Tätigkeiten haben. Bei komplexeren strategischen Themen erwarte ich noch keine signifikante Unterstützung durch KI.
Fabian Huhle: Sie forcieren das Thema KI dennoch?
Astrid Neben: In Zeiten des Fachkräftemangels ist alles willkommen, was meine Mitarbeitenden von Routinearbeiten entlastet – wenn die Qualität stimmt. Wir hoffen auf weitere Fortschritte bei der KI, damit wir als HR noch mehr Zeit für Beratung gewinnen und auch mittel- und langfristige Themen im Zuge der Workforce Transformation und Digitalisierung angehen können. Hier geht es um Fragen, die unser gesamtes Unternehmen betreffen, wie Customer Touchpoints, Erwartungen an unsere Serviceprodukte und die Gestaltung optimierter Prozesse als Airline.
Tom Gellrich: Womit sich auch die Arbeit der HR-Abteilung verändert.
Astrid Neben: Ja, in allen Bereichen werden sich Jobprofile und - anforderungen weiter radikal wandeln. Als HR-Bereich wollen wir dabei die zentrale Rolle eines Enablers einnehmen. Es wird um Upskilling und Reskilling gehen, um neue Ausbildungsberufe und neue Studiengänge. In den Jahren 2022 und 2023 haben wir für die Stabilität des HR-Systems und des Gesamtunternehmen gesorgt. Jetzt wachsen wir als HR in die Rolle hinein, Antworten auf strategische Fragen zu geben und alle Mitarbeitenden entsprechend zu begleiten. HR wird noch stärker zum Zukunftsberater.
Tom Gellrich: Glauben Sie, dass die erfolgreiche Rolle der HR-Funktion in der Krise auch dazu geführt hat, dass sie vielleicht ein ganz anderes Mandat oder eine andere Glaubwürdigkeit im Unternehmen bekommen hat?
Astrid Neben: Ja, auf jeden Fall. Das Selbstbewusstsein der HR- Community ist spürbar gestärkt. Es war eine besondere Erfahrung, in der Krise gefragt zu sein, einen Beitrag zum Überleben des Unternehmens zu leisten und zu helfen, es aus der Krise zu führen. Gemeinsam mit den Fachbereichen konnten wir wirklich tolle Erfolge erzielen.
Fabian Huhle: Wenn Sie jetzt auf die Weiterentwicklung der Personalfunktion schauen, dann braucht es hoffentlich nicht jedes Mal eine Krise, um diesen Schritt zu gehen. Wenn Sie jetzt das HR- Ökosystem der Lufthansa Airline, aber auch anderer Unternehmen betrachten, welche Entwicklung wünschen Sie sich oder erwarten Sie?
Astrid Neben: Aus meiner Sicht wird die HR-Funktion diese Anerkennung und sichtbare Rolle nur behalten können, wenn wir uns tatsächlich stärker mit Trends und Zukunftsthemen beschäftigen – ohne Angst davor zu haben. Wir dürfen uns nicht zu sehr mit dem Tagesgeschäft beschäftigen, sondern müssen auch den Mut und die Kompetenz entwickeln, die Arbeitstrends unserer Fachbereiche zu beurteilen und eigene Positionen dazu zu beziehen. Wir müssen stärker in beratende Rollen hineinwachsen, was das Selbstbewusstsein voraussetzt, selbst zu Einschätzungen von Geschäftsentwicklungen zu kommen. Also nicht nur als Berater die richtigen Fragen zu stellen, sondern auch eine Meinung zu haben, wie es weitergehen könnte, welche Auswirkungen bestimmte soziale Dynamiken und gesellschaftliche Trends haben und was das konkret für die Weiterentwicklung der Unternehmensbereiche bedeutet. Wir sollten proaktiv kluge Konzepte und Maßnahmen mit entwickeln, um eine Transformation zu unterstützen, die auf jeden Fall kommen wird.
Tom Gellrich: Wie bekommen Sie diese Art von wirtschafts- und gesellschaftspolitischem Wissen in einer HR-Abteilung institutionalisiert? Übernimmt ein Thinktank beziehungsweise ein eigenes SWOT-Team diese Vermittlung oder gibt es eine Vielzahl von Schulungen?
Astrid Neben: Wir fangen jetzt ganz niedrigschwellig und pragmatisch an. Alle meine Führungskräfte haben die Aufgabe, regelmäßig Konferenzen zu besuchen – um von anderen zu lernen und sich auszutauschen. Aber auch, um Berührungsängste mit großen Themen und Trends abzubauen. Sie sehen, wie andere vorgehen und bekommen ein Gefühl dafür, wie sie sich inhaltlich annähern können. Ich halte auch viel vom Ansatz „each one, teach one“, also Menschen mit Interesse an einem speziellen Thema zu motivieren, uns zu qualifizieren und Impulse zu geben. Für das Thema Selbstbewusstsein und auch Selbstwirksamkeitserfahrung meiner Community ist es mir wichtig, möglichst viel von innen heraus zu machen und auf die eigene Qualifizierung zu setzen. Dazu diente Anfang des Jahres auch unser großer HR-Summit in Lausanne am International Institute for Management Development (IMD). Wir waren dort mit 120 HRlern, um möglichst viele Impulse von außen zu bekommen, die auch jedem helfen, den Transfer in seiner eigenen Rolle zu schaffen
Fabian Huhle: Was waren hier Ihre Schwerpunktthemen?
Astrid Neben: In Lausanne lag der Schwerpunkt unter anderem auf KI, und es gab eine gute Mischung aus allgemeinen KI-Slots und der Anwendung von KI im HR-Bereich. Wir waren alle begeistert und denken darüber nach, wie wir unsere Erkenntnisse innerhalb der größeren HR- Community weitergeben können und wie wir das, was wir in Lausanne gelernt haben, umsetzen können.
Tom Gellrich: Sie nehmen viel Schwung mit für die nächste Zeit.
Astrid Neben: Mein Team ist sehr motiviert und hat großen Spaß daran, sich selbst weiterzuentwickeln. Das erlebe ich nicht nur bei Akademiker*innen. Ich habe viele Sachbearbeiter*innen, die wirklich stolz auf ihre Prozessverantwortung sind und ihren individuellen Verantwortungsbereich entscheidend nach vorne bringen wollen. Dazu gehört auch die Digitalisierung von Abläufen. Für mich zeigt sich einmal mehr: Wenn man Menschen Verantwortung überträgt, schafft man es, dass sie über sich hinauswachsen.
Tom Gellrich & Fabian Huhle: Frau Neben, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.