Die Herausforderung bestand darin, in Rekordzeit eine narrensichere Identität für 1,3 Milliarden Menschen zu schaffen
Aadhaar war ein kühnes Experiment. Oft gab es kein Basis-Dokument, auf das man hätte aufbauen können, etwa eine Geburtsurkunde. Auf dem Land wurden oft nicht einmal Geburten registriert, und so war es für viele Inder das erste Mal, dass sie einen offiziellen Nachweis ihrer Identität erhielten. Nilekani musste ein System errichten, das einen eindeutigen Identitätsnachweis für Indiens 1,3 Milliarden Menschen erzeugen konnte, und das in Rekordzeit. "Das war ein Projekt von beispielloser technologischer Raffinesse", sagt Nilekani. "Wir mussten eine belastbare Methode entwickeln, mit der man Personen identifizieren und gleichzeitig sicherstellen konnte, dass keine Person mehr als eine Nummer beantragen konnte." Darum verwendete UIDAI biometrische Deduplizierung: ein digitales Abbild eines Menschen anhand von Daten. In diesem Fall durch zehn Fingerabdrücke, die Iris beider Augen und ein Foto. "Bis dahin beinhaltete die weltweit größte Deduplizierungsdatenbank etwa 100 Millionen Einträge. Wir gingen in einem Schritt von 100 Millionen auf gut eine Milliarde. Das war echtes Neuland."
Nandan Nilekani
Nandan Nilekani war 1981 einer der Gründer von Infosys, einem der bedeutendsten IT-Unternehmen Indiens. 2009 wurde er Leiter des indischen Ausweisprogramms Aadhaar. 2017 kehrte er zu Infosys zurück, als nicht-geschäftsführender Vorsitzender.
Nilekani verstand, dass er sich beeilen musste. Indien ist eine Demokratie, alle fünf Jahre gibt es Wahlen. Regelungen und Projekte sind oft an politische Motive gebunden; Initiativen, die eine Regierung startet, versenkt oft die nächste. "Je schneller man etwas ins Laufen bekommt, desto geringer ist die Gefahr, dass jemand auf dem Weg dahin etwas kaputt macht." Nilekani ist auf globalen Veranstaltungen wie dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Hause, er schüttelt Hände mit den wichtigsten Entscheidern der Welt. Er ist ein versierter Netzwerker und weiß, wie man Geschäfte zum Abschluss bringt. Diese Fähigkeit nutzte er, um das Aadhaar-Projekt auf den Weg zu bringen. In den 14 Monaten bis zum Launch der Aadhaar-Plattform hatte er einen vertrauenswürdigen CEO herangezogen, der sich ums Tagesgeschäft kümmert, während Nilekani selbst das komplexe Drumherum managte.
Da Indien föderal aufgebaut ist, musste Nilekani nicht nur die Erwartungen der Zentralregierung zufriedenstellen, sondern auch mit Ministern und Funktionären der 29 indischen Bundesstaaten und sieben Unionsgebieten zusammenarbeiten. Darüber hinaus traf er Vertreter aller zentralen Regierungsstellen, der Reserve Bank of India, der Weltbank, von multinationalen Institutionen und von großen Unternehmen. "Indem wir all diese Menschen ansprachen und von den Vorteilen unseres Projekts überzeugten, schafften wir es, einen landesweiten Konsens um die Plattform herumzubauen", sagt er.
Zudem musste er die Struktur der Plattform einfach halten, ja minimal, um den Roll-out zu beschleunigen. "Die Versuchung ist groß, zu viele Probleme mit einer einzigen Lösung bewältigen zu wollen. Eine überfrachtete Lösung wird durch ihr eigenes Gewicht erdrückt. Darum haben wir unsere Lösung als ein Schichtmodell aufgebaut", sagt Nilekani. Die erste Aufgabe: Jeder soll einen Ausweis bekommen.
Aadhaar hat auch korrupte Ökosysteme beendet
Das System wurde so konzipiert, dass es in einem überschaubaren Zeitrahmen eine Milliarde Menschen erreichen und pro Tag bis zu 1,5 Millionen Menschen registrieren konnte. Um diese Zahlen bewältigen zu können, schuf UIDAI ein Ökosystem von Partnern. Diese übernahmen mit erprobten Technologie- und Prozessvorgaben die eigentliche Registrierung, während UIDAI die zentrale Nummernvergabestelle blieb. "In Spitzenzeiten hatten wir rund 35.000 Registrierungsstellen im ganzen Land", sagt Nilekani. Im Jahr 2014 hatten sich bereits 600 Millionen Menschen über Aadhaar registriert, bis März 2017 lag die Zahl bei 1,14 Milliarden – das entspricht rund 85% der indischen Bevölkerung.
Im Jahr 1985 klagte indiens Premierminister Rajiv Gandhi darüber, wie korrupt das Wohlfahrtsystem des Landes sei. Von jeder Rupie, die die Regierung für die Armen ausgebe, erreichten nur 15% die vorgesehenen Empfänger. Drei Jahrzehnte später hatte sich die Situation nicht wesentlich verbessert. Aber seit der Einführung von Aadhaar sind viele dieser Korruptionssümpfe ausgetrocknet. Heute sind die Bankkonten von mehr als 500 Millionen Indern mit ihrem Aadhaar-Ausweis verknüpft. Geld, das an sie überwiesen wird – sei es von der Regierung oder irgendjemand anderem –, wird ihnen nun innerhalb von 48 Stunden gutgeschrieben. "Durch den Einsatz von Technik können wir sicherstellen, dass jede einzelne Rupie an den Menschen geht, der sie bekommen soll", sagt Nilekani. Nach Schätzungen spart Aadhaar der Regierung allein durch das Beseitigen von Betrugsmöglichkeiten bis zu 9 Milliarden US-Dollar. Die Einführung von Aadhaar kostete hingegen gerade einmal 1,5 Milliarden US-Dollar.
Neben der Effizienzverbesserung bei der Vergabe von staatlichen Subventionen zeigten sich weitere Vorteile. Aadhaar gab der Finanzdienstleistungsbranche einen kräftigen Schub, indem es den Ausweisinhabern die Eröffnung von Bankkonten, den Kauf von Investmentfonds oder auch den Abschluss von Versicherungen dramatisch erleichterte. Auch der Kauf von SIM-Karten hat sich vereinfacht: Für einen großen Teil der Inder war dieser scheinbar profane Akt zuvor unmöglich – aus dem schlichten Grund, dass sie keinen gültigen Identitätsnachweis erbringen konnten. Es gibt unzählige Einsatzmöglichkeiten für Aadhaar. Es könnte beispielsweise an das indische Gesundheitssystem angekoppelt werden, um Krankenakten in Krankenhäusern, Labors und Apotheken zu digitalisieren und miteinander zu verknüpfen. Ebenso könnte es im Bildungssektor dazu dienen, akademische Leistungen und Abschlüsse zu verifizieren.