Geopolitik 2.0
Diese Ausgabe von Think:Act zeigt Unternehmen Wege auf, wie sie in einer Welt, deren geopolitische Bedingungen sich verändern, erfolgreich bleiben.
von Janet Anderson
Satellitenbilder von FleetMon und Getty Images
Der Schiffsverkehr ist das Rückgrat der Globalisierung: Mehr als 80% aller gehandelten Waren werden über Wasserwege transportiert. Doch entlang dieser Routen befinden sich zahlreiche Engpässe. Mit wachsendem Verkehr steigt der Druck auf diese Flaschenhälse – und die Suche nach Wegen, sie zu umschiffen.
Dieser Stau versetzte die gesamte Weltwirtschaft in Schockstarre. Sechs Tage lang steckte im März 2021 das Containerschiff "Ever Given" im Suezkanal fest und blockierte so den Weitertransport von Waren im Wert von fast 775 Millionen US-Dollar. Auf Satellitenbildern lässt sich gut erkennen, wie schmal die Wasserstraße ist, die seit 1869 das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbindet. Durch die menschengemachte Abkürzung von den Märkten Asiens und Afrikas nach Europa fließen heute 12% der weltweiten Handelsgüter. Ein einziges fehlgesteuertes Schiff reichte aus, um zu zeigen, wie abhängig die globale Wirtschaft vom freien Fluss der maritimen Transporte ist – und wie schnell deren Ordnung aus den Fugen geraten kann.
Wo: Ägypten
Schmalste Stelle: 55 Meter breit
Güteraufkommen und Schiffe: 2020 transportierten 18.829 Schiffe 1,17 Milliarden Tonnen an Gütern. Trotz Coronakrise war dies nur unwesentlich weniger als 2019.
Engpass-Risiko: 12% des Welthandels passieren den Kanal.
Über jahrtausende folgte der maritime Handel den vorherrschenden Meeresströmungen und Windrichtungen, sagt Jean-Paul Rodrigue, Professor für Geografie an der Hofstra University im amerikanischen Hempstead und Autor von The Geography of Transport Systems: "Mit dem Aufkommen der Dampfschiffe wurden Schiffsrouten festgelegt. Seitdem haben sie sich nicht verändert."
In jüngster Zeit wird viel über neue Wasserstraßen diskutiert, beispielsweise durch die Arktis. Aber eine solche Route aufzubauen ist nicht leicht. "Eine Arktisroute würde aus mehreren Gründen nicht funktionieren", sagt Rodrigue: "Man bräuchte spezielle Schiffe, und selbst damit wären nur saisonal Transporte möglich. Und wenn das Eis so weit geschmolzen wäre, dass die Route das ganze Jahr über profitabel betrieben werden könnte, wäre Profitabilität wohl unsere geringste Sorge, denn dann wären viele Küstenstädte im Meer versunken."
Entlang der bestehenden maritimen Handelsrouten, von denen wir so abhängig sind, existieren zahlreiche Engpässe, die ein zunehmend größer werdendes Problem für den globalen Transport darstellen. Jeder Punkt, an dem sich ein Stau bilden kann, ist ein solcher Engpass: Meerengen, Kanäle, Häfen, Brücken. Die meisten waren früher strategische Assets für die Länder, von denen sie kontrolliert wurden. Der Suezkanal wurde gebaut, um europäische Staaten besser mit ihren Kolonien zu verbinden. Mit dem Panamakanal wollten die USA ihre Ost- und Westküste miteinander verbinden. Heute werden diese Assets von unabhängigen Institutionen gemanagt, die wie Unternehmen nach kommerziellen Prinzipien agieren. Entsprechend groß ist deren Interesse daran, dass der Verkehr reibungslos fließt.
Aber nicht alle Engpässe wurden von Menschen geschaffen. Unter den 14 bedeutendsten Flaschenhälsen des Welthandels belegt die Straße von Malakka den ersten Rang. Sie verbindet das Südchinesische Meer mit dem Indischen Ozean. Jedes Jahr passieren 40% des Welthandels oder 100.000 Schiffe diese Wasserstraße, die an ihrer schmalsten Stelle gerade mal 2,7 Kilometer breit ist.
Der fortschreitende globale Handel sorgt dafür, dass dieses Aufkommen stetig wächst. "Im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte ist der globale Handel nicht nur signifikant angewachsen", sagt Rodrigue,"er hat sich zudem verlagert: vom Atlantik hin zum Pazifik. Das erhöht den Druck auf die Engpässe."
"Je komplexer Versorgungsketten werden, desto verletzlicher werden sie", sagt Lars Lange, Generalsekretär der International Union of Marine Insurance (IUMI) in Hamburg."In China etwa ging einer der größten Häfen der Welt in einen Lockdown, weil ein einziger Mitarbeiter sich mit Covid-19 infiziert hatte." In der IUMI haben sich die maritimen Transportversicherer organisiert, die weltweit versuchen, die mit solchen Szenarien verbundenen Risiken zu berechnen und abzufedern.
Auch das Zusammenspiel von Natur und menschlichem Verhalten kann Engpässe verursachen. Als sich das Coronavirus verbreitete, konnten zeitweise 400.000 Seeleute ihre Schiffe nicht verlassen. Branchenexperten gehen davon aus, dass viele aufgrund solcher Erlebnisse auf kurz oder lang kündigen werden und so die Versorgungsketten noch anfälliger werden lassen.
Wo: Panama
Schmalste Stelle: 150 Meter breit
Güteraufkommen und Schiffte: 2020 transportierten 13.369 Schiffe 255,74 Millionen Tonnen an Gütern.
