Robuste Organisationen
Roland Berger veröffentlicht regelmäßig Studien zum Thema Robustheit – darin wird erörtert, wie Organisationen gestärkt aus Wandel, Disruption und Krisen hervorgehen können.
Von Constanze Schweinsteiger und Jann Oetken
In unserem „Future of HR”-Interview mit Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht der Deutschen Bahn AG, haben wir über die Verwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) und die damit einhergehenden Ängste gesprochen. Der positive Wandel durch KI geht dabei über das Technologische hinaus: Die Implementierung modernster KI-Tools treibt eine tiefgreifende kulturelle Transformation innerhalb von Organisationen voran. Vor allem der Mut zum Ausprobieren ist dabei zentral.
Der DB-Konzern ist in Deutschland der führende, integrierte Anbieter für öffentliche Mobilität, Logistik-Lösungen und kombinierten Verkehr in ganz Europa. Im Kern besteht die DB aus dem Systemverbund Bahn. Der Systemverbund Bahn umfasst das gemeinwohlorientierte Eisenbahninfrastrukturunternehmen DB InfraGO für den Betrieb von rund 33.000 Kilometern Streckennetz und 5.400 Bahnhöfen, den Bahnstromversorger DB Energie, den von der DB betriebenen Fern- und Regionalverkehr in Deutschland, die europaweiten Schienengüterverkehrsaktivitäten sowie die operativen Serviceeinheiten für Ticketvertrieb, IT, Facilitymanagement, Sicherheit oder technische Dienstleistungen für Eisenbahnverkehrsunternehmen. Der DB-Konzern mit Hauptsitz in Berlin beschäftigt allein in Deutschland rund 226.000 Mitarbeitende.
Martin Seiler ist seit dem 1. Januar 2018 Vorstand Personal und Recht der Deutschen Bahn AG. Vor seinem Wechsel zur DB war er unter anderem in verschiedenen Funktionen bei der Deutschen Post und der Deutschen Telekom tätig. Bei der Deutschen Telekom war er ab Juni 2015 als Geschäftsführer Personal und Arbeitsdirektor für 70.000 Mitarbeiter sowie als Sprecher der Geschäftsführung der Telekom Ausbildung konzernweit für alle Auszubildenden und dualen Studenten verantwortlich.
Constanze Schweinsteiger: Wie stark beschäftigt Sie als CHRO das Thema künstliche Intelligenz?
Martin Seiler: KI nimmt inzwischen einen großen Raum ein – nicht nur in meinen Teams, sondern auch in vielen anderen Bereichen der Deutschen Bahn. Wir nähern uns dem Thema meist sehr grundsätzlich: Was kann KI? Was kann sie nicht? Wofür wollen wir sie einsetzen? Im Fokus steht häufig die Frage, wie wir Effizienzen heben können, um den Kundinnen und Kunden einen besseren Service bieten zu können. KI ist beispielsweise in unseren Werkstätten nicht mehr wegzudenken, denn sie verkürzt die Standzeiten der Züge. Schon wenn ein ICE hier einfährt, wissen unsere Leute, wo es Störungen gibt, was in den Zügen von der Klima- bis zur Lichttechnik nicht funktioniert und können alles für die Reparatur vorbereiten. Auch bei der Erstellung von Sonderfahrplänen – etwa aufgrund tagesaktueller Änderungen oder Störungen – macht die künstliche Intelligenz Vorschläge. Konkret entscheiden muss am Ende der Disponent.
Constanze Schweinsteiger: Wo setzen Sie KI im Personalbereich konkret ein?
Martin Seiler: Wir setzen KI vor allem dort ein, wo sie hilft, repetitive Tätigkeiten zu reduzieren, Mitarbeitende zu entlasten und ihnen mehr Zeit für qualitative Arbeit zu ermöglichen. Beispiel Rekrutierung. Für einen Teil unserer monatlich rund 6.000 Bewerbungsgespräche organisiert inzwischen eine KI-Lösung die Terminfindung zwischen Personalbereich, Führungskraft und gegebenenfalls Betriebsrat. Sie gleicht die internen Outlook-Kalender ab und schlägt drei mögliche Termine vor, die den Bewerbenden zugesendet werden. Sobald ein Termin gefunden ist, wird dieser in die Kalender der internen Beteiligten eingetragen und der zuvor automatisch gesetzte Blocker entfernt. Auch beim Management der rund 3.000 bis 4.000 ständig ausgeschriebenen Stellen haben wir dank KI einen großen Sprung nach vorne gemacht. Für jede Stelle ist hinterlegt, wie viele Bewerber wir voraussichtlich benötigen und über welche Kanäle - online, Print, regional - wir die jeweilige Stelle bewerben. Ein Dashboard zeigt den Status jeder Stelle an und steuert auch das Marketingbudget. Haben sich für eine Position bereits genügend Personen beworben, wird das verbleibende Marketingbudget automatisch auf weniger nachgefragte Stellen umgeleitet. So sparen wir Geld und können die Jobs im Schnitt schneller besetzen als früher.
