Quantum-Technologien erobern unser Leben

Think:Act Magazin Sinn
Quantum-Technologien erobern unser Leben

26. Juli 2018

Wie die Quantenphysik Computersysteme revolutioniert

Artikel

von Janet Anderson

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Verglichen mit Quantenberechnungen ist die Leistung herkömmlicher Computer ein Witz. Steht uns tatsächlich eine Revolution bevor?

Es ist kalt im Inneren des Zylinders. Nahe am Nullpunkt, wie im Weltraum. Ein dunkles Vakuum, in denen sich Qubits befinden, die Bausteine für "Quantencomputing". Eine neue Klasse von Computern, die Möglichkeiten jenseits unserer Vorstellungskraft eröffnen.

Die Berechnungen von Quantencomputern basieren auf den sehr speziellen Prinzipien der Quantenmechanik, die es nicht nur zulassen, dass sich ein Teilchen gleichzeitig in zwei Zustanden befindet, der sogenannten "Superposition", sondern auch, dass zwei Teilchen sich augenblicklich gegenseitig beeinflussen, die sogenannte "Verschränkung". Einstein fand diese Idee "gruselig", aber diese Prinzipien werden nun genutzt, um Rechnen in eine andere Liga zu katapultieren. Quantencomputer wendeten lediglich Naturgesetze an, die immer vorhanden seien, aber meist verborgen blieben, sagt Anthony Annunziata. "Dadurch können sie Informationen ganzheitlich verarbeiten." Annunziata ist stellvertretender Direktor von IBM Q, einem Netzwerk aus Unternehmen, Startups und Wissenschaftszentren, die eine gemeinsame Mission verfolgen: Quanten aus dem Labor heraus in die Welt zu bringen. In den vergangenen Jahren konstruierten Wissenschaftler immer leistungsfähigere Maschinen, um Qubits zu erzeugen und zu manipulieren. Unternehmen wie IBM, Microsoft, Intel, Google, Alibaba und Baidu sind nur einige, die Milliarden von Dollars in die Forschung stecken, um belastbare Systeme für reale Anwendungen zu entwickeln.

Mehr Rechenleistung – mehr Kapazität für Problemlösungen

Grund für die derzeitige Aufregung ist, dass Quantencomputer das Potenzial haben, erstmals leistungsfähiger zu werden als herkömmliche Computer. Das ermöglicht, hochkomplexe Berechnungen durchzufuhren, die bisher nicht möglich waren. Der neue Typ Computer kann dies durch Superposition und Verschränkung erreichen: Wenn sich ein Qubit gleichzeitig in zwei Zustanden befinden kann, können zwei Qubits sich gleichzeitig in bis zu vier Zustanden befinden, drei Qubits in acht Zustanden und so weiter. 250 interagierende Qubits können eine Rechenleistung liefern, die der von 1080 klassischen Bits entspräche – also mehr Informationsbits, als es Atome im Universum gibt. Die Fortschritte der vergangenen Jahre waren rasant. Erst gab es Rechner mit 5 Qubits, dann mit 20 und 50, und jüngst verkündete Google sogar, einen 72-Qubit-Chip entwickelt zu haben.

"Quantencomputing war lange Zeit nichts weiter als eine Fingerübung für Wissenschaftler."

Doug Finke

Chefredakteur
The Quantum Computing Report

Getrieben wird die Entwicklung vom Wunsch, Probleme zu lösen, die herkömmliche Computer nicht bewältigen können. Etwa dieses: Auf wie viele verschiedene Arten kann man mehrere Personen an einen Tisch setzen? Schon für die Platzierung von zehn Menschen gibt es 3,6 Millionen verschiedene Möglichkeiten. Und die Zahl der Losungen wachst exponentiell für jeden Menschen, der hinzukommt. Da sich Qubits in mehreren Zustanden gleichzeitig befinden können, kann man mehrere Optionen gleichzeitig prüfen. Herkömmliche Computer müssen diese Aufgaben nacheinander erledigen, was oft viel zu lang dauert, um praktischen Nutzen zu haben. Quantencomputer aber sind bestens geeignet für jegliche Art von Berechnungen, bei denen durch unterschiedliche Kombinationen viele verschiedene Losungen herauskommen können – und damit für typische Herausforderungen von Branchen wie Logistik, Pharmaindustrie, Finanzen oder Energieversorgung.

Das Mooresche Gesetz, dass Computer immer kleiner und schneller werden, stößt inzwischen an seine Grenzen. Jetzt liegen die Hoffnungen darauf, dass Quantensysteme den Stab übernehmen und uns helfen werden, die Komplexität molekularer und chemischer Wechselwirkungen zu verstehen. Das wurde es ermöglichen, Medikamente zu entwickeln, ohne kostspielige und risikoreiche Praxistests durchführen zu müssen. Neue Materialien, die wir brauchen, um drängenden Herausforderungen wie dem Klimawandel zu begegnen. Oder Methoden, um ausreichend Nahrung für die wachsende Welt Bevölkerung zu produzieren.

Kurzes Zeitfenster: Nach 90 Mikrosekunden bricht ein Qubit zusammen

Quantencomputing hat einen Wendepunkt erreicht, so IBM-Mann Annunziata: "Die Rechenleistung, die die nächste Generation erbringen kann, ist vielleicht zu groß, um sie auf einem klassischen Computer abzubilden." Aber IBM will den "Quantenvorteil" erreichen – den Punkt, an dem ein Quantencomputer eine praktische Anwendungsmöglichkeit hervorbringt, die die Fähigkeiten eines herkömmlichen Computers überschreitet. Dazu werden Chips benötigt, in denen zwischen 50 und 100 Qubits stecken, vielleicht mehr.

Ein Hindernis dabei sind "Geräusche", anders formuliert: alles, was die Stabilität der Qubits beeinträchtigen kann. Aus diesem Grund werden sie vor Vibrationen geschützt und abgekühlt – fast bis auf den absoluten Nullpunkt. Jede Störung kann dazu fuhren, dass die Qubits "dekoharent" werden, aus der Superposition herausfallen und nicht mehr funktionieren, was Rechenfehler nach sich ziehen kann. Eine weitere Herausforderung ist die Kürze der Qubit-Koharenzzeit, das heißt die Zeitspanne, in der ein Qubit eine Anfrage bearbeiten kann, bevor es aus der Superposition herausfällt. IBM sieht sich an der Spitze dieser Entwicklung, mit Koharenzzeiten von durchschnittlich 90 Mikrosekunden. Das reicht aus, um Berechnungen durchzufuhren. Doch es gibt Luft nach oben. "Um die Probleme, die uns interessieren, zu lösen, müssen wir die Qubits vor Geräuschen schützen und die Auswirkungen von Rechenfehlern unterdrücken", sagt Annunziata. "Die zentrale Frage lautet: Können wir diese Ziele ohne den hohen Aufwand erreichen, der bislang dafür erforderlich ist?"

Hohe Erwartungen: Noch ist unklar, ob Quantencomputer – wie hier das D-Wave-System – dem Hype um sie gerecht werden.
Hohe Erwartungen: Noch ist unklar, ob Quantencomputer – wie hier das D-Wave-System – dem Hype um sie gerecht werden.

Erste kommerziell nutzbare Anwendungen innerhalb der nächsten zwei Jahre

Viele Technologieriesen arbeiten an dieser Herausforderung. Microsoft etwa forscht an der Entwicklung einer Programmiersprache für Quantencomputer. Google versucht mit der NASA, Quantenberechnungen mit künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen zu verbinden. Und der chinesische Suchmaschinen-Gigant Baidu hat 10 Milliarden Dollar in ein Forschungszentrum gesteckt.

"Wir haben noch viel Arbeit vor uns, bis die Systeme stabil und kosteneffizient arbeiten werden."

Max Riedel

Projektmanager
EU Leuchtturmprojekts für Quantentechnologie

D-Wave, einer der ersten Quantencomputer, der für reale Anwendungen zur Verfügung stand, wurde jedoch vom kanadischen Start-up D-Wave Systems entwickelt. Und das Start-up Rigetti Computing mit Sitz in Kalifornien bietet universell einsetzbare Cloud-basierte Quantencomputer und einen umfassenden Werkzeugkoffer zur Softwareentwicklung an.

Auch Regierungen mischen mit: Zwischen Peking und Schanghai wurden Quantenkommunikationskanale mit Glasfasern verlegt. Die chinesische Regierung zeigt besonderes Interesse an dem Gebiet der Quantenkryptografie – und erregt so die Aufmerksamkeit von Sicherheitsexperten. Die Chance – oder Bedrohung – besteht darin, dass Quantencomputer schnell genug sind, um Verschlüsselungscodes zu knacken. Diese Sorge darüber hat wiederum die Forschung auf dem Gebiet der quantenresistenten Kryptografie angespornt. Das Ziel: eine hackersichere Kommunikation über ein Quanteninternet.

Die Europäische Union hat angekündigt, in den nächsten zehn Jahren rund 1,2 Milliarden Dollar in die Erforschung von Quantenanwendungen zu investieren, in den Bereichen Berechnung, Kommunikation, Simulation und Sensorik. Der letzte Aspekt werde oft übersehen, so Max Riedel, Teil des Teams, das die Details des EU-Programms ausarbeitet. Genau darin sind die Anwendungen am weitesten fortgeschritten. "Das französische Start-up Muquans hat Präzisionsquantensensoren zur Gravitationsmessung entwickelt – das erste kommerzielle Gravimeter seiner Art", sagt er. "Das kann beispielsweise bei der Öl- und Gasexploration zur Suche nach Hohlraumen eingesetzt werden."

Der Einsatz der ersten wirklich nützlichen Maschinen ist wohl noch ein paar Jahre entfernt. Die Frage lautet: wie viele Jahre? „Wir befinden uns in einer interessanten Zeit: Wir gehen von der Phase der Forschung in die der wirtschaftlichen Nutzung", sagt Doug Finke, Chefredakteur von "The Quantum Computing Report". "Quantencomputing war lange Zeit nichts weiter als eine Fingerübung für Wissenschaftler. Viele bezweifelten, dass es jemals funktionieren wurde." Finke glaubt, dass die Technologie innerhalb der nächsten zwei Jahre ein kommerziell relevantes Problem lösen wird, das mit herkömmlichen Berechnungen nicht hatte gelöst werden können.

Werden Quantencomputer eines Tages reguläre Rechner ersetzen? "Quantencomputer müssen vor Licht, Hitze, Magnetwellen, elektromechanischen Emissionen und vielem anderen geschützt werden, damit die Qubits nicht zusammenbrechen. Darum werden sie immer groß und sperrig bleiben", sagt Finke. Wir werden also keine Quantencomputer verwenden, um E-Mails zu versenden oder im Internet zu surfen. Quantencomputing wird im Hintergrund arbeiten.

Werden sie Geschäftsmodelle umwerfen? Finke halt auch das für unwahrscheinlich. "Aber Unternehmen werden die Technologie nutzen, um neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln", sagt er. Maschinelles Lernen, Computerchemie, Logistik und die Optimierung von Finanzportfolios gehören für ihn zu den vielversprechendsten Anwendungen. "Wir haben noch viel Arbeit vor uns, bis die gerate stabil und kosteneffizient arbeiten", sagt Riedel. "Es ist ein junges Feld – der erste Quantenalgorithmus, den man real einsetzen konnte, wurde 1994 entdeckt. Verglichen mit der Entwicklung herkömmlicher Computer befinden wir uns in den 50er- oder 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als Computer ganze Raume ausfüllten."

Übersteigerte Erwartungen seien für Forscher, die seit Jahrzehnten in dem Bereich tätig sind, die größte Sorge, sagt Riedel: "Wenn der Hype nachgelassen hat, werden die Menschen erkennen, dass es eine vielversprechende Technologie ist. Was wir jetzt tun müssen, ist, die Probleme der Menschen mit den Lösungen dieser Probleme in Einklang zu bringen."

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Janet Anderson
Janet Anderson schreibt für Unternehmen verschiedener Sektoren über Nachhaltigkeit und Innovation. Dabei hat sie die ganze Wertschöpfungskette im Blick.
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Veröffentlicht Juli 2018. Vorhanden in
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