Firmen auf einem nachhaltigen Entwicklungspfad

Think:Act Magazin "Rhythmus finden"
Firmen auf einem nachhaltigen Entwicklungspfad

29. September 2024

Statt auf Turbowachstum setzen Firmen auf langfristig tragfähige Geschäftsmodelle

Artikel

von Helene Laube
Fotos von Julia Sellmann

Schnelles Wachstum ist keine zwingende Voraussetzung für den Erfolg eines Unternehmens wachsen oder Sterben? Immer mehr Firmen hinterfragen das Wachstumsmantra kritisch und setzen lieber auf organisches Wachstum – mit Erfolg.

Gut zu wissen
Bewusste Entschleunigung:

Sehr erfolgreiche Unternehmen können langsamer wachsen, als es ihrem maximalen Potenzial entspricht.

Frischer Blick auf Innovationen:

Eine Strategie des kontrollierten Wachstums muss nicht zulasten der Innovationskraft gehen.

Vorsicht bei Hyperwachstum:

Ein zu schnelles Hochskalieren von Start-ups kann geradewegs in die Pleite führen.

Nahaufnahme von rosafarbenen Blüten vor blauem Himmel.

74 %: Anteil der Internet-­Start-ups, die an verfrühter Skalierung und zu schnellem Wachstum scheitern, basierend auf einer Auswertung von mehr als 3.200 Tech-Start-ups.

Quelle: Startup Genome

Bis zum bitteren Ende hielten die Tech-Start-ups an ihrer zentralen Strategie fest: schnelles Wachstum um jeden Preis. Risikokapital-Investitionen stiegen 1999 – kurz vor dem Platzen der Dotcom-Blase – auf einen neuen Spitzenwert. "Go big or go home", lautete das Motto. Die Gründer des Chicagoer Start-ups ­37signals wählten bewusst einen anderen Weg: "Ich bin ein Fan davon, langsam, vorsichtig und mit System zu wachsen. Wachstum nur um des Wachstums willen lehne ich ab", sagte Jason Fried, Mitgründer und CEO der Webdesign-Firma dem US­Magazin Fast Company. Fried und sein Kompagnon David Heinemeier Hansson trieb der Wunsch an, ein nachhaltiges und langfristig profitables Unternehmen aufzubauen. Außerdem wollten sie die Kontrolle über ihr Produkt, ihre Firmenphilosophie und auch ihre Work-Life-Balance behalten. Dadurch konnten sie sich auf das konzentrieren, was ihnen wichtig ist: hervorragende Produkte und einen hohen Qualitätsstandard.

Ein Vierteljahrhundert später ist 37signals immer noch erfolgreich und hat Kunden in über 160 Ländern. Aus der Webdesign-Firma ist ein Software­unternehmen geworden, das für Software-as-a-Service (SaaS)-Produkte wie die Projektmanagement-Plattform Basecamp und den E-Mail-Dienst HEY bekannt ist. Fried und Heinemeier Hansson haben dennoch keine Absicht, ihren Ansatz zu verändern. Im Gegenteil: Sie kultivieren ihre Underdog-Mentalität und setzen nach wie vor auf maßvolles Wachstum. Mit einem Kernteam von rund 70 Mitarbeitern, das über fünf Kontinente verteilt ist, fordern sie viel größere Technologieunternehmen wie Asana oder Slack heraus.

Laut Jason Fried könnte die Firma viel größer sein und Hunderte Mitarbeiter beschäftigen. "Unsere Umsätze und Gewinne gäben das her – aber ich denke, dann wären wir viel schlechter dran." Das US-Softwareunternehmen hat bis heute "keine Investoren an Bord, und es gibt keine Pläne für einen Exit".

"Wir wollen das Beste für die Menschen – nicht nur das Beste von den Menschen."

Brian Bailey

Leiter Produktstrategie
37signals

Brian Bailey, Leiter Produktstrategie bei 37signals, betont: "Wir wollen das Beste für die Menschen – nicht nur das Beste von den Menschen." Man sei nicht "besessen von einer spezifischen Kennzahl", die es zu erreichen gelte, oder von bestimmten Zielen, sagt er im Zoom­Interview. "Wir versuchen die Art von Business aufzubauen, die uns selbst gefällt: ein Unternehmen, das nachhaltig wirtschaftet und dabei Jahr für Jahr profitabel ist." Profitabilität bedeute Freiheit. Das ist die "grundlegende Prämisse", auf der die Gründer ihr Geschäft aufbauen: "Solange wir profitabel sind, müssen wir andere Leute nicht um Erlaubnis fragen", sagte ­Heinemeier Hansson in einem Podcast.

Die Erfolgsgeschichte von 37signals beweise, dass profitable Unternehmen nicht immer dem Modell "Wachstum um jeden Preis" folgen müssten. In der Tech-Welt gibt es viele Negativ-Beispiele von Hyperwachstum: Unternehmen, die bisher keine Gewinne vorweisen können oder zu schnell gewachsen sind und dann eine Bruchlandung hingelegt haben. Im Gegensatz dazu finden sich aber auch viele Unternehmen, die bewusst ei­nen gemäßigteren Ansatz verfolgen.

Nahaufnahme von Luftblasen auf einem Blatt unter Wasser.

Wachstum mit Augenmaß ermöglicht resiliente Geschäftsmodelle, die Krisen überstehen und dauerhaften Erfolg in einem sich schnell verändernden Markt garantieren. "Langsame" Unternehmen stellen sicher, dass sie über die notwendige Infrastruktur und die erforderlichen Ressourcen verfügen, um ihr Wachstum langfristig voranzutreiben, ohne Kompromisse bei der Qualität. Schnelles Wachstum kann Unternehmen zwingen, Schulden aufzunehmen oder Ressourcen zu verschwenden. Wer dagegen mit Augenmaß wächst, kommt in einem Tempo voran, das finanziell machbar ist, und verringert so das Risiko des Scheiterns.

Eine Strategie kontrollierten Wachstums muss auch nicht auf Kosten der Innovationskraft gehen. Von ihren Gründern als eine Art Labor für die Arbeitswelt der Zukunft konzipiert, hat 37signals die Methode "Shape up" entwickelt. Alle Teams bündeln ihre Arbeit in den Bereichen Design, Entwicklung und Lieferung von Software in Sechs-Wochen-Zyklen und konzentrieren sich auf eine überschaubare Zahl klar definierter Ziele. Auf jeden Zyklus folgt eine zweiwöchige "Abkühlphase", in der die Mitarbeiter kleinere Aufgaben bearbeiten, Kraft tanken und ihre nächsten Schritte planen.

Das richtige Tempo 

Die Geschwindigkeit, mit der Sie sich Ihrem Ziel nähern, kann über Erfolg ...

Die Softwarefirma 37Signals setzt auf sechswöchige Entwicklungszyklen, es folgen Pausen. Laut Brian Bailey, Leiter Produktstrategie, sind die Zyklen lang genug, um einen guten Rhythmus zu entwickeln und Fortschritte zu erzielen. Zugleich sähen die Teams immer das "Licht am Ende des Tunnels".

… oder Scheitern entscheiden.

Mithilfe von Risikokapital baute WeWork fast 800 Standorte in 39 Ländern auf. Anfang 2019 wurde das Unternehmen mit 47 Mrd. US-Dollar bewertet. Das schnelle Wachstum ohne Gewinne führte jedoch zur Entlassung des CEO und zum Stopp des Börsengangs. Im November 2023 meldete WeWork Insolvenz an.

Immer schneller, immer mehr: Der Wachstumskult wird seit einigen Jahren in der Unternehmenswelt kritisch hinterfragt. Eigentümer und Investoren haben die möglichen negativen Auswirkungen auf den langfristigen Unternehmenswert erkannt. Für Robert Sutton, Professor für Management an der Stanford Graduate School of Business, ist "strategische Entschleunigung" für innovative Führungskräfte und Unternehmen der Schlüssel zum Erfolg. "Zu wissen, wann und wie man einen Gang runterschaltet und Fehlentwicklungen korrigiert, ist der Weg zu dauerhaftem finanziellem Erfolg, zur Schaffung eines gesunden Betriebsklimas und auch der Weg, um nicht ins Gefängnis zu kommen", antwortete Sutton auf die Frage nach dem "nächsten großen Ding".

Im Gegensatz dazu kann der Harvard-Business-School-Professor Thomas Eisenmann keinen allgemeinen Trend zu gemächlicherem Wachstum erkennen. Was er ausmacht, ist eine größere Vorsicht beim sogenannten Hyperwachstum, das zu "dysfunktionalen Konsequenzen für die Gesellschaft" führt, oder bei nicht nachhaltigem Hyper­wachstum wie im Fall des gescheiterten Coworking-Anbieters WeWork [siehe Kasten "Das richtige Tempo"]. "Aber ich glaube nicht, dass Risikokapitalgeber 2024 ganz neu denken lernen und auf bedächtigeres Wachstum setzen – sie wollen einfach weiter Wachstum", sagt Eisenmann.

Man muss indes auch anerkennen, dass es Marktstrukturen gibt, die ein Unternehmen zu schnellem Wachstum zwingen, fügt Eisenmann hinzu. Dazu zählten etwa Netzwerkeffekte, bei denen Kunden andere Kunden anziehen. Ein Beispiel ist Zoom. Wenn immer mehr Unternehmen, Schulen und Menschen in einer sozialen Gruppe eine Video-Plattform nutzen, werden weitere Nutzer angezogen. "Wer in einem solchen Geschäft nicht in schnelles Wachstum investiert, wird abgehängt", sagt Eisenmann.

"Könnten wir schneller wachsen? Ja. Wäre das gut für die Entwicklung der Marke? Nein."

Stefano Caroti

CEO
Deckers Brands

Für bewusst maßvolles Wachstum gibt es durchaus zahlreiche Beispiele. Viele Unternehmen sind damit sogar sehr erfolgreich. Eines davon ist die Laufschuh-Marke Hoka, 2009 von zwei früheren Mitarbeitern des französischen Sportartikelherstellers Salomon gegründet. Drei Jahre später wurde Hoka an Deckers Brands verkauft. Das kalifornische Unternehmen hat sich sozialverträgliches Handeln und nachhaltige Geschäftspraktiken auf die Fahnen geschrieben. Es machte Hoka zwar zur am schnellsten wachsenden Sneaker-Marke aller Zeiten. 2022 durchbrach Hoka beim Umsatz die Milliardenmarke. Das Turbo-Wachstum wurde aber nur möglich, weil die Marke bewusst langsamer entwickelt wurde, als der rasante Erfolg es möglich gemacht hätte. "Könnten wir schneller wachsen? Ja. Wäre das gut für die Entwicklung der Marke? Nein", sagt CEO Stefano Caroti in einem Interview mit dem Wall Street Journal. Und Hokas Führungsriege geht es weiterhin besonnen an: Die Manager sind überzeugt, dass die Marke ihre Identität aufgäbe, wenn sie jeden für sich gewinnen wollte.

Auch die japanische Modemarke Uniqlo pflegt eine etwas ruhigere Gangart: Sie ignoriert kurzlebige Trends und bleibt ihrem Kernangebot treu. Pläne werden für ein Jahr im Voraus gemacht, anders als der Name der Uniqlo­Holding "Fast Retailing" suggeriert. Die "LifeWear" des Tokioter Unternehmens ist von klassischen Modedesigns inspiriert. Im Gegensatz zu schnell wachsenden Fast-Fashion-Ketten wie Zara oder H&M will Uniqlo keine Saisonware, sondern erschwingliche Qualitäts­kleidung anbieten, die jahrelang ge­tragen werden kann. "Die Leute sagen, Uniqlo sei eine Fast-Fashion-Marke. Das stimmt nicht", sagte CEO Tadashi Yanai der Zeitschrift Business Insider.

Rote Hibiskusblüte in Nahaufnahme, umgeben von dunkelgrünem Blattwerk.

78 %: Kursanstieg von Aktien der Hoka-Muttergesellschaft ­Deckers Brands im Jahr 2022, nachdem die Marke erstmals eine Milliarde US-Dollar umgesetzt hatte.

Quelle: Business Insider

In einer Branche, die Schnelligkeit im Namen trägt, hat die Fast-Food-Kette In-N-Out Burger ebenfalls ein ruhigeres Wachstumstempo gewählt. Seit ihrer Gründung im Jahr 1948 eröffnete das südkalifornische Unternehmen zunächst ausschließlich Fili­alen an der Westküste, bevor es später mit Nevada, Arizona, Utah, Idaho und Oregon schrittweise ein kleines Stück weit nach Osten expandierte. In jüngster Zeit folgten Texas und Idaho. Das Fami­lien­unternehmen betreibt inzwischen über 400 Fili­alen in acht Bundesstaaten. Und obwohl begeisterte Kunden den Burgerbräter inständig bitten, auch an die US-Ostküste zu kommen, lehnt das Management ab.

Hauptgrund ist die Logistik. Zur Firmenphilosophie von In-N-Out gehört, dass Burger und Pommes frisch serviert werden – abgepackte oder tiefgekühlte Ware ist tabu. Deshalb müssen alle Filialen im Umkreis von 300 Meilen um die Produktionsstätten in Kalifor­nien und Texas liegen. Eine Expansion im großen Stil würde einen enormen Kapitaleinsatz erfordern, es sei denn, das Unternehmen vergäbe Franchise-­Lizenzen. Für ­Lynsi ­Snyder, Präsidentin von In-N-Out und Enkelin der Gründer, kommt ein Franchise-Konzept jedoch genauso wenig infrage wie ein Börsengang.

Zugleich expandiert In-N-Out behutsam weiter: Das Unternehmen plant, mit Verwaltung und Restaurants nach Tennessee zu expandieren. Die ersten Restaurants im Raum Nashville sollen 2025 eröffnet werden. Mit dieser 125,5 Millionen US-Dollar teuren Expansion weicht In-N-Out von sei­ner 300-Meilen-­Strategie ab. Laut ­Snyder werden die neuen Standorte von In-N-Outs texa­nischer Fleischfabrik fast 700 Meilen weiter westlich beliefert. Nach der Expansion in Tennessee ist die Eröffnung von Restaurants in Washington und New Mexico geplant. Der Familienbetrieb betritt Neuland.

Viele Traditionsunternehmen setzen auf mehr Qua­lität als Quantität. Bei der Herstellung von Käse hat man da auch kaum eine andere Wahl. Um qualitativ hochwertigen Käse zu produzieren, ist vor allem Geduld gefragt: "Die Käseherstellung ist eine sehr bereichernde Tätigkeit, erfordert aber Konzentration, Strategie, Engagement, Geduld, Leidenschaft und jede Menge Überstunden", sagt Jill Giacomini Basch, Miteigentümerin und Marketingchefin der Point Reyes Farmstead Cheese Company. Die Käserei ist aus einer kleinen Fami­lien­molkerei nördlich von San Francisco hervorgegangen und stellte zehn Jahre lang nur Blauschimmelkäse her. Erst 2010 folgte eine zweite Käsesorte. Nach und nach erweiterte die Käserei ihr Angebot auf fünf verschiedene Sorten. Jill Giacomini Basch und ihre Schwestern verstehen sich als Verwalte­rinnen des Landes und der Tiere. Sie wollen das Aroma von Seeluft und waldgesäumtem Marschland, prägendes Merkmal ihres Manufakturkäses, für künftige Generationen erhalten.

Wachstum mit Augenmaß kann vielen Unternehmen zugutekommen – ob in der Käseproduktion, beim Burgerbraten oder in der Software­branche. Entschleunigung verbessert die Qualität, stabilisiert die Finanzsituation, fördert die Krisen­resilienz und ermöglicht stabile Beziehungen zu Kunden, Lieferanten und Mitarbei­tern. ­Brian ­Bailey von ­37signals formuliert es so: "Warum können nicht einfach mehr Unternehmen ein Niveau nachhaltigen Wachstums für sich finden und damit zufrieden sein? Warum muss es immer mehr, mehr, mehr sein?"

Über den Autorin
Portrait of Helene Laube
Helene Laube
Helene Laube lebt in San Francisco, wo sie als Journalistin über Technologie, Wirtschaft, Politik und Kultur schreibt. Sie war Mitgründerin der Financial Times Deutschland und Onlineredakteurin im Nachrichtenressort der Neuen Zürcher Zeitung.
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Veröffentlicht September 2024. Vorhanden in
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