Jann Oetken: Effizienzsteigerungen durch künstliche Intelligenz in der HR-Funktion sind insbesondere für deutsche Unternehmen ein wichtiger Treiber. Bei amerikanischen Unternehmen beobachten wir häufig eine andere Motivation: Sie wollen mit Hilfe von KI bessere Entscheidungen treffen – zum Beispiel im Bereich Recruiting. Gewinnt dieser Aspekt auch bei Ihnen an Bedeutung?
Martin Seiler: Tatsächlich liegt unser Schwerpunkt derzeit noch vor allem auf der Effizienz. Aber das ändert sich schon. Künstliche Intelligenz ist im Personalbereich überall dort relevant, wo komplexe Sachverhalte vorliegen, die auf den ersten Blick nicht erfasst werden können und bei denen man schnell an Kapazitätsgrenzen stößt. Ein Beispiel dafür, wie wir KI nicht nur zur Effizienzsteigerung, sondern auch zur Komplexitätsreduktion nutzen, ist der Einsatz von KI zur Analyse unserer Personalentwicklung. Traditionell stützen wir uns hier auf Funktionsbeschreibungen und Einstufungen aus Tarifverträgen, doch es gibt viele informelle Kompetenzen und Expertisen, die damit nicht erfasst sind. Mit KI erhalten wir ein genaueres Bild von unseren Mitarbeitenden und können bei der Einsatzplanung die besten Teams für die jeweiligen Aufgaben zusammenstellen. Zudem ist es mit Hilfe von KI möglich, den Verlust von Fachwissen durch altersbedingtes Ausscheiden frühzeitig zu erkennen, um rechtzeitig Qualifizierungsprogramme und Rekrutierungspläne zu entwickeln. Der qualitative, inhaltliche Aspekt bei der Beschreibung von Kompetenzen gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Jann Oetken: Das ist auch unsere Erfahrung. Beobachten Sie, dass KI die Unternehmenskultur grundsätzlich verändert?
Martin Seiler: Ja, sehr gerne erzähle ich mein Lieblingsbeispiel zum Wandel der Esskultur. Unsere Kantinen sind auf Betreiben der Belegschaft inzwischen KI-unterstützt. Die KI nutzt zum einen die Wetterdaten an den Standorten und erstellt so regional angepasste Speisepläne. Zum anderen verwendet sie Anwesenheitsdaten aus den Gebäuden, um den Besuch in den Kantinen abzuschätzen. Unser Essen ist attraktiver geworden und wir sind nachhaltiger, weil wir gezielter kochen und weniger Abfall haben. Über das Essensthema hinaus: KI verändert unsere Unternehmenskultur, weil sie von uns den Mut abverlangt, etwas auszuprobieren – auch mit dem Risiko des Scheiterns. Dieses Ausprobieren und Trial-and-Error entspricht nicht der traditionellen Herangehensweise vieler deutscher Unternehmen, die Veränderungen zunächst einmal pilotieren und ausgiebig testen wollen, bevor sie in die Fläche gehen. Die neue und die alte Kultur zusammenzuführen, ist eine wesentliche Führungs- und Transformationsaufgabe, die auch in der Personal- und Führungskräfteentwicklung berücksichtigt werden muss.
Constanze Schweinsteiger: Haben Sie dazu schon erste Ideen oder Einsichten, wie Sie da das Thema Führung weiterentwickeln wollen?
Martin Seiler: Wenn ich ganzheitlich auf den Personalbereich blicke, sehe ich zwei große Themen, auf die wir uns stärker fokussieren sollten: zum einen das Thema Digitalisierung und KI, zum anderen das Thema Begleitung von Transformationsprozessen durch Führungskräfte. Bei Letzterem geht es nicht nur darum, die Bedürfnisse der Mitarbeitenden zu kennen, Mut zu machen und den Veränderungsprozess eng zu begleiten. Führungskräfte müssen auch verstehen, was sie mit einer Transformation an Veränderung auslösen, und sie müssen Verantwortung für deren Geschwindigkeit übernehmen. Unsere Führungskräfteakademie adressiert genau diese Kompetenzfelder - ohne die eine Transformation letztlich nicht gelingen kann. Hier haben wir aber sicher noch Luft nach oben. Auch intern stellen wir unsere Organisation entsprechend auf. Wir haben direkt bei mir angesiedelt einen neuen Bereich geschaffen, der sich mit Digitalisierung, IT und KI im Personalbereich beschäftigt. Damit unterstreichen wir die Bedeutung des Themas und stellen gleichzeitig eine enge Verzahnung mit der IT sicher. Gleichzeitig stärken wir das Thema Veränderungsmanagement – insbesondere mit Blick auf den Wandel von Berufen und Arbeitsbedingungen.
