Gary Hamel über Management-Innovationen

Think:Act Magazin "KI neu denken"
Gary Hamel über Management-Innovationen

15. Mai 2024

Warum Manager starre Strukturen überwinden und ihre Mitarbeiter zu Veränderungen anregen müssen

Interview

von Neelima Mahajan 
Illustrationen von Nigel Buchanan 

Der renommierte Strategieberater Gary Hamel ist überzeugt, dass sich Führungskräfte besser an das Zeitalter des Aufbruchs anpassen müssen. Unternehmen sollten so wendig und innovativ werden wie der Wandel selbst.

Warum tun sich Unternehmen mit größeren Veränderungen so schwer?

Tiefgreifende Veränderungen finden fast immer in Krisenzeiten statt. Wenn wir grundlegend leistungsfähigere Organisationen schaffen wollen, müssen wir die DNA der Unternehmen selbst verändern. In den Anfängen der industriellen Unternehmensverwaltung hat man versucht, ein ganz bestimmtes Problem zu lösen: Effizienz sollte in großem Maßstab erreicht werden und Vorschriften sollten bestmöglich eingehalten werden. Man musste all die Dienstmägde, Bauern und Handwerker in die Fabriken bringen und sie mussten pünktlich und genauso zuverlässig sein wie die Maschinen, die sie bedienten. Während größtmögliche Effizienz und Regeltreue in bestimmten Bereichen bis heute wichtig bleiben, sind sie kein Wettbewerbsvorteil mehr.

Bürokratie ist ein Produkt ihrer Zeit. Im späten 19. Jahrhundert war der durchschnittliche Arbeiter meist ein Analphabet und die Übermittlung von Informationen war sehr teuer. Hierarchische Strukturen sind dazu da, um Informationen zu bündeln: In einer Hierarchie hat nur derjenige den Überblick, der ganz oben steht. Das ist heute anders. Vor 120 Jahren war auch Managementkompetenz eine wenig verbreitete Fähigkeit. Damals entstanden Wirtschaftshochschulen, um die neue Berufsgruppe der Manager auszubilden. Doch mittlerweile sind umfassende Managementfähigkeiten kein Alleinstellungsmerkmal mehr.

Gary Hamel und change management 

Gary Hamel lehrt seit 30 Jahren an der London Business School und ist dort auch Direktor des Management Labs. Gemeinsam mit C.K. Prahalad brachte Hamel bahnbrechende Konzepte wie "strategische Absicht" auf den Weg. Seine Bestseller Humanocracy und Worauf es jetzt ankommt! zeigen neue Wege auf, um die Unternehmensführung auf die Zukunft auszurichten.

Wenn man nur bestimmte Praktiken und Prozesse verändert, reicht das nicht mehr aus, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Das wäre so, als würde man einem Hund ein Tutu überziehen: Das macht ihn noch lange nicht zur Ballerina.

Welche Faktoren bestimmen denn aktuelle Wettbewerbsstrategien?

Angesichts des Wandels steht man vor der Herausforderung, sich zu überlegen: Was sind die grundlegenden Dinge, die sich nicht ändern werden? Welche Veränderungen sind belanglos und zeitlich begrenzt, welche sind bedeutsam? Das meiste von dem, was Professor C. K. Prahalad und ich im Jahr 1990 geschrieben haben, ist noch immer relevant: zum Beispiel die Idee der Kernkompetenz.

Apple hat verstanden, was das ist. Das Unternehmen nutzt seine Fähigkeiten, sein Design und die überzeugende Integration von Hard- und Software und setzt seine Kernkompetenz in einer Produktkategorie nach der anderen um. Darüber hinaus hat ­Apple neue Kompetenzen entwickelt. In den vergangenen zwölf Jahren hat das Unternehmen ein eigenes Chipdesign aufgebaut, das heute wahrscheinlich das beste der Welt ist. Oder schauen Sie sich an, wie viel Tesla in die Batterietechnologie und autonomes Fahren investiert hat. Der Rest der Automobilindustrie hat heute Mühe, auch nur Schritt zu halten.

"Nur Prozesse verändern reicht nicht. Das wäre so, als würde man einem Hund ein Tutu überziehen: Das macht ihn noch nicht zur Ballerina."

Gary Hamel 

Direktor des Management Labs
London Business School

Alle damals genannten Faktoren, die Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbereitschaft fördern, sind nach wie vor aktuell: fundierte Fähigkeiten, Resilienz und die Eigenschaft, sich als Unternehmen neu erfinden zu können. Zugleich haben sich die Erwartungen der Berufstätigen verändert. Menschen meiner Generation denken in Hierarchien. Heute steht eine Generation im Arbeitsleben, die soziale Beziehungen als Netzwerk begreift.

Wenn Sie im Internet eine Fangemeinde haben, dann liegt das daran, dass Menschen sich entschieden haben, Ihnen zu folgen – sie folgen Ihnen nicht, weil Sie das anordnen könnten. Man stellt eine Idee vor und lässt die Leute entscheiden, ob das Sinn ergibt oder nicht. Das ist eine fundamentale, irreversible Veränderung.

Wenn ich also mit der Überzeugung aufgewachsen bin, nur dann eine gute Führungskraft zu sein, wenn die Leute einem folgen und ich als Chef die Hierarchie-Keule schwingen muss, dann bin ich für das Unternehmen verloren. Viele große Firmen müssen deshalb ihre Führungs- und Managementmethoden grundlegend überdenken, weil sie sonst die besten Mitarbeiter vergraulen.

Beagle in einem Tutu und mit angehobenem Hinterbein vor einer Stange, neonlila Hintergrund.
Ein Tutu für den Hund: Hamel betont, dass der Aufbau leistungsfähiger Institutionen nicht allein neue Praktiken und Prozesse, sondern eine neue Unternehmens-DNA erfordert.

Was sich ebenfalls verändert hat, ist die Komplexität und Veränderungsgeschwindigkeit der Märkte. Ein Unternehmen wie TikTok kann innerhalb von 12 bis 24 Monaten eine Milliarde neue Kunden gewinnen. Das hat es zuvor noch nie gegeben. Und es gab noch nie so viele Menschen, die die Gesundheitsbranche und Finanzdienstleistungen neu denken. Eine der großen Fragen für Unternehmen lautet: Verändern wir uns genauso schnell wie die Welt?

Die Messlatte liegt immer höher. Wie gewinnt man die besten Talente, wenn sich deren Ansprüche fundamental verändern? Wie baut man eine Organisation auf, wenn sich der Wandel um uns herum immer weiter beschleunigt? Das sind Probleme, die sich nicht in Luft auflösen werden – und sie verlangen nach radikalen Lösungen.

Warten Sie nicht zu lange

Alle Strategien haben nur eine gewisse Lebensdauer. Dennoch warten viele Unternehmen zu lange, bis sie sich über neue Strategien Gedanken machen. Warten Sie nicht, bis Ihre Strategie tot ist. Überprüfen Sie die strategische Ausrichtung Ihres Unternehmens regelmäßig!  

Sie haben einmal gesagt, dass Sie moderne Führungskräfte eher als Redakteure von Strategien sehen und weniger als deren Autoren. Warum? Fehlt es an innovativen Ideen oder an Ehrgeiz?   

Beides. Es gibt sicherlich einen Mangel an Ideen. Die Qualität einer Strategie hängt in hohem Maße von der Anzahl der Optionen ab, die man entwickelt.

Wenn man das Silicon Valley als Maßstab nimmt, dann zeigt sich: Auf jedes erfolgreiche Unternehmen kommen Hunderte, die scheitern. Wer eine bahnbrechende Idee finden will, muss viele Optionen entwickeln; man muss jede Menge Frösche küssen, um seinen Prinzen oder seine Prinzessin zu finden. Leider ist der traditionelle Entwicklungsprozess nicht sehr kreativ. Er bringt kaum innovative und unkonventionelle Ideen hervor. Deshalb sind die Strategieprojekte, die ich in Unternehmen durchführe, immer sehr offen angelegt.

Wir befragen jeden einzelnen Mitarbeiter. Und wir bringen ihnen bei, wie Innovatoren zu denken: Wie erkennt man neue Trends? Wie denkt man über die Kernkompetenzen des Unternehmens nach? Wie kommt man an unausgesprochene Bedürfnisse der Kunden heran, an ihre Ängste und Wünsche? Und welche Chancen ergeben sich daraus für uns? In einem Unternehmen, egal welcher Größenordnung, würde ich 2.000 bis 3.000 strategische Optionen entwickeln wollen.

Gary Hamel abgebildet mit Blick in die Kamera und lächelnd, neonlila Hintergrund.
Zeit zum Aufholen: Hamel hat beobachtet, dass Innovationen im Management wegen des Widerstands in den Unternehmen der rasanten technologischen Entwicklung hinterherhinkt.

Und hier kommt die Führungskraft als eine Art Redakteur ins Spiel. Man schaut sich diese Optionen an und versucht, Muster zu erkennen: "Wenn wir diesen Weg beschreiten, werden wir eher ein Dienstleistungsunternehmen"; oder: "Das würde uns in eine andere Richtung führen". Wenn man so vorgeht, muss man noch eine Strategie entwickeln, die auf harten Fakten basiert.

Wir haben ein solches Strategieprojekt vor einigen Jahren mit Adidas in Nordamerika durchgeführt. Dabei stellte sich heraus, dass sie Frauen als Konsumentengruppe nie ernst genommen hatten. Die Strategie folgte schlicht der Formel "shrink it and pink it", bedeutete also nur, die Größe und die Farbe zu ändern. In einer männerdominierten Branche kann so etwas leider passieren. Mit einer Strategie allein auf Basis von Ideen aus der Chefetage verpasst man wesentliche Chancen.

Wie hat sich Ihrer Ansicht nach der Lebenszyklus von Strategien verändert?

Man braucht eine Strategie, die robust genug ist, um zu überleben. Sie muss in vielen unterschiedlichen Kontexten Sinn ergeben. Das Wichtigste ist, dass man wie Tesla einen Blick auf die nächsten drei, fünf und zehn Jahren hat. Und dann muss man in den nächsten Monaten sehr schnell und imstande sein, sich rasch anzupassen. Strategien müssen heutzutage umfassender und robuster sein. Man braucht immer noch konkrete Zielvorgaben, aber diese beziehen sich auf die nächsten zwölf Monate und nicht auf die kommenden drei Jahre.

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Frei denken

Wenn Sie Ihren Ehrgeiz nicht länger an anspruchslosen Grenzen ausrichten, können Sie über neue Ziele nachdenken, die früher unerreichbar schienen.

Technologische Innovationen kommen immer schneller. Können Managementinnovationen Schritt halten?

Nein. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass organisatorische Innovationen immer langsamer verlaufen als technologische. Firmen sind in menschliche Systeme und Machtstrukturen eingebettet, die nur schwer zu verändern sind.

Unsere Unternehmen hinken dem Stand der Technik vermutlich 50 Jahre hinterher. Am ATLAS-Experiment des Teilchenbeschleunigers Large Hadron Collider am CERN arbeiten rund 6.000 Ingenieure und Wissenschaftler, nur ein Bruchteil davon ist vor Ort in Genf. Diese Art der Zusammenarbeit war vor 20 Jahren noch nicht denkbar.

Ein anderes Beispiel: Die aktuelle Linux-Version wurde von weltweit 15.000 Menschen programmiert. Technologie macht Organisationen möglich, die mehr horizontal als vertikal ausgerichtet sind. Aber wenn man sich anschaut, wie Konzerne Technologie einsetzen, dann nutzen sie etwa Slack und Microsoft Teams, um die Produktivität ihrer Mitarbeiter zu erhöