Ex-IBM CEO Ginni Rometty über ihr Buch Good Power

Think:Act Magazin "KI neu denken"
Ex-IBM CEO Ginni Rometty über ihr Buch Good Power

15. Mai 2024

Hürden, die ein Mädchen nehmen musste, um ein leuchtendes Vorbild für sinnvollen Wandel zu werden

Interview

von Steffan Heuer
Fotos von Ysa Pérez

Ginni Rometty hat eines der mächtigsten Unternehmen der Welt geführt. In ihrem neuen Buch Good Power erzählt sie, wie ihre schwierige Kindheit dazu beitrug, ihren Einfluss sinnvoll einzusetzen, und wie sie an die Spitze von IBM gelangte.

Wenn Vorstände ihre Memoiren schreiben, beschreiben sie selten die schmerzhafteren Teile ihrer Vergangenheit. Dennoch beginnt Virginia "Ginni" Rometty, die ehemalige CEO von IBM, ihr neues Buch Good Power genau so. Das Mädchen aus Chicago arbeitete sich über 40 Jahre von ihrem Einstiegsposten als Systemmanagerin hoch. Sie wurde zunächst Head of Global Sales, Marketing und Strategy, bevor sie 2012 zur ersten weiblichen CEO des Traditionsunternehmens aufstieg. Ohne Vater aufzuwachsen, motivierte Rometty dazu, Macht für das Gute einzusetzen. "Ganz gleich, wie aussichtslos etwas scheint, können wir dennoch anderen und uns selbst Möglichkeiten eröffnen", verkündet sie. Im Interview mit Think:Act erläutert Rometty, die bei IBM bis 2020 CEO war, wie das Leitprinzip ihres Lebens entstanden ist: Widrigkeiten in Fürsprache zu verwandeln.

Porträtfoto von Ginni Rometty. Sie lächelt und schaut in die Kamera, hinter ihr sieht man Büroregale.
Ein neues Ziel: Ginni Rometty in ihrem Büro in Naples, Florida. Ihren Einfluss nutzt sie heute, um die Botschaft zu verbreiten: "Skills first" beim Einstellen, Lernen und Fortbilden.

Ihr Erbe als Wirtschaftskapitänin ist beeindruckend, Sie waren neun Jahre lang CEO eines Fortune-500-Unternehmens, und dennoch ist Ihr Buch kein Managementratgeber, sondern Ihre persönliche Geschichte geworden. Warum?

Good Power ist vielleicht kein traditionelles Wirtschaftsbuch. Nichtsdestotrotz habe ich überall Beispiele aus den Bereichen Wirtschaft, Karriere und Führung eingewebt. Wenn man verstehen will, wie ich meine Karriere gestaltet habe und wie ich viele Entscheidungen bei IBM getroffen habe, hilft es, zu verstehen, woher ich komme. Man kann das als "Memoiren mit Sinn" beschreiben. Denn ich schildere meine Erfahrungen durch die Linse von Ideen, die viel größer sind als ich.

Ginni Rometty

Ginni Rometty wurde 2012 die erste weibliche CEO von IBM. Während ihrer neunjährigen Transformations­bemühungen baute IBM ein 25 Milliarden US-Dollar schweres Hybrid-Cloud-Geschäft auf und etablierte sich als führend im Bereich KI und Quantencomputing. Für ihren lebenslangen Einsatz für Innovation erhielt sie 2019 den Edison Achievement Award.

Derzeit ist die 66-Jährige in mehreren Aufsichtsräten tätig und ist Mitvorsitzende von OneTen, einer Organisation, die sich der Qualifizierung, Einstellung und Förderung schwarzer Amerikaner verpflichtet hat.

Was bedeutet der Titel Ihres Buches?

Macht wird häufig negativ gesehen, weil so viele Menschen ihre Macht auf egoistische Weise missbrauchen, statt die Welt zu verbessern. Ich selbst mochte das Wort nie und habe es nie benutzt. Als ich dann aber über mein Leben sinnierte, fiel mir auf, wie oft ich meine eigene Macht dafür genutzt hatte, meiner Familie zu helfen, meinen Kunden und IBM. Ich erkannte, dass Macht nichts Schlechtes sein muss, um wirkmächtig zu sein.

Die drei großen Säulen Ihrer Erzählung sind ich, wir und uns. Wie verhalten sie sich im Macht-Kontext?

Ich glaube, dass unsere Macht mit der Zeit wächst. So wie wenn man einen Kiesel in einen Teich wirft, zieht auch unser Einfluss immer größere Kreise. Mit mehr Erfahrung entwickeln wir uns von der "Macht des Ich" zur "Macht des Wir" und zur "Macht des Uns". Wenn wir jung sind, sind wir egozentrischer. Wenn wir dann heranwachsen und mehr Verantwortung übernehmen, wird es unsere Aufgabe, mehr an das Wir zu denken. Unsere Handlungen haben Auswirkungen auf unsere Partner, unsere Kinder und die Menschen und Organisationen, mit denen wir arbeiten. Irgendwann können wir wirklich in großem Maßstab etwas Positives bewirken. Dann erweitert sich unsere Perspektive auf uns alle – vernachlässigte Gruppen, Gesellschaften, Länder, die Umwelt, unsere gemeinsame Welt. Das war meine Reise: vom Ich zum Wir und Uns.

Porträtfoto von Ginni Rometty. Sie lächelt und schaut in die Kamera, hinter ihr sieht man Büroregale und ein Bild.
Lernen durch Zusehen: Ginni Rometty lernte in ihrer Kindheit wertvolle Lektionen, als sie beobachtete, wie ihre Mutter auch unter schwierigen Bedingungen entschlossen war, weiterzukommen.

Hat Ihre schwierige Kindheit ohne Vater Sie darauf vorbereitet, zu führen?

Mein Vater war abwesend, lange bevor er uns verließ. Als ältestes Kind nahm ich in der Familie eine Führungsrolle ein und half meiner Mama, meine jüngeren Geschwister aufzuziehen. Ich übernahm also schon früh Verantwortung, was sich stark auf meinen Charakter auswirkte und damit auch auf mein Berufsleben. Als mein Vater weg war und wir kein Geld hatten, erlebte ich, wie meine Mutter den Mut fand, noch mal zur Schule zu gehen und Jobs zu finden, um unsere Miete und unser Essen zu bezahlen. Sie ließ nicht zu, dass mein Vater ihr Leben negativ bestimmte. Von ihr lernte ich, mich niemals von anderen bestimmen zu lassen. Diese Philosophie hat mich zu dem gemacht, was ich bin.

"Transformation erfordert immer auch die schwierige Entscheidung, was man bewahren und was man neu erfinden will."

Ginni Rometty

Mitvorsitzende
OneTen

Als CEO haben Sie den Wandel von IBM jahrelang verantwortet. Welche Lehren ziehen Sie daraus für die aktuellen Krisen unserer Zeit?

Erstens: Wenn wir anderen dienen wollen, gestalten wir den Wandel sinnvoll. Dazu müssen wir ihre Bedürfnisse vor unsere eigenen stellen oder zumindest parallel dazu. Bei IBM musste ich ein paar harte Entscheidungen fällen, die die Bedürfnisse vieler Interessengruppen erfüllten, auch wenn das zu Kritik an meiner Person führte.

Zweitens: Wir schaffen Wandel, wenn wir Menschen dazu inspirieren, Ziele zu verfolgen, an die sie wirklich glauben. Die Leute müssen die Transformation wollen, nicht verordnet bekommen. Ich habe den Mitarbeitern von IBM ehrlich erzählt, warum wir uns verändern mussten, und investierte gleichzeitig in ihre Fortbildung.

Drittens sollten wir nicht nur schauen, was sich ändern muss, sondern auch, was bleiben muss – Transformation ist nicht Neuerfindung. Im Falle von IBM brauchten wir neue technologische Plattformen für die Cloud und für KI. Aber keinen neuen Purpose. Sinn und Ziel von IBM waren immer, unseren Kunden unverzichtbare Services zu bieten, ihnen also komplexe, fundamentale Systeme zur Verfügung zu stellen. Ganz gleich welche Cloud-Technologie wir entwickeln würden, sie musste uns bloß weiterhin unabdingbar machen.

Welche Führungsqualitäten sind in Zukunft gefragt, und hat sich da etwas verändert?

Seien Sie in jeder Phase Ihrer Laufbahn ein olympischer Lerner. Das ist der beste Skill überhaupt. Bei IBM sollte das am Ende unser neues Einstellungskriterium werden: nicht tatsächliche Fertigkeiten, sondern eine Neigung zu lernen. Weil sich alles so schnell ändert.

Harte Entscheidungen lösen häufig Konflikte aus. Wie geht man damit am besten um?

Begrüßen Sie das! Entscheiden Sie, Konflikte nicht als Rückschritt zu sehen, sondern als Chance, den Status quo zu verbessern und Beziehungen zu stärken. Die eigene Energie sollte man lieber darauf verwenden, etwas aufzulösen, statt darüber zu brüten.

"Trau dich, Risiken einzugehen. Wenn wir weiterkommen und uns kontinuierlich verbessernwollen, werden wir uns dabei nie wohlfühlen, und das ist auch okay so."

Ginni Rometty

Mitvorsitzende
OneTen

Wie kann man wissen, wie viel Wandel zu viel wäre?

Transformation erfordert immer schwierige Entscheidungen, was man bewahren und was man neu erfinden will. Wenn man zum Beispiel in eine andere Art Job wechseln möchte, kann dieses Was dein Job sein, deine Branche oder dein Arbeitgeber. Aber man will sein Was nicht so weit ändern, dass man seine Werte an der Tür abgibt, indem man für eine Organisation arbeitet, an deren Mission man nicht glaubt. Wenn es um Transformation in einem Unternehmen geht, kann es sich beim Was um seine Produkte und Dienstleistungen handeln. Aber genau wie eine Person will auch eine Firma nicht ihre innersten Werte verlieren. So wie mir mal jemand sagte: "IBM wäre ein schreckliches Google und Google ein schreckliches IBM."

Außerdem ist das Wie genauso wichtig wie das Was. Wenn jemand den Job wechselt, geht er vielleicht noch mal an die Uni, um dazuzulernen. Wenn ein Unternehmen neue Produkte herstellen will, muss es vielleicht seine Leute fortbilden und ihnen neue Methoden beibringen. Kurz gesagt ist Transformation also nie alles oder nichts, sondern ein nuancierter Prozess mit dem Ziel, eine bessere Version von uns selbst zu werden.

Sie haben mal gesagt: "Wachstum und Wohlbefinden gehen nie zusammen."

Das sage ich seit Jahren. Ich habe das früh gelernt. Vor rund 20 Jahren wechselte mein damaliger Vorgesetzter in eine neue Position und empfahl mich für seinen Posten. Ich meinte zu ihm, ich bräuchte erst mehr Erfahrung. "Geh einfach zum Vorstellungsgespräch", antwortete er. Was ich tat, aber als man mir den Job anbot, zögerte ich erneut. Ich wollte erst mal mit meinem Mann darüber reden. An dem Abend hörte Mark mir also zu und sagte dann nur: "Meinst du, ein Mann hätte so geantwortet? Ich kenne dich, Ginni, in sechs Monaten wirst du mir erzählen, dass du bereit bist für die nächste Herausforderung." Mark ging es dabei nicht um geschlechterspezifische Unterschiede, sondern darum, sich angesichts eines Risikos dafür zu entscheiden, Selbstvertrauen zu beweisen. Am nächsten Morgen nahm ich die Beförderung an. Daraus habe ich gelernt, dass wir uns nie wohlfühlen werden, wenn wir uns kontinuierlich verbessern wollen, und das ist auch okay so.

Technologie verspricht oft Effizienzsteigerungen, birgt jedoch auch die Gefahr, Arbeitsplätze zu vernichten. Wie verändert sich die Welt der Arbeit?

Technologie wird Arbeitsplätze vernichten, aber sie wird auch Arbeitsplätze verändern und neue schaffen. Die Belegschaft darauf vorzubereiten, im digitalen Zeitalter erfolgreich zu sein, ist eine Priorität und Leidenschaft von mir. Der öffentliche wie der private Sektor tragen beide die Verantwortung dafür, den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Unternehmen, Hochschulen, Regierungen, gemeinnützige Organisationen, Akademien und andere Akteure spielen alle eine Rolle dabei, sicherzustellen, dass die meisten eine gut bezahlte Anstellung finden können.

Vor Jahren prägte ich den Begriff "New-collar", um auf die neuen Arbeitskategorien hinzuweisen, die durch Technologien entstehen. Der Begriff beschreibt Arbeitsplätze, die weder den typischen manuellen Jobs von "Blue-collar"-Arbeitern zugeordnet sind noch den administrativen "White-collar"-Rollen. In gewisser Weise ersetzen "New-collar"-Arbeitsplätze die Jobs mittleren Einkommens. Solche warten heute darauf, besetzt zu werden. Sie erfordern aber keine traditionelle Bildung wie vierjährige Studienabschlüsse.

"Man kann eben nicht sein, was man nicht sieht."

Ginni Rometty

Mitvorsitzende
OneTen

Wie sollten Unternehmen, das Bildungssystem und die Gesellschaft auf die drohenden Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt reagieren?

Ein weiterer von mir geprägter Begriff, "skills first", bezieht sich auf die systemischen Veränderungen, die notwendig sind, um sich neuen Technologien anzupassen. Zum Beispiel müssen Arbeitgeber darüber nachdenken, wie sie rekrutieren und befördern. Sie müssen aufhören, vierjährige Abschlüsse für Jobs zu verlangen, in denen man das nicht braucht. Die weitverbreitete Überqualifizierung führt dazu, dass Millionen talentierte Menschen, die nie eine Hochschule besucht haben, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. In einer Skills-first-Welt werden Arbeitgeber zu "Entwicklern" im Gegensatz zu einfachen "Käufern" von Talenten.

Im Gegenzug benötigen wir von unseren Bildungseinrichtungen und Regierungen neue Zugänge zum Arbeitsmarkt, damit Menschen die Fähigkeiten erlernen können, die Unternehmen suchen.

Immer wenn eine weibliche CEO ein Buch schreibt, wird die Frage nach ihrer Vorbildfunktion für andere Frauen gestellt. Wie sehen Sie das?

Während meines Aufstiegs sah ich mich nicht als Vorbild für andere Frauen, und ich versuchte auch nicht, eines zu sein … Ich wollte einfach für meine Arbeit bewertet werden, nicht für mein Geschlecht. Dann, eines Jahres, nachdem ich eine Rede gehalten hatte, kam ein Mann aus dem Publikum auf mich zu. Ich nahm an, er hätte eine Frage oder einen Kommentar. Stattdessen sagte er: "Ich wünschte, meine Tochter hätte hier sein können." Es war ein Moment der Erkenntnis: Ich war ein weibliches Vorbild, ob ich das wollte oder nicht.

Mir wurde bewusst, dass ich durch diese Brille betrachtet wurde. Ich begann, mich als Unterstützerin anderer Frauen zu sehen, die aufsteigen wollten und Jobs anstrebten, die von Männern dominiert werden. Wenn das schon jemand anderes geschafft hat, kann ihnen das Selbstvertrauen geben und den Glauben, es schaffen zu können. Man kann eben nicht sein, was man nicht sieht.

ÜBER DEN AUTOR
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Steffan Heuer
Steffan Heuer lebt in Berlin und Kalifornien. Seit mehr als zwei Jahrzehnten schreibt er über Technologie, Wirtschaft und Kultur des Silicon Valley, unter anderem für The Economist, die MIT Technology Review und brandeins.
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