Constanze Schweinsteiger: Wie verändern sich Führungskarrieren in einem Umfeld, das von Trial-and-Error sowie schnellen Veränderungszyklen mit häufig neuen Aufgabenzuschnitten geprägt ist? Kann es beim klassischen Karrierepfad in einer vertikalen Hierarchie überhaupt noch bleiben?
Martin Seiler: Den wird es nach wie vor geben, vor allem in einem so großen Unternehmen der kritischen Infrastruktur wie unserem. Aber es wird insgesamt agiler und unsere Fachexperten-Karriere ist insbesondere für IT- und KI-Spezialistinnen und Spezialisten ein guter Weg. Grundsätzlich legen wir großen Wert darauf, unsere Teams möglichst vielfältig zusammenzusetzen. Unsere Mitarbeitenden verfügen über umfassendes Know-how und wertvolle Erfahrungen im Bahnbetrieb. Wir fördern dabei gezielt den Austausch zwischen erfahrenen, jüngeren und ganz neuen Mitarbeitenden, um den Wissenstransfer zu unterstützen. Diese Mischung ist ein Gewinn für jedes Team: Die einen bringen Agilität und digitale Themen ein, die anderen Erfahrung und Fachwissen. Vielfalt spielt eine entscheidende Rolle, und wir setzen auf Interdisziplinarität. Wenn wir über die Integration von KI und anderen Themen sprechen, dann tun wir das auf breiter Ebene und nicht nur mit der IT-Brille. Wir müssen uns alle mit KI beschäftigen. Auf der anderen Seite verändern wir die Positionierung dieser Themen in der Organisation: Wir machen sie wichtiger. Viele Aufgaben – sei es das oben genannte Beispiel aus der Werkstatt oder das aus der Fahrplanerstellung – werden dadurch inhaltlich aufgeladen und spannender, was die Attraktivität der Arbeit insgesamt steigert. Heute ist es oft wichtiger, eine sinnstiftende Arbeit mit Gestaltungsmöglichkeiten zu haben, als nur Karriere zu machen.
Jann Oetken: Aus unserer Erfahrung rückt auch die Arbeitsplatzsicherheit oft in den Hintergrund .
Martin Seiler: Sicherheit bleibt wichtig und hat bei der DB auch eine gute, lange Tradition mit einer sehr starken Sozialpartnerschaft. Aber wir sind heute auch mit anderen Themen konfrontiert. Heute beschäftigen sich die jungen Menschen zunehmend mit der Frage, ob die Arbeit für sie Sinn ergibt. Ich glaube, dass wir diese Frage nach dem sogenannte Purpose überzeugend beantworten können: Die Mobilitätswende mitzugestalten, Nachhaltigkeit umzusetzen und Teil von etwas Neuem zu sein, macht uns attraktiv.
Constanze Schweinsteiger: Das heißt also, dass die klassische Karriere um eine neue Vielfalt ergänzt und künftig auch anders motiviert sein wird?
Martin Seiler: Ja, das stimmt. Wir haben nach wie vor Hierarchien und verschiedene Ebenen. Allerdings ändert sich die Wertigkeit der Tätigkeiten, insbesondere in den genannten Bereichen. Sie gewinnen an Bedeutung, was wir bereits merken. Wir ziehen bei der Bahn neue Mitarbeitende von außen an, die genau das spannend finden: die Mitarbeit an innovativen Projekten. Beispielsweise haben wir bis Ende 2024 die 70 Kilometer lange Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Frankfurt und Mannheim von Grund auf saniert. Dabei gab es verschiedene Teilprojekte, die einzelnen Mitarbeitenden zugeordnet waren. In solchen Projekten ist Power drin, unsere Leute hängen sich rein und haben Spaß.
Constanze Schweinsteiger: Zurück zum Thema künstliche Intelligenz: Inwieweit löst diese auch Ängste aus und wie gehen Sie damit um? Können Sie uns ein paar Einblicke in Ihre Lösungsansätze geben, die helfen, Ängste abzubauen?
Martin Seiler: Alles Neue und Fremde kann zunächst Sorgen - manchmal auch Ängste - auslösen: Schaffe ich das? Kann ich mithalten? Ähnliche Ängste gab es auch vor 30 Jahren, als E-Mails eingeführt wurden, das Internet aufkam und die Digitalisierung einen Schub erlebte. Beim Thema KI haben wir von Anfang an den Schulterschluss mit dem Konzernbetriebsrat gesucht: Was ist KI? Was kann KI? Welche unterschiedlichen Formen gibt es? Diese Phase des Austauschs war entscheidend, damit beide Seiten lernen, dass wir noch lange nicht alle Antworten haben und dass die Entwicklung gerade erst beginnt. Ein konkretes und sehr gutes Ergebnis war die Entwicklung unseres eigenen Bahn-GPT, das sich von den öffentlichen Systemen unterscheidet: Unsere Daten bleiben geschützt und intern, und wir lernen in einem geschlossenen Raum. Das ermöglicht es den Mitarbeitenden, sich und das System auszuprobieren. Schritt für Schritt können so Ängste abgebaut werden.
Constanze Schweinsteiger: Messen Sie beispielsweise bei neu eingeführten KI-Tools auch die Effekte bzw. Erfolge der Maßnahmen? Gibt es da eine klassische, erfolgsbasierte Fortschrittsmessung?
Martin Seiler: Selbstverständlich halten wir das nach, wobei unser Fokus weiterhin auf Effizienz liegt. Es geht darum, wie wir Dinge besser, schneller und mit weniger Aufwand erledigen können. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt, Stichwort Fachkräftemangel, und die Wirtschaftlichkeit verfolgen wir das Ziel, mit weniger Mitarbeitenden mindestens gleich viel oder mehr zu erreichen. Wenn wir Effizienzen heben, kann der Personalbedarf teilweise reduziert oder verlagert werden. Ein Praxisbeispiel hierzu: 80 Prozent aller Durchsagen am Bahnhof werden heute von einer Computerstimme gemacht. Vor einigen Jahren haben das noch Menschen übernommen. Es ist wichtig, frühzeitig zu erkennen, inwieweit wir für die betroffenen Mitarbeitenden andere Jobs finden können. Dafür nutzen wir unseren internen Arbeitsmarkt, eine eigene Gesellschaft, die sich um die Vermittlung kümmert. Für mich wäre es ein großer Fehler, wenn wir uns nur auf die neuen und die ausscheidenden Mitarbeitenden konzentrieren würden, dabei sind die vorhandenen Mitarbeitenden – etwa 150.000 bis 200.000 – der weitaus größere Teil. Die müssen wir qualifizieren und bei den neuen Themen mitnehmen. Auch das ist ein wichtiger Aspekt bei der strategischen Personalplanung.
Jann Oetken: Das ist eine Riesenaufgabe – auch für andere Unternehmen. Bei so vielen Themen: Wie schaffen Sie es, den Fokus zu behalten? Das KI-Spielfeld ist ja extrem groß.
Martin Seiler: Wir sammeln die Themen und priorisieren sie zunächst nach folgenden Fragen: Was ist praktisch sinnvoll? Was wollen wir erreichen? Was bringt uns weiter? Eine klare Priorisierung ist notwendig, weil nicht alles gleichzeitig umgesetzt oder in jeder Größenordnung erprobt werden kann. Diese Prioritäten fließen in unsere Handlungsschwerpunkte ein, die wir jährlich festlegen. Im HR-Board, also meinem Führungskreis, gibt es eine klare Mitsprache bei den Fokusthemen. Wir entscheiden gemeinsam, welche Projekte wir weiterverfolgen und welche nicht. Für uns ist es sehr wichtig, dass wir mit dem Thema KI klare Werte verbinden. Das Thema soll nicht theoretisiert werden, sondern für die Menschen greifbar gemacht werden. Es muss klar und transparent sein, welche KI-bezogenen Inhalte bereits stattfinden. Dazu haben wir mit unserem Konzernbetriebsrat eine Rahmenvereinbarung abgeschlossen, die unsere Prozesse beschreibt. Diese hat auch außerhalb der Bahn sowohl bei beim Industrieverband BDI, als auch beim Gewerkschaftsbund DGB große Aufmerksamkeit erregt, weil wir uns hier sehr fortschrittlich aufgestellt haben.
Constanze Schweinsteiger: Zum Schluss ein letzter Satz, Herr Seiler: Was würden Sie der HR-Community als starke Botschaft zum Thema KI mit auf den Weg geben?
Martin Seiler: Habt den Mut zum Ausprobieren. Insbesondere den Führungskräften möchte ich zurufen: Geht das Thema mit viel Energie an und lasst zu, dass auch mal etwas nicht hundertprozentig funktioniert.
Constanze Schweinsteiger / Jann Oetken: Herzlichen Dank für das Gespräch.