Reise in die Zukunft
Was wäre, wenn wir in die Zukunft reisen könnten, um das Jahr 2050 zu sehen und noch mehr? Das Playbook der neuen Think:Act wagt den Versuch, nach vorne zu schauen!
von Detlef Gürtler
Illustrationen von Simon Landrein
Visionen fantasievoller Science-Fiction-Autoren prägen unsere Vorstellungen von der Zukunft. Immer wieder haben sie Forscher und Ingenieure zur Gestaltung von Zukunftstechnologien inspiriert.
Haben Sie jemals von Konstantin Ziolkowski gehört? Er war ein russischer Physiker, der 1935 gestorben ist. Aber selbst wenn Sie noch nie von ihm gehört haben, kennen Sie eine Erfindung, die überwiegend nach seinem Tod entwickelt wurde – und sich ganz wesentlich auf seine Entdeckungen stützte: die Rakete. Neben Wissenschaftlern wie dem Deutschen Hermann Oberth und dem US-Amerikaner Robert Goddard gilt Ziolkowski als einer der Gründerväter der Raumfahrt.
Sie kennen ganz gewiss auch die Inspirationsquelle, die den Forscher in den 1870er-Jahren zur Raketenwissenschaft anregte: Von der Erde zum Mond, ein Roman des Science-Fiction-Autors Jules Verne. Darin beschreibt der Franzose, wie drei Männer mit einer riesigen Weltraumkanone zum Mond fliegen. Der Teenager Ziolkowski durfte zwar nicht zur Schule, weil er taub war. Aber er las das Buch – und war überzeugt, dass eine Kanone für eine Reise ins All nicht geeignet sei. Also dachte er nach und fand eine bessere Möglichkeit.
Hätten wir den Mond auch ohne Ziolkowski besucht? Möglicherweise. Auch andere Forscher dachten zu dieser Zeit über die Raumfahrt nach. Aber hätten wir den Erdtrabanten ohne diesen Science-Fiction-Roman erreicht? Nicht unbedingt. Denn Jules Verne gab uns eine Vorstellung davon, wie die Zukunft aussehen könnte; eine Vision, die Wissenschaftlern etwas zum Grübeln gab; und ein Ziel, mit dem sie arbeiten konnten.
Jules Verne ist nicht der einzige Schriftsteller, dessen Fiktion Wirklichkeit wurde. Und Wissenschaftler sind nicht die Einzigen, die sich von Science-Fiction inspirieren lassen. Nehmen Sie nur zwei der derzeit bekanntesten Innovationen. Mark Zuckerbergs Metaverse ist sowohl dem Namen als auch dem Konzept nach eine Kopie der virtuellen Traumwelt in Neal Stephensons Roman Snow Crash. Bei Neuralink, einem von Elon Musk mitgegründeten Unternehmen, das Schnittstellen zwischen menschlichem Hirn und Maschinen entwickelt, ist das Konzept eins zu eins identisch mit einer Technologie, die der schottische Science-Fiction-Autor Iain Banks in seiner Buchreihe Kultur-Zyklus beschreibt.
Geschichten über eine imaginäre Zukunft sind wichtig für die Gestaltung der künftigen Wirklichkeit. Und das liegt nicht daran, dass Künstler Hellseher sind. Aber ihre Vorstellungskraft ist groß. Sie geben uns eine Vision davon, wie die Technologien der Zukunft aussehen könnten. Und wenn man diese einmal gesehen hat, kann man sie nicht mehr vergessen. Geschichten beeinflussen Kinder, Erfinder, Entscheidungsträger und Kunden. Für Kinder sind sie eine Inspirationsquelle. Romane und Fernsehserien animieren sie, Forscher oder Ingenieure zu werden. So wie den jungen Ziolkowski. Und sie werden ihr Leben lang nicht vergessen, was die Initialzündung für ihre Karriere gab.
Erfinder wiederum werden durch visionäre Geschichten kreativ. Denn seien wir ehrlich: Die Vorstellungskraft von Ingenieuren und Forschern ist in der Regel eher begrenzt. Sie haben gelernt, wie man Maschinen baut oder Forschung betreibt. Aber sich eine Zukunft vorzustellen, in der noch niemand war – das gehört meist nicht zu ihren Stärken. Wenn das jemand für sie erledigt, bekommt ihre Arbeit eine Orientierung.
Erzählungen von der Zukunft beeinflussen auch Investitionsentscheidungen. Banker, Risikokapitalgeber oder Vorstandsvorsitzende – sie alle müssen entscheiden, in welche innovativen Technologien sie investieren wollen. Die Entscheidungen werden einfacher, wenn man dazu ein Bild im Kopf hat. "Kabellose Kopfhörer mit der Fähigkeit zur Beinahe-Simultanübersetzung" sind schwieriger zu erfassen als ein "Babelfisch-Gerät". Wer Douglas Adams' Per Anhalter durch die Galaxis gelesen hat, weiß sofort, was gemeint ist. Und Millionen Menschen haben das getan.
Schließlich brauchen auch Konsumenten mit einem lebendigen Bild vor Augen weniger Erklärungen. Die Markteinführung eines völlig neuen Produkts ist sehr aufwendig und teuer. Niemand kennt es, noch keiner hat es ausprobiert, man weiß vielleicht gar nichts damit anzufangen. In der Werbung werden Smart-Home-Technologien deshalb mit magischen Spiegeln in Verbindung gebracht, die jeder aus Märchen kennt. 3D-Drucker zum Beispiel erinnern an den Replikator aus Raumschiff Enterprise, ein Gerät zur Synthetisierung von Materie nach programmierten Mustern.
Die Anziehungskraft eines fiktionalen Werks steigt mit seiner Bekanntheit. Kein Wunder also, dass Raumschiff Enterprise eine der wichtigsten Quellen für Erfindungen in der realen Welt ist. Das Holodeck und Hologramme, 3D-Schach und der Replikator, die "Phaser"-Pistolen und die Teleportation durch "Beamen" – das alles hat Kinder dazu inspiriert, Ingenieur zu werden. Und Ingenieure neigen dazu, die Zukunft zu gestalten.
Sollten Unternehmen deshalb Science-Fiction-Autoren für ihre Produktentwicklung einstellen? Sie können sich ja offenbar am besten vorstellen, wie die Produkte der Zukunft aussehen werden. Ganz so einfach ist es nicht. Das auf Augmented Reality spezialisierte Start-up Magic Leap musste das auf schmerzhafte Weise lernen. Im Jahr 2014 stellte das Unternehmen den Metaverse-Erfinder Neal Stephenson als "Chief Futurist" ein. Die Firma musste 2020 die Hälfte ihrer Mitarbeiter entlassen, auch Stephenson ging – ohne nennenswerte Spuren hinterlassen zu haben. Autoren wissen nicht mehr über die Zukunft als andere.
Lauschen Sie den Klängen der Zukunft – von Künstlern aus der Vergangenheit und der Gegenwart:
"Es ist auch gar nicht unsere Absicht, Vorhersagen über die Zukunft zu machen. Science-Fiction ist eher ein Kommentar zur Gegenwart aus einer Zukunftsperspektive", sagt Tom Hillenbrand, Autor von Drohnenland und Montecrypto.
In dem Buch Drohnenland (2014) beschreibt Hillenbrand ein Land, das mit einer Totalüberwachung durch Kameras und Drohnen Verbrechen vermeiden will. Doch dann wird ein Politiker ermordet und der fast allwissende Polizeicomputer versagt – die Mörder haben gelernt, wie sie das digitale System überlisten können. "Der Drohnenstaat ist schneller Realität geworden, als ich das erwartet hätte", sagt Hillenbrand heute. Als er das Buch verfasste, dachte er, es würde noch Jahrzehnte dauern, bis präventive Verbrechensbekämpfung mit digitalen Systemen technisch und politisch machbar wird. "China aber ist schon heute fast so weit."
Wenn Hillenbrand über die Zukunft nachdenkt, geht es nicht um Produktdesign. Es geht um Menschen. Was passiert mit dem freien Willen in Zeiten der allwissenden Technologien? Was tun wir, wenn der Tod rückgängig gemacht werden könnte? Und wie verändert sich die Liebe, wenn die Genetik den perfekten Partner vorgibt? Der Erzählstoff rund um diese grundlegenden Fragen ist metaphorisch angelegt: "Terminator benutzt einen Killerroboter, um auf die Gefahren der Künstlichen Intelligenz hinzuweisen. Aber man könnte natürlich auch andere, weniger apokalyptische Metaphern verwenden", erklärt Hillenbrand.
Die Bedeutung von Science-Fiction liegt nicht in der konkreten Umsetzung einer imaginierten Technik in die reale Welt. Es geht um die Offenheit für das Unbekannte, meint Hillenbrand und zitiert die US-amerikanische Science-Fiction-Autorin Ursula Le Guin: "Man kann Science-Fiction als Gedankenexperiment lesen." Die Fiktion ist eine Art Labor, in dem alles ausprobiert werden kann und alles möglich ist, weil es in der Zukunft liegt.
Das ist auch der Punkt, an dem Science-Fiction für Unternehmen interessant werden kann. Die Vision eines Künstlers von einer Zukunft, in der noch kein Mensch gewesen ist, kann Unternehmern und Managern die Augen öffnen – und sie zu einem Aufbruch in neue Märkte animieren. Es ist eine Art von disruptiver Erfahrung, die von Global Playern wie VW oder Intel genutzt wird, wenngleich eher als Beigabe denn als fester Bestandteil ihrer Geschäftsstrategien. Es gibt bislang lediglich eine Branche, die langfristige Geschäftsbeziehungen mit Science-Fiction-Autoren unterhält: Zukunfts- und Trendforschung. Der Science-Fiction-Autor Marcus Hammerschmitt etwa ist bereits seit vielen Jahren Mitarbeiter des Gottlieb Duttweiler Instituts für Trendforschung in der Schweiz.
Für ihn steht immer "eine verrückte Frage" im Mittelpunkt der Story-Entwicklung. Diese Frage könnte so lauten: "Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der man mit Schulden geboren wird und sein ganzes Leben lang arbeiten muss, um sie zurückzuzahlen?" Oder so: "Wie kann man konkurrieren, wenn es keine Knappheit mehr gibt?" Jedes Buch Hammerschmitts ist der Versuch, auf solche Fragen Antworten zu finden. In seinen Beiträgen zur Trendforschung sind solche Fragen eher als Brückenkopf zur unbekannten Seite des Flusses zu verstehen. Sie sollen Trendforscher in Versuchung führen, sich eine Brücke von der Wirklichkeit in eine unbekannte Zukunft vorzustellen.
Die zumeist düsteren Zukunftsvisionen der heutigen Zeit lassen den Begriff "Versuchung" jedoch etwas zu optimistisch klingen. Antike und mittelalterliche Mythen träumten von einem Ende der ewigen Mühsal auf Erden. Im Paradies gab es einen Zaubertrank und goldene Gänse, die Eier legten. Das alles war sehr weit von der Realität entfernt – aber die Bilder und Vorstellungen der Menschen wurden zu einem wichtigen Teil der Volkskultur. Dann kam das Zeitalter der Industrialisierung, und alles schien möglich. Die Leute träumten vom Ende der Knappheit und von neuen Technologien, die die Welt verändern.
Von Jules Verne bis Douglas Adams, von Raumschiff Enterprise bis Krieg der Sterne: Lange Zeit ging Science-Fiction davon aus, dass die Zukunft uns Menschen ein besseres Leben ermöglichen wird. Seit den 1980er Jahren verdüsterte sich das Bild dann allerdings zunehmend. Cyberpunk betrat die Bühne, vor allem William Gibsons Roman Neuromancer aus dem Jahr 1984. Die Zukunft ist seither nicht unbedingt etwas, auf das man hoffen muss. Stoffe wie in Mad Max, die britische Dystopie Black Mirror oder die koreanische Serie Squid Game bilden heute die Hintergrundmusik für zivilisatorische Konflikte – und verstehen sich mehr als Labor für neue Überlebensstrategien als für neue Technologien, die die Zukunft besser machen. Wohin also können wir uns wenden, um uns wieder vom Morgen inspirieren zu lassen? Der österreichische Schriftsteller Peter Glaser empfiehlt einen Blick auf unsere ältesten Science-Fiction-Texte: Mythen und religiöse Erzählungen. Sie stecken voller Wunder und Magie. Und ist Technologie nicht auch ein bisschen magisch? "Die Lahmen heilen, die Welt ernähren und die Toten wiederbeleben: Das hat Jesus Christus vor 2.000 Jahren getan, und das ist es, was wir Menschen anstreben können", sagt Glaser. Oder nehmen wir die alten Griechen: Ihre Götter konnten Stürme bändigen, Regen oder Sonne schicken und so die Ernte retten. Das sind durchaus Fähigkeiten, die wir heute dringend gebrauchen könnten.
Was wäre, wenn wir in die Zukunft reisen könnten, um das Jahr 2050 zu sehen und noch mehr? Das Playbook der neuen Think:Act wagt den Versuch, nach vorne zu schauen!