Kunst und Wirtschaft
Künstler eröffnen der Wirtschaft neue Sichtweisen und Techniken. Beides kann den Erfolg Ihres Unternehmens steigern.
Er war der Wegbereiter einer neuen Gastronomie. Ferran Adriàs Restaurant galt als das beste der Welt. Doch was ist das Erfolgsgeheimnis des visionären Küchenchefs? Schöpferische Fantasie, Mut und der unbedingte Wille, sich nie zu wiederholen. Adrià erklärt uns, warum Kochen eine Kunst ist und wie man ein Leben lang kreativ bleibt.
Das klare Wasser in der Bucht von Cala Montjoi in der nordöstlichen Ecke Spaniens glitzert an diesem Morgen noch mehr als sonst. Ferran Adrià steht in seinem Garten und beobachtet ein paar Männer, die Industrierohre in etwas schrauben, das aussieht wie eine Mischung aus einem Schaltpult und einem Klettergerüst. Tatsächlich ist es ein Kunstobjekt – eine Skulptur, die die synaptischen Verschaltungen von Sinneswahrnehmungen mit dem Hirn visualisiert. “Willkommen im Wald der Kreativität“, begrüßt uns Adrià, Gründer des legendären El Bulli.
Ferran Adrià begann seine kulinarische Laufbahn im Alter von 19 Jahren nach dem Militärdienst. 1984 kam er als 22jähriger Koch ins El Bulli – und wurde nur 18 Monate später dort Chefkoch. Adrià vermeidet die Bezeichnung Molekularküche, er nennt seine Kreationen lieber “dekonstruktivistisch“. Ein Essen im El Bulli vergleicht er mit einem Theaterabend.
Als Wald der Kreativität könnte man auch das winzige Restaurant bezeichnen. Zumindest seit Mitte der 1980er-Jahre, als Adrià hier als Chefkoch anfing. Der Katalone ist bis heute ein extrem energiegeladener Mann, dessen Rastlosigkeit sich auch in seiner bemerkenswerten Sprechgeschwindigkeit ausdrückt. Adrià wollte sich nie langweilen als Koch, nicht jeden Tag dieselben Gerichte auf den Tisch bringen. Also begann er zu experimentieren – und brachte im Laufe der Jahre eine gastronomische Revolution hervor, die nicht nur den Gästen ein völlig neues Geschmackserlebnis verschaffte, sondern auch das Selbstverständnis vieler Köche veränderte.
Am Anfang stand eine skurrile Frage: Was passiert, wenn wir eine Tomate mit einer Fahrradpumpe aufpumpen? Natürlich, sie wird platzen. Aber zunächst entsteht ein Schaum, die dekonstruierte Tomate lässt sich zu etwas Neuem zusammensetzen. Die Antwort auf die Tomaten-Frage öffnete bald die Tür zu einer Reihe weiterer Fragen, die sämtliche Gewissheiten über die gehobene Gastronomie radikal auf die Probe stellten: Warum kommt das Dessert nach den herzhaften Gängen? Warum muss eine Suppe flüssig sein? Warum kann Eiscreme nicht heiß sein?
Auf der weiß getünchten Terrasse sitzend, auf der die Gäste des El Bulli einst essbare Cocktails mit Blick auf die Bucht genossen, spricht Adrià wortgewandt über den Werdegang seines Restaurants: “Am Anfang wussten wir nicht, warum wir experimentierten – es war eher intuitiv als rational“, erinnert er sich. “Aber wir gingen von dieser sehr naiven Position dazu über, nach dem Warum zu fragen. Und schließlich fragten wir auch nach dem Wer, Was, Wo und Wann.“
Diese Fragen waren der Schlüssel zu völlig neuen Kochtechniken. Und bisher nicht gekannten Gerichten: “Kaviar“ aus Mangosaftkügelchen, Esspapier aus Zuckerwatte, Spaghetti aus Parmesansoße – und sehr viel Schaum. Sie brachten der Welt einen neuen Küchenstil mit dem wenig appetitanregenden Namen “Molekulargastronomie“. Das Fragen brachten Adrià und sein Team auch dazu, andere Aspekte des Restaurantbetriebs neu zu denken, vom Service über das Personal bis zu den Finanzen. “Die Leute redeten immer über die Kochtechniken im El Bulli, über die Dekonstruktion oder die sogenannte Sphärifizierung, bei der man Flüssigkeiten in halbfeste Kügelchen verwandelt“, sagt Adrià. “Aber niemand fand es der Rede wert, dass wir kein Brot mehr als Beilage servierten. Für mich aber war das entscheidend, weil es unsere Denkweise veränderte.“
Die kulinarische Revolution im El Bulli enthält bemerkenswerte Einsichten auch für Bereiche außerhalb der Gastronomie. Die wichtigste ist vielleicht die starke Betonung der Kreativität. Während Köche früher in erster Linie als Handwerker angesehen wurden, die jeden Abend dieselben Gerichte auf den Tisch brachten, setzte Adrià die Fantasie an die erste Stelle. Das El Bulli führte Ende der 1990er-Jahre ein umfangreiches Degustationsmenü ein, dessen 35 Gänge jede Saison neu gestaltet wurden. Ein völlig neuer Ansatz. Die Gäste kehrten nicht wegen ihres Lieblingsgerichts zurück, sondern um etwas Neues auszuprobieren.
Das Konzept ging auf. Als Adrià sein Restaurant im Jahr 2011 schloss, war es bereits fünf Mal auf der Liste der besten 50 Restaurants der Welt. Das hatte es noch nie gegeben. Adrià hatte seinen Platz als einer der einflussreichsten Köche aller Zeiten gefestigt. Seither arbeitet er daran, das El Bulli in eine Stiftung zu überführen. Es wird ein Museum geben, das sich dem Erbe des Restaurants widmet. Außerdem richtet Adrià Häuser und Räume her, wo Menschen unterschiedlicher Disziplinen zusammenarbeiten. Das Museum und den Wald der Kreativität macht Adrià der Öffentlichkeit zugänglich, nächstes Jahr ist Eröffnung.
Adriàs Interesse an Kreativität erwachte aus einer einfachen Grundidee. Als er mit spanischen Kollegen in Nizza im Hotelrestaurant des Negresco zu Abend aß, fragte einer den renommierten Küchenchef Jacques Maximin, wie er Kreativität definiere. “Kreieren ist nicht Kopieren“, antwortete Maximin. “Und das“, erinnert sich Adrià heute, “war für mich der Anfang von allem. Niemals kopieren!“
Im El Bulli beherzigten sie die neue Maxime auf ihre Art. Die Küche entsorgte die À-la-carte Menüs und stellte Degustationsmenüs zusammen. Ein extrem hoher Aufwand. Sollten den Gästen jede Saison 35 neue Gänge serviert werden, waren d 100 neue Kreationen erforderlich. Das Innovationstempo war enorm. Bald wurde dem Team klar, dass man das Tempo auf Dauer nur mit einem strukturierten Prozess halten kann. In einem professionell geführten Restaurant konnte man sich nicht darauf verlassen, dass regelmäßig der Geistesblitz einschlägt. Man brauchte ein System, das zuverlässig inspirierte Kreationen hervorbringt. Dieses System verlangte grundlegende Änderungen. Heute ist es in vielen Restaurants zwar üblich, eine Entwicklungsküche einzurichten, in der neue Menüs ausprobiert werden. Damals war die “Werkstatt“ im El Bulli jedoch ein Novum. Auch auf die Idee, das Restaurant sechs Monate im Jahr zu schließen, um neue Gerichte zu erforschen, war noch nie einer gekommen. Adriàs Entscheidungen waren radikal. Zugleich zeigte sich, dass auch kleine Alltagsroutinen sehr wirksam waren.
„Die Dokumentation war von grundlegender Bedeutung“, sagt Adrià und verweist auf die Unmengen von Notizen und Fotodateien, die das Team von seiner Arbeit machte. “Wir haben alles katalogisiert – jedes Rezept und jede Technik, die Misserfolge ebenso wie die Erfolge. Auf diese Weise konnten wir immer wieder auf Dinge zurückkommen, die uns nicht so gut gelangen, und sie auf neue Weise ausprobieren. Und wir brauchten den Katalog, um uns zu erinnern, was wir gemacht hatten. Die Dokumentation half uns sehr, uns nicht selbst zu kopieren.“
Weil das El Bulli nicht nur neue Ideen ausprobierte, sondern sie jeden Abend zahlenden Gästen vorsetzte, musste sich die Spannung des Neuen mit Alltagsroutinen verbinden. So wurden Mangosaft-Tropfen zu einem “Kaviar“ verarbeitet, für ein Mais-Risotto Keime aus Kernen extrahiert. Das alles ist kleinteilig und mühselig. “Aber es gibt eine Beziehung zwischen dem Kreativen und dem Mechanischen“, erklärt Adrià. “Das ist wie bei Malern. Denken Sie nur an die ganze mechanische Arbeit, die in einem Picasso-Gemälde steckt. In jeder kreativen Arbeit finden Sie auch Routine.“
Der Bezug zu Picasso ist nicht zufällig. Adrià wurde häufig mit dem Künstler verglichen, weil seine Arbeit so bahnbrechend war. Und vielleicht mehr als jeder andere Koch hat er sich mit der Frage beschäftigt, ob Essen auch eine Kunstform sein kann. 2007 wurde Adrià als Gastkünstler zur documenta nach Kassel eingeladen. Er war jedoch überzeugt, dass seine Kunst nur im El Bulli funktionierte. Also firmierte das Restaurant kurzerhand als Außenstelle der documenta und flog jeden Abend Gäste ein.
Kann man Kreativität lernen? Adrià meint: ja. “Es stimmt, dass kreatives Talent wichtig ist, besonders wenn man auf höchstem Niveau arbeitet und versucht, Denkweisen zu verändern“, sagt der Avantgarde-Koch. “Aber man kann Kreativität auch trainieren, man kann besser werden.“ Mit solchen Fragen beschäftigen sich Adrià und sein Team, seit das El Bulli geschlossen ist und in etwas Neuem aufgehen soll. Die vergangenen zehn Jahre haben sie darauf verwendet, eine neue Methodik zu entwickeln, die Adrià “Sapiens“ nennt. Ein Ergebnis: ein Lexikon kulinarischen Wissens, die Bullipedia, das sorgsam alle Informationen der kulinarischen Welt zusammenträgt. “In gewisser Weise haben wir das getan, um uns selbst zu erklären“ sagt Adrià. “Wir mussten eine Methode entwickeln, um zu verstehen, was wir tun."
Wenn das Museum und der Garten 2023 eröffnen, werden sie dem El-Bulli-Gründer ein Denkmal setzen. Adrià hat die Welt um das wohl innovativste Restaurant aller Zeiten bereichert. Wenn er darauf zurückblickt, wie er das hat erreichen können, wie er die kreative Energie über Jahrzehnte hinweg unter Spannung hielt, fallen ihm spontan drei Dinge ein: erstens Respekt für sein Team; zweitens die akribische Bereitschaft, neue Kreationen stundenlang und immer wieder zu testen; drittens die stete Berieselung mit Talent. Und was noch? “Seien Sie mutig! Das ist das Wichtigste!“
Künstler eröffnen der Wirtschaft neue Sichtweisen und Techniken. Beides kann den Erfolg Ihres Unternehmens steigern.