Führungskompetenz in der Ära multipler Krisen

Think:Act Magazin "In Dekaden denken"
Führungskompetenz in der Ära multipler Krisen

17. Februar 2025

Wie Zusammenhalt uns hilft, schwierige Herausforderungen gemeinsam zu meistern

Artikel

von Stefan Stern
Fotos von Michael Brennan

Mehr Flexibilität ist der Schlüssel zur Bewältigung multipler Krisen. Die Aufgaben der Gegenwart erscheinen gewaltig. Aber eins wird zunehmend deutlich: Aus den dunklen Zeiten heraus schaffen wir es nur mit kooperativen Ansätzen.

Wie können Sie sich eigentlich sicher sein, dass Ihr Chef kein KI-generierter Doppelgänger ist? Oder präziser ausgedrückt: Ob die WhatsApp-­Nachricht, die Sie gerade aus einer etwas obskuren Quelle erhalten haben, gefolgt von einer Sprachnachricht, die sehr nach Ihrem Vorgesetzten klang, wirklich echt ist oder digital manipuliert wurde? Das ist keine belanglose Frage: Die britische ­Times berichtete kürzlich, dass "mindestens fünf FTSE-100-­Unternehmen und ein FTSE-250-Unternehmen in diesem Jahr Opfer von derartigen Betrugsversuchen geworden sind". Und das waren nur die gemeldeten Fälle.

Auf Augenhöhe: Die wachstums­stärksten Unter­nehmen setzen auf kooperative Strukturen. Dadurch sind sie anpassungs­fähiger.
Auf Augenhöhe: Die wachstums­stärksten Unter­nehmen setzen auf kooperative Strukturen. Dadurch sind sie anpassungs­fähiger.

Die Herausforderungen im Geschäftsleben der realen Welt sind groß genug, auch ohne dass die virtuelle Welt Managern zusätzliches Kopfzerbrechen bereitet. Aber in Zeiten, in denen wir von einer globalen "Polykrise" sprechen, ist es wenig verwunderlich, wenn Führungskräfte, die sich Anregungen aus verschiedenen Quellen suchen, anfälliger für Betrugsversuche werden. "Wir durchleben eine historische Phase", meint Gianpiero Petriglieri, Associate Professor für Organisationsverhalten an der französischen Wirtschaftshochschule ­INSEAD. "Führungskräfte laufen Gefahr, vom Ausmaß der Herausforderungen überwältigt zu werden", sagt ­Laura Empson, Professorin für das Management professioneller Service-Firmen an der Bayes Business School der City, University of London.

In der Ankündigung eines Wirtschaftsverlags fanden sich unlängst Titel wie Toolkit for Turbulence, Adaptive Resilience, Strategy in the Age of Disruption und Leading with Vulnerability. Die goldenen Zeiten sind also offenbar noch nicht zurück. Aber was macht das Wesen dieser Führungskrise aus und wie können wir sie überwinden? Nach den Worten von Herminia Ibarra, Professorin für Organisationsverhalten an der London Business School, haben wir es mit komplexen Situationen zu tun, in denen es keine eindeutigen Antworten gibt. "Bei der Suche nach Lösungen kommt es auf die Intelligenz und das Engagement aller an, nicht allein auf die Führungskräfte", sagt sie.

Für Ibarra sind Lern- und Anpassungsfähigkeit die beiden zentralen Tugenden in turbulenten Zeiten. Sie nennt fünf wichtige Führungsqualitäten, die Firmen helfen könnten:

Siehe unten:

Herminia Ibarras fünf zentrale Führungskompetenzen, die Organisationen beim Lernen und Anpassen helfen
1. Netzwerken

Bauen Sie ein breites Netzwerk auf und knüpfen Sie neue Kontakte. Gehen Sie mit jemandem essen, den Sie noch nicht so gut kennen!

2. Zusammenarbeiten

Fördern Sie die psychische Stabilität Ihrer Mitarbeiter und ermutigen Sie sie, offen ihre Meinung zu äußern. Weniger "vehementes Werben" und unterwürfiges Verhalten gegenüber den Vorgesetzten verbessern die Teamleistung.

3. Coachen

Fördern Sie durch offene Gespräche die Entwicklung anderer und widerstehen Sie dem Drang, sie zu belehren!

4. Firmenkultur verbessern

Fördern Sie zukunftsfähige Geschäftsmethoden und verabschieden Sie sich von solchen, die Ihr Unternehmen nicht mehr voranbringen.

5. Verbindung aufbauen

Entwickeln Sie Empathie und eine authentische Führung. "Heute zählt mehr denn je, wer Sie sind und wie Sie sich mit anderen verbinden", betont Ibarra.

Das ist eine hilfreiche Checkliste. Jedoch gibt es bereits zahlreiche Beispiele von Managern, die erfolgreich sind. In mehreren Blog-Beiträgen für Forbes legt der Management-Autor Steve Denning dar, dass manche der erfolgreichsten Führungskräfte schon seit geraumer Zeit ein paar grundlegende Dinge richtig machen. Er beginnt mit dem bekannten, aber oft vernachlässigten Gedanken, den der Management-Pionier Peter Drucker populär gemacht hat: Unternehmen haben ein zentrales Ziel: Kunden zu finden und sie zu behalten. "Die am schnellsten wachsenden Unternehmen sind nicht mehr auf starre Methoden und Prozesse, hierarchische Kontrolle, Output und Gewinne fixiert. Diese Art der Unternehmensführung hat eine zu geringe Anpassungs- und Innovationsfähigkeit und wenig engagierte Mitarbeiter zur Folge", sagt Denning. "Wachstumsstarke Unternehmen haben sich eine dynamische Denkweise zu eigen gemacht, die mehr Wertschöpfung, Mitarbeiterförderung, kollaborative Netzwerke, prozessgestützte Ergebnisse und schnelleres Wachstum erzeugt. Die Macht ist zu den Kunden gewandert, sie haben heute mehr Alternativen und Informationen." Diese Unternehmen haben verinnerlicht, dass sie ihre Kunden verstehen und begeistern müssen.

Eine Welt im Krisenmodus braucht vielleicht mehr kollektive Führung.

Aber die Umsetzung neuer Konzepte verläuft nicht immer reibungslos. Meist gilt es, sich zunächst mit den Fragen der traditionellen Unternehmenskultur auseinanderzusetzen. Und früher oder später muss man das klassische Dilemma der "Lücke zwischen Wissen und Handeln" überwinden, wie die Stanford-Professoren Robert Sutton und Jeffrey Pfeffer es genannt haben. An diesem Punkt sind alle Augen auf die Führungskräfte gerichtet: Was werden sie tun, um die Probleme zu lösen? Und wer trägt letztlich die Verantwortung? Das ist aber weder eine faire noch sinnvolle Frage. Denn laut Laura Empson sind die wirklich großen Probleme, mit denen wir es in der Wirtschaft zu tun haben, einfach "zu kompliziert, um von einzelnen Führungskräften gelöst zu werden". Eine Welt im Krisenmodus braucht vielleicht mehr kollektive Führung.

Empson widmete einen großen Teil ihrer akademischen Karriere der Erforschung professioneller Dienstleister, darunter Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater. Bei ihrer Arbeit konnte sie die Vorteile kooperativer Führungsmodelle untersuchen, also Konzepte, die in einem starken Kontrast zum Mythos des heroischen Einzelkämpfers an der Firmenspitze stehen. "Kollektive Führung ist ein Gegenmittel zu dieser Legende", sagt sie und ergänzt: "In Krisenzeiten sehnen sich Menschen nach starken Führungspersönlichkeiten." Daraus schöpft auch der politische Populismus seine Kraft. Populisten "schaffen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit", betont sie. "Aber heute arbeiten wir in komplexen Netzwerken zusammen: nicht-hierarchisch und generationenübergreifend. Das löst die klassische Trennung in Anführer und Gefolgsleute auf. Wir leben in einer Welt, in der zugleich jeder und keiner eine Führungskraft ist."

Ein großes Netz: Führungsmodelle und Unternehmen werden oft als Maschinen beschrieben. Besser wäre es, sie als vernetzt zu betrachten, mit Menschen hinter jedem Monitor.
Ein großes Netz: Führungsmodelle und Unternehmen werden oft als Maschinen beschrieben. Besser wäre es, sie als vernetzt zu betrachten, mit Menschen hinter jedem Monitor.

Nach der Pandemie hat sich eine existenzielle Krise der Menschen im Verhältnis zu ihrer Arbeit entwickelt. Doch die Managergeneration unserer Zeit könnte Schwierigkeiten haben, die richtigen Antworten für dieses Problem zu finden. "Die Zukunft der Arbeit muss gestaltet werden", erklärt Empson. "Sie ist nicht einfach da." Aus diesem Grund könne Führung in verschiedenen Bereichen ganz unterschiedlich aussehen: "In einer Polykrise kann man nicht einfach mit konventionellen Ideen weitermachen. Man braucht einen vielschichtigen, pluralistischen Ansatz. Die Probleme sind eng miteinander verwoben."

Und wie steht es um Frauen in Führungspositionen? "Sie haben eventuell ein anderes Verhältnis zu Hierarchien. Frauen reagieren auf einen Mangel an Macht oft damit, dass sie sich zusammentun und gemeinsam Stärke entwickeln", erläutert die Forscherin. Archie Brown, emeritierter Professor für Politik an der Universität Oxford, argumentiert in seinem Buch The Myth of the Strong Leader ähnlich. Auch er zieht "kollegiale Führungskräfte" solchen vor, die "ihre Kollegen dominieren und alle Entscheidungen an sich reißen".

Wie lässt sich also sicherstellen, dass der Boss kein KI-Klon ist? Vorgesetzte müssen einige Anforderungen erfüllen, mit denen sich Gianpiero Petriglieri in einem YouTube-Video befasst. Titel: "Führung als eine Form von Liebe". Ja, Liebe! Petriglieri formuliert es so: "Wer will, dass sich die Leute bewegen, muss sie bewegen – und zwar emotional. Roboter können das nicht." Führungskräfte müssten deshalb ihre menschliche Seite zeigen, wenn sie menschliche Reaktionen anspornen wollen: "Ich versuche, die Menschen mit ihren Erfahrungen zu versöhnen", erklärt er. "Vieles, was wir schreiben – ob akademisch oder praxisorientiert –, trennt Führung völlig von unseren Alltagserfahrungen. Sie wird entmenschlicht, indem sie entweder zu tugendhaft, zu rein oder zu mechanistisch betrachtet wird. So wird die Führungskraft zum Heiligen, einer gesalbten Person stilisiert, die zielstrebig und werteorientiert handelt – oder zu einem machiavellistischen Technokraten."

Und wie reagieren seine Studenten und Kunden, wenn der Professor über Führung als eine Art von Liebe spricht? "Die meisten sagen: 'Das ist erfrischend anders. Und obwohl ich Ihrer Meinung bin, gibt es Menschen, die das seltsam finden.'" Sie projizierten also die von ihnen empfundene Fremdheit der Idee auf andere. Zu behaupten, dass Führung eine Art von Liebe sei, bedeute jedoch nicht, dass sie stets gut sei: Es gebe mehrere Varianten, etwa narzisstische Liebe: "Ich liebe dich nicht wirklich, aber ich liebe mich in deiner Gegenwart." Liebe könne auch zu einer Art Sprache werden, um eigene Ansichten zu rechtfertigen. Übergriffige Führung funktioniere nach diesem Muster. Die häufigste Form sei die mittelmäßige Liebe: "Ich liebe dich, habe aber Angst davor. Also versuche ich, Kontrolle über dich auszuüben." Furcht vor Kontrollverlust schränke indes Führungsfähigkeiten ein. Die beste Form der Liebe sei zugleich die schwierigste: "'Wie sehe ich dich? Wie kann ich dir mehr Freiheit verschaffen?' Ich denke, genau das macht auch gute Führung aus", sagt Petriglieri.

Suche nach dem nächsten Ausgang: Wie stabil das Netzwerk am Arbeitsplatz ist, hilft zu verstehen, was Mitarbeiter zum Gehen oder zum Bleiben bewegen könnte.
Suche nach dem nächsten Ausgang: Wie stabil das Netzwerk am Arbeitsplatz ist, hilft zu verstehen, was Mitarbeiter zum Gehen oder zum Bleiben bewegen könnte.

Charismatische Führer wollen verführen. "Aber was dann?", fragt Petriglieri. "Der Bogen des charismatischen Führers beschreibt einen Aufstieg und eine Enttäuschung. Die Verführung ist so intensiv, dass sie die Erwartungen unmöglich erfüllen kann. Leidenschaft muss sich zu etwas Stabilerem entwickeln. Wahllose Verführung deutet auf einen unsicheren Menschen hin. Führungstheorien bedienen genau diese unsichere Männlichkeit, die letztlich toxisch wird. Sie verführt, weiß dann aber nicht weiter – und bricht ab."

Einhundert Jahre Management-Theorien

Jede Ära prägt neue Ideen zur Unternehmensführung.

Taylorismus
Frederick W. Taylor veröffentlichte 1911 Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, wo er seine Ansichten zur Arbeitseffizienz niederschrieb. Er wurde für unmenschliche und sehr harte Methoden kritisiert.

MBO
Management by Objectives entwickelte Peter Drucker 1954. Die Kernaussage ist schlicht: Behalten Sie Ihre Ziele im Auge. Schwierig wird es, wenn die Ziele in Konflikt geraten oder zu unflexibel sind.

TQM
Das Total Quality Management, entwickelt vom US-Wirtschaftsguru W. Edwards Deming, wurde im Japan der 1950er-Jahre perfektioniert. Das gute Konzept wurde jedoch entstellt – die Idee von "Qualität" verlor ihre Kraft.

BPR
Business Process Reengineering: In der Rezession der 1980er-Jahre als Allheilmittel gefeiert. In ihrem Buch Reengineering the Corporation propagierten Michael Hammer und James Champy harte Eingriffe, die teils erfolgreich, teils weniger gut für die Firmen endeten.

Agile Methode
Die agile Methode stammt aus der Hightech-Welt und gilt vielen als Wundermittel. Sie ist jedoch nicht für jedes Unternehmen geeignet. Die Prinzipien zur Kundenorientierung sind gut.

"Es geht um zwei Dinge: Die Arbeit muss getan und das Team motiviert werden."

Gianpiero Petriglieri

Associate Professor
INSEAD

Petriglieris Diskurs über die Liebe zielt auf eine Vermenschlichung von Führung ab. "Es geht um zwei Dinge: Die Arbeit muss getan und das Team motiviert werden", erklärt er. Liebe biete auch einen Schutzschild gegen KI und Algorithmen. "Algorithmen fördern tayloristische Visionen, und das ist digitale Indoktrination", sagt Petriglieri. "Für mich ist Liebe ein Gegenmittel: Sie bedeutet Befreiung und ist das Gegenteil von Indoktrination." Der Weg aus den multiplen Krisen der Gegenwart führt über kollektive Führung, Anpassungsfähigkeit und Menschlichkeit. Der Dichter W.H. Auden brachte es auf den Punkt: "Wir müssen einander lieben – oder sterben."

Gut zu wissen
Mit Liebe führen:

Wenn Sie wollen, dass Ihre Mitarbeiter anders handeln, sollten Sie sie emotional bewegen. Führungskräfte müssen menschlich agieren.

Krisen erfordern Kooperation:

Die Probleme, mit denen sich Unternehmen heute konfrontiert sehen, sind zu komplex für eine einzige Führungskraft.

Von Mensch zu Mensch:

Empathische Führung kann zu einer positiven Erfahrung werden, die der Kälte KI und von Algorithmen entgegenwirkt.

Experience Report
Portrait of
Stefan Stern ist Journalist und Autor. Er schrieb von 2006 bis 2010 als Management-Kolumnist für die Financial Times. Sein aktuelles Buch Fair or Foul: The Lady Macbeth Guide to Ambition erschien 2024, nach Myths of Management und How to be a Better Leader.
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Veröffentlicht Februar 2025. Vorhanden in
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