Aufbruch ins Unbekannte
Diese Ausgabe von Think:Act beschäftigt sich damit, wie Sie Ihr Unternehmen für die Unwägbarkeiten wappnen können, die vor uns liegen.
von Steffan Heuer
Illustrations von MUTI
Fotos von iStockphoto
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Der Homo sapiens ist nach der vorherrschenden Meinung die einzige Spezies, die über "die Zukunft" nachdenkt. Nur ist er darin nicht besonders gut, behauptet Nassim Nicholas Taleb in seinem 2007 erschienenen Bestseller Der Schwarze Schwan. Darin argumentiert der frühere Broker, dass "die Welt geprägt ist von Extremen, vom Unbekannten und dem höchst Unwahrscheinlichen [...], wohingegen wir uns mit Smalltalk aufhalten und auf das Bekannte konzentrieren, auf die Wiederholung". Diese Ausreißer bezeichnet er als "Schwarze Schwäne"– nach den seltenen Vögeln, von deren Existenz man in Europa nichts ahnte, bis Reisende sie im 17.Jahrhundert in Australien entdeckten.
Talebs Schwarze Schwäne haben drei Eigenschaften: Sie sind selten, haben drastische Folgen und im Nachhinein sind ihre Ursachen für Experten mühelos erklärbar. Ob Börsencrashs, die Anschläge vom 11.September oder der Zusammenbruch der Sowjetunion – rückbetrachtet erscheint jedes dieser Extremereignisse erwartbar. Taleb richtete seine Kritik darum vor allem an die Zukunftsforscher, die nach seiner Ansicht nicht anerkennen wollen, wie fehlerhaft ihre Arbeit ist.
Der Ausbruch der Finanzkrise von 2008 machte Taleb zu einem berühmten Autor und begehrten Vortragsredner. Aber er ist keine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte menschlicher Versuche, im Unvorhersehbaren einen Sinn zu erkennen. Taleb steht in einer langen Tradition von Vordenkern, die mehr oder weniger wissenschaftliche Ansätze ausprobierten, um Antworten auf die Frage zu erhalten, wo die nächste Katastrophe lauert – oder auch die nächste große Chance.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg das Interesse an Methoden, mit denen sich Zukunftsszenarien entwickeln lassen, die plötzlich auftretende Ereignisse einbeziehen. Die Angst vor der atomaren Auslöschung und der Aufstieg der Computertechnik machte "Futurologie" zu einem anerkannten Beruf mit einem dringenden Auftrag.Theodore Gordon zählte zu den Futurologen der ersten Stunde. In den 1970er-Jahren entwickelte er die Trend-Impact-Analyse (TIA). Dafür kombinierte er quantitative Methoden mit Experteneinschätzungen zu dem, was die Welt noch an Verrücktheiten auf Lager hat. Heute ist er 90 Jahre alt und Senior Fellow am Millennium Project, einem Thinktank, der unter anderem Szenarien für Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie entwickelt.
"Es gibt kein perfektes Modell", sagt Gordon, "denn das Entscheidende im Verlauf der Evolution sind die plötzlichen Überraschungen, die Blitze und Sternenexplosionen. "Der Schwarze Schwan war ein wichtiges Buch, weil es die Menschen dazu gebracht hat, Diskontinuitäten wahrzunehmen und ihre entscheidende Rolle anzuerkennen." Er gibt zu: "Diese Wirkung hatte TIA nicht." Vor Gordon gab es andere, die Regierungen, Unternehmen und die Gesellschaft für die Bedeutung von Ausnahmeereignissen sensibilisieren wollten. Was sich in all den Jahrzehnten nicht geändert hat: Mit Schwarzen Schwänen beschäftigen sich vor allem weiße Männer, die in den herrschenden Machtstrukturen verankert sind.
Dieser Mangel an Diversität beeinträchtigt unser Denken über Ausnahmeereignisse und Handlungsoptionen, sagt der Schweizer Zukunftsforscher Gerd Leonhard: "All diese Forschungsarbeiten sind zweifellos wichtig und bauen aufeinander auf, aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, wer diese Forschung finanziert. Wir müssen weg von der rein akademischen und militärisch-industriellen Zukunftsforschung.
Die Forschungslandschaft werde zwar diverser, sagt Leonhard, sie brauche aber dringend ein noch viel breiteres Spektrum von Einflüssen – weil die Zukunft in einem immer höheren Tempo auf uns zurast. Er spricht lieber von "Grauen Schwänen", weil wir viele der künftigen Disruptionen bereits sehen, von Klimawandel und mächtigen Technologien wie KI über das Verschmelzen von Mensch und Maschine bis hin zur Gentechnik und zur Götterdämmerung eines Wirtschaftssystems, das vom Wachstum besessen ist. "Durch alles, was wir tun oder lassen, erschaffen wir unsere Zukunft", sagt Leonhard. "Erst dahinter lauern die Dinge, von denen wir wirklich nichts wissen können, wie Kometeneinschläge und Besuche von Außerirdischen."
Eine besonders fesselnde und inklusive Methode, Ausreißer der Geschichte zu überdenken, sind Spiele, die diverse Perspektiven einbeziehen. Zum Beispiel "Afro-Rithms from the future", ein Kartenspiel, in dem es vor allem um Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit geht. Entwickelt hat es Lonny Brooks, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaften an der California State University in Hayward bei San Francisco.
Die Spieler können sich Zukunftsszenarien ausdenken, die "weniger auf weißer Überlegenheit beruhen und mehr auf Geschichten, die aus einer schwarzen Perspektive erzählt werden", sagt Brooks. "Schwarze mussten immer schon Innovatoren und Futuristen sein – sie stellten sich Welten vor, in denen sie Erlösung finden. Darauf können wir zurückgreifen, wenn wir Szenarien entwickeln. Die Karten der Spieler sind unterteilt in "Spannun-gen", "Inspirationen" und "Systemische Zustände". Für ein Spiel, das im Jahr 2030 spielt, schlug ein Teilnehmer vor, Tätowierungen einzuführen, mit denen Menschen ihre Abstammung von Sklaven nachweisen und Reparationszahlungen einfordern könnten.
Brooks hat das Spiel in den letzten drei Jahren weiter verfeinert und arbeitet gerade an einer online-tauglichen Version, die vielleicht sogar mit Virtual-Reality-Brillen gespielt werden kann. Zu den ersten Interessenten gehören Google, der Versicherungskonzern Blue Shield und die UNESCO. Brooks ist überzeugt davon, dass Inklusion zu besseren Vorhersagen und Zukunftsmodellen führt: "Wir könnten dieses Spiel gut in Schulen und Gemeinden einsetzen. Marginalisierte Gruppen könnten damit ihre Visionen für die Zukunft artikulieren, die dann in kulturelle Aktivitäten und Gesetzgebungsinitiativen überführt werden."
Vielleicht sind Crowdsourcing-Ansätze, kombiniert mit den noch nie dagewesenen Mengen von Daten und Analyse-Werkzeugen, über die wir heute verfügen, die beste Vorbereitung auf all die Pandemien und Klimawandel-Folgen, die uns noch bevorstehen. Wie im Wortsinne zukunftsgewandtes Denken aussieht, beschreibt der Autor Kim Stanley Robinson in seinem 2020 erschienenen Science-Fiction-Roman The Ministry for the Future. Die Aufgabe des "Zukunftsministeriums" ist so einfach wie ehrfurchtgebietend: "die Vertretung künftiger Generationen und der Schutz aller jetzt oder zukünftig lebenden Geschöpfe."
Diese Ausgabe von Think:Act beschäftigt sich damit, wie Sie Ihr Unternehmen für die Unwägbarkeiten wappnen können, die vor uns liegen.