Engpass-Risiko: Ein Fünftel der globalen Sojabohnen- und ein Sechstel der globalen Maisexporte durchqueren den Kanal; der Großteil davon wird aus den USA oder Brasilien nach Asien verschifft.
Gleichzeitig können viele Häfen an der Westküste der USA den ansteigenden Warenverkehr kaum bewältigen, obendrein haben Dürren viele südamerikanische Binnenschifffahrtswege unpassierbar gemacht – was sich auf die weltweite Versorgung mit Getreide und Eisenerz auswirkt. Ganz zu schweigen vom Mangel an Containern. "Der internationale Handel wäre nicht möglich ohne finanziellen Rückhalt für Zeiten, in denen etwas schiefläuft", sagt Lange. "Dann kommen wir ins Spiel. Wir sehen uns selbst als Ermöglicher."
Langes Job ist es, Risikomodelle zu erstellen, das Eintreten künftiger Risiken zu kalkulieren und zu beraten, wie man ihnen aus dem Weg gehen kann. "Wir berücksichtigen die Größe der Schiffe, die Wetterlage, den Einfluss von Lotsen und wie häufig Schiffe Versicherungen in Anspruch nehmen", sagt Lange, "und dann berechnen wir mögliche Folgen." Welche Bergungsmöglichkeiten gibt es vor Ort? Kann das Schiff wieder gewassert werden? Kann die Fracht geschützt werden? Gibt es alternative Routen? Falls ja: Wie viel länger dauert dann der Weg? Und: Führen sie durch piratenverseuchte Gewässer?
Lage: Malaiische Halbinsel / Sumatra
Schmalste Stelle: 2,7 Kilometer breit
Güteraufkommen: 100.000 Schiffe jährlich, 40% des Welthandels
Engpass-Risiko: Durch die Straße von Malakka werden mehr als 25% der global gehandelten Sojabohnen und 20% des weltweit gehandelten Reises transportiert.
Die Folgen der Disruption sind so vielfältig, wie es die Güter sind, die durch die maritimen Arterien transportiert werden. Auch lokal begrenzte Schäden können Systeme zum Kollabieren bringen, weil bestimmte Güter nicht mehr exportiert werden können. Für manche Konsumenten kann das bedeuten, dass sie lediglich länger auf die Lieferung eines elektronischen Spielzeugs warten müssen, für andere Menschen kann es hingegen verheerende Konsequenzen haben, etwa für Menschen in armen Ländern, die auf Lebensmittellieferungen angewiesen sind. "Abhängig von Ausmaß und Länge der Störung, Wichtigkeit der Lieferkette und davon, welche Märkte auf beiden Seiten der blockierten Stelle betroffen sind, können sich weitreichende Spillover-Effekte und langfristige Auswirkungen auf Marktstabilität und Preise ergeben", sagt Richard King vom britischen Thinktank Chatham House. "Wenn der Nachschub knapp wird, kann das sogar Exportverbote zur Folge haben. Stecken verderbliche Lebensmittel fest, kann es passieren, dass der Nachschub vollständig versiegt."
Der Klimawandel ist die größte Gefahr für den Welthandel, sagt King: "Er wirkt sich auf Infrastrukturen aus, verursacht Dürren, Überschwemmungen und die Zunahme von Stürmen. Die Risiken kumulieren sich, etwa Sicherheitsprobleme und Konflikte, die geopolitische Spannungen auslösen können." Im schlimmsten Fall können klimabedingte Auswirkungen ganze Passagen blockieren. "Wenn mehrere der Hauptschlagadern von Osteuropa, Zentralasien, Nordamerika und Südostasien zur selben Zeit durcheinandergerüttelt werden und das mit Ernteausfällen zusammenfällt, erreicht eine bedeutende Menge der global transportierten Lebensmittel nicht mehr ihre Bestimmungsorte. Und das würde die Verletzlichsten von allen treffen.
Ob Endverbraucher oder Staaten, ob arm oder reich – alle haben ein Interesse daran, diese Risiken zu minimieren. In einigen Fällen sei dies eine reine Management-Frage, sagt Rodrigue: "Wenn zu viele Schiffe den Suezkanal anlaufen, könnte man Kunden dafür bezahlen lassen, dass sie die Infrastruktur nutzen können. In der Regel können Märkte sehr gut unterscheiden, was wichtig ist und was weniger." Doch einige Herausforderungen sind komplexer. "Die Zahl der Faktoren, die Lieferketten durcheinanderbringen können, ist atemberaubend, vom Klimawandel bis hin zu lokalen Streiks", sagt Rodrigue. "Es gibt eine vorhersagbare Unvorhersehbarkeit." Der beste Weg, dem zu begegnen, ist Resilienz: durch den Aufbau eines Systems mit Alternativen.
Die Hafeninfrastruktur muss ausgebaut werden und ärmere Länder sollten Lebensmittellagerung strategisch planen, sagt King. Zudem müssten die Versorgungsketten transparenter werden. "Das präzise Erfassen von Vorräten ist essenziell, damit die möglichen Engpass-Risiken mit echten Daten abgeglichen werden können", sagt King. "Leider muss oft erst eine Krise kommen, damit wir angemessen reagieren. Wahrscheinlich brauchen wir eine ganze Reihe von Schocks, die uns in die richtige Richtung stoßen. Hoffen wir, dass diese Schocks handhabbar sind und nicht wahrhaft katastrophal." Sicher ist: Wenn wir die wachsenden Bedrohungen unserer komplexen Versorgungsketten nicht anerkennen, ist ein Zusammenbruch keine Frage des Ob, sondern nur des Wann.
Diese Ausgabe von Think:Act zeigt Unternehmen Wege auf, wie sie in einer Welt, deren geopolitische Bedingungen sich verändern, erfolgreich bleiben.