Die Entwicklung von Indiens biometrischem Aadhaar ID-Programm

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Die Entwicklung von Indiens biometrischem Aadhaar ID-Programm

9. August 2018

Wie Indien das weltweit größte biometrische Ausweis-Projekt umsetzt

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von Neelima Mahajan

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Eine Milliarde Menschen in Rekordzeit registrieren. Um das indische Aadhaar-Ausweisprogramm zum Erfolg zu führen, musste Nandan Nilekani nicht nur zukunftsweisende Technik einsetzen, sondern auch politische Unwägbarkeiten durchsteuern.

Ein einzelnes Land? Nein, Indien ist mehr. Es ist ein Staat, der aus vielen Ländern zusammengewebt wurde. Ein kompliziertes Geflecht von verwirrenden Widersprüchen. Hier gibt es beides: die vierthöchste Zahl an Milliardären in der Welt. Aber auch abgrundtiefe Armut. Ein so kompliziertes Land zu regieren, ist eine gewaltige Herausforderung, vor allem, weil sich vermeintliche Gewissheiten im Handumdrehen ändern können. Die Volkszählung von 2011 ergab, dass jedes Jahr geschätzte 139 Millionen Inder von einem Teil des Landes in einen anderen wandern, was es schwierig macht, diese sich ständig verändernde Bevölkerung im Auge zu behalten.

Bislang fehlte in Indien ein landesweites Ausweissystem. Es gab zwar verschiedene Ausweispapiere, aber keines davon war universell einsetzbar. Nur wer ins Ausland reisen wollte, besorgte sich einen Pass. Wer Steuern zahlte, erhielt eine sogenannte PAN-Karte, ähnlich einer deutschen Steuernummer. Und wer wählen ging, beantragte einen Wahlausweis. Und keines dieser Dokumente ist von großer Bedeutung für die rund 270 Millionen Menschen, also rund 20% der Bevölkerung, die mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen müssen. Das Dokument, das sie am ehesten besitzen, ist eine "Ration Card", ein Relikt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie gewährt Menschen mit niedrigem Einkommen einen Anspruch auf subventionierte Lebensmittel, Benzin und andere Produkte. Wohl kaum ein richtiger Ausweis, zudem oft missbraucht.

"Je schneller man etwas ins Laufen bekommt, desto geringer ist die Gefahr, dass jemand auf dem Weg dahin etwas kaputt macht."
Portrait of Nandan Nilekani

Nandan Nilekani

Mitgründer von Infosys und Architekt von Aadhaar

Es war die Stunde von Nandan Nilekani, Mitgründer von Infosys, einem der Unternehmen, die die Speerspitze der indischen IT-Revolution bildeten. "Seattle hat Bill. Bangalore hat Nandan", schrieb der Autor Tom Friedman. Es war ein Gespräch mit Nilekani, das Friedman zu seinem berühmten Buch "The World is Flat" inspirierte. Nilekani und das Unternehmen, das er aufzubauen half, sind beispielhaft für die Widersprüche, die in Indien herrschen: Eine IT-Branche von Weltrang arbeitet Hand in Hand mit Systemen und Prozessen, die ins 19. Jahrhundert gehörten.

Das erste Ziel für Aadhaar war die Integration

In der Hoffnung, daran etwas zu ändern, sprang Nilekani im Jahr 2009 in die ihm unbekannten Gewässer der indischen Bürokratie und wurde Vorsitzender der UIDAI (Unique Identification Authority of India), einer Regierungsbehörde, die Aadhaar umsetzen sollte – das weltweit größte Programm zur Einführung eines nationalen biometrischen Ausweises. Heute, fünf Jahre später, ist er wieder Vorsitzender von Infosys. Aber wie er Aadhaar ins Leben rief, ist eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden.

Sie begann damit, dass Nilekani Ziele und Probleme definierte. Das erste Ziel war die soziale Einbindung aller Inder. "Durch eine Ausweis-Plattform, die online ist und die man im gesamten Land umhertragen kann, versetzen wir Menschen in die Lage, ihr Leben voranzubringen", sagt Nilekani. Das zweite Ziel war ein fiskalisches: Immer mehr staatliche Programme richteten sich auf individuelle Ansprüche wie Arbeitslosenversicherung, Gesundheitsversorgung, Renten und Stipendien.

Die Herausforderung bestand darin, in Rekordzeit eine narrensichere Identität für 1,3 Milliarden Menschen zu schaffen

Aadhaar war ein kühnes Experiment. Oft gab es kein Basis-Dokument, auf das man hätte aufbauen können, etwa eine Geburtsurkunde. Auf dem Land wurden oft nicht einmal Geburten registriert, und so war es für viele Inder das erste Mal, dass sie einen offiziellen Nachweis ihrer Identität erhielten. Nilekani musste ein System errichten, das einen eindeutigen Identitätsnachweis für Indiens 1,3 Milliarden Menschen erzeugen konnte, und das in Rekordzeit. "Das war ein Projekt von beispielloser technologischer Raffinesse", sagt Nilekani. "Wir mussten eine belastbare Methode entwickeln, mit der man Personen identifizieren und gleichzeitig sicherstellen konnte, dass keine Person mehr als eine Nummer beantragen konnte." Darum verwendete UIDAI biometrische Deduplizierung: ein digitales Abbild eines Menschen anhand von Daten. In diesem Fall durch zehn Fingerabdrücke, die Iris beider Augen und ein Foto. "Bis dahin beinhaltete die weltweit größte Deduplizierungsdatenbank etwa 100 Millionen Einträge. Wir gingen in einem Schritt von 100 Millionen auf gut eine Milliarde. Das war echtes Neuland."

Nandan Nilekani

Nandan Nilekani war 1981 einer der Gründer von Infosys, einem der bedeutendsten IT-Unternehmen Indiens. 2009 wurde er Leiter des indischen Ausweisprogramms Aadhaar. 2017 kehrte er zu Infosys zurück, als nicht-geschäftsführender Vorsitzender.

Nilekani verstand, dass er sich beeilen musste. Indien ist eine Demokratie, alle fünf Jahre gibt es Wahlen. Regelungen und Projekte sind oft an politische Motive gebunden; Initiativen, die eine Regierung startet, versenkt oft die nächste. "Je schneller man etwas ins Laufen bekommt, desto geringer ist die Gefahr, dass jemand auf dem Weg dahin etwas kaputt macht." Nilekani ist auf globalen Veranstaltungen wie dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Hause, er schüttelt Hände mit den wichtigsten Entscheidern der Welt. Er ist ein versierter Netzwerker und weiß, wie man Geschäfte zum Abschluss bringt. Diese Fähigkeit nutzte er, um das Aadhaar-Projekt auf den Weg zu bringen. In den 14 Monaten bis zum Launch der Aadhaar-Plattform hatte er einen vertrauenswürdigen CEO herangezogen, der sich ums Tagesgeschäft kümmert, während Nilekani selbst das komplexe Drumherum managte.

Da Indien föderal aufgebaut ist, musste Nilekani nicht nur die Erwartungen der Zentralregierung zufriedenstellen, sondern auch mit Ministern und Funktionären der 29 indischen Bundesstaaten und sieben Unionsgebieten zusammenarbeiten. Darüber hinaus traf er Vertreter aller zentralen Regierungsstellen, der Reserve Bank of India, der Weltbank, von multinationalen Institutionen und von großen Unternehmen. "Indem wir all diese Menschen ansprachen und von den Vorteilen unseres Projekts überzeugten, schafften wir es, einen landesweiten Konsens um die Plattform herumzubauen", sagt er.

Zudem musste er die Struktur der Plattform einfach halten, ja minimal, um den Roll-out zu beschleunigen. "Die Versuchung ist groß, zu viele Probleme mit einer einzigen Lösung bewältigen zu wollen. Eine überfrachtete Lösung wird durch ihr eigenes Gewicht erdrückt. Darum haben wir unsere Lösung als ein Schichtmodell aufgebaut", sagt Nilekani. Die erste Aufgabe: Jeder soll einen Ausweis bekommen.

Aadhaar hat auch korrupte Ökosysteme beendet

Das System wurde so konzipiert, dass es in einem überschaubaren Zeitrahmen eine Milliarde Menschen erreichen und pro Tag bis zu 1,5 Millionen Menschen registrieren konnte. Um diese Zahlen bewältigen zu können, schuf UIDAI ein Ökosystem von Partnern. Diese übernahmen mit erprobten Technologie- und Prozessvorgaben die eigentliche Registrierung, während UIDAI die zentrale Nummernvergabestelle blieb. "In Spitzenzeiten hatten wir rund 35.000 Registrierungsstellen im ganzen Land", sagt Nilekani. Im Jahr 2014 hatten sich bereits 600 Millionen Menschen über Aadhaar registriert, bis März 2017 lag die Zahl bei 1,14 Milliarden – das entspricht rund 85% der indischen Bevölkerung.

Im Jahr 1985 klagte indiens Premierminister Rajiv Gandhi darüber, wie korrupt das Wohlfahrtsystem des Landes sei. Von jeder Rupie, die die Regierung für die Armen ausgebe, erreichten nur 15% die vorgesehenen Empfänger. Drei Jahrzehnte später hatte sich die Situation nicht wesentlich verbessert. Aber seit der Einführung von Aadhaar sind viele dieser Korruptionssümpfe ausgetrocknet. Heute sind die Bankkonten von mehr als 500 Millionen Indern mit ihrem Aadhaar-Ausweis verknüpft. Geld, das an sie überwiesen wird – sei es von der Regierung oder irgendjemand anderem –, wird ihnen nun innerhalb von 48 Stunden gutgeschrieben. "Durch den Einsatz von Technik können wir sicherstellen, dass jede einzelne Rupie an den Menschen geht, der sie bekommen soll", sagt Nilekani. Nach Schätzungen spart Aadhaar der Regierung allein durch das Beseitigen von Betrugsmöglichkeiten bis zu 9 Milliarden US-Dollar. Die Einführung von Aadhaar kostete hingegen gerade einmal 1,5 Milliarden US-Dollar.

Neben der Effizienzverbesserung bei der Vergabe von staatlichen Subventionen zeigten sich weitere Vorteile. Aadhaar gab der Finanzdienstleistungsbranche einen kräftigen Schub, indem es den Ausweisinhabern die Eröffnung von Bankkonten, den Kauf von Investmentfonds oder auch den Abschluss von Versicherungen dramatisch erleichterte. Auch der Kauf von SIM-Karten hat sich vereinfacht: Für einen großen Teil der Inder war dieser scheinbar profane Akt zuvor unmöglich – aus dem schlichten Grund, dass sie keinen gültigen Identitätsnachweis erbringen konnten. Es gibt unzählige Einsatzmöglichkeiten für Aadhaar. Es könnte beispielsweise an das indische Gesundheitssystem angekoppelt werden, um Krankenakten in Krankenhäusern, Labors und Apotheken zu digitalisieren und miteinander zu verknüpfen. Ebenso könnte es im Bildungssektor dazu dienen, akademische Leistungen und Abschlüsse zu verifizieren.

Die Ausgrenzung ist ein heißes Thema, derzeit beim Obersten Gerichtshof

Es gibt aber auch bedenken. Allen voran die Sorge, dass ein orwellscher Staat kreiert werde, in dem die Regierung jede Bewegung seiner Bürger nachverfolgen kann. Nilekani weist dies zurück: "Bei der Gestaltung von Aadhaar wurde viel Wert auf Datenschutz gelegt. Wir haben eine föderale Struktur aufgebaut: Die Finanzdaten sind nur für das Finanzsystem zugänglich, die Gesundheitsakten nur für das Gesundheitssystem." Darüber hinaus dürften die Daten nicht weitergeleitet werden, außer, es lägen außergewöhnliche Gründe dafür vor, etwa Fragen der nationalen Sicherheit.

Eine andere heiß diskutierte Frage ist die, ob Menschen ohne Ausweis Gefahr laufen, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Ursprünglich sollte die Registrierung bei Aadhaar auf Freiwilligkeit beruhen, de facto ist sie obligatorisch geworden, weil sie mit so vielen alltäglichen Dingen verbunden ist. Derzeit befasst sich der Oberste Gerichtshof Indiens mit diesem Thema. "Ich glaube, dass Aadhaar allumfassend sein wird", sagt Nilekani. "Aber für soziale Zuwendungen, bei denen Aadhaar zur Authentifizierung verwendet wird, muss darauf geachtet werden, dass es einen Notfallmechanismus gibt, um sicherzustellen, dass die Leistung dem Empfänger nicht verweigert wird. Das muss in allen Systemen sichergestellt werden, die Aadhaar einsetzen."

Nilekani ist optimistisch. Er sieht Aadhaar als eine Basis für Innovationen wie das Internet oder GPS. "Das GPS beantwortet die Frage: Wo bin ich? Und Aadhaar beantwortet die Frage: Wer bin ich?", erklärt er. "Es gibt so viele Innovation, die auf einer Kombination aus Internet und GPS beruhen. Unternehmen wie Google, Facebook, Uber und Apple existieren alle wegen dieser grundlegenden Technologien." Nilekani glaubt, dass es noch viele innovative Einsatzmöglichkeiten geben wird. "Aber der Staat muss dafür sorgen, dass Privatsphäre und Rechte der Bürger geschützt bleiben", sagt er. "Auf welche Weise dies geschieht, wird darüber entscheiden, ob Aadhaar Indien tatsächlich dabei hilft, ins nächste Jahrhundert zu springen. Aber schon jetzt hat es diesem komplexen Land ein Gefühl dafür gegeben, was eine neue Identität ihm bietet."

Über die Autorin
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Neelima Mahajan
Neelima Mahajan ist Chefredakteurin von Think:Act. Sie hat seit zwei Jahrzehnten als Wirtschaftsjournalistin für verschiedene Publikationen in Indien und China gearbeitet, unter anderem war sie Mitglied des Gründungsteams der indischen Ausgabe des Magazins Forbes. Von 2010 bis 2011 war sie Gaststudentin an der University of California in Berkeley und Stipendiatin der Bill und Melinda Gates Foundation für ein Reportageprojekt über Afrika. Majahans Leidenschaft sind Management-Themen. Sie hat zahlreiche renommierte Managament-Vordenker, Nobelpreisträger und Unternehmenslenker interviewt. 2010 erhielt sie den Polestar Award for Excellence in IT and Business Journalism, einen der renommiertesten Journalistenpreise Indiens.
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Veröffentlicht Juli 2018. Vorhanden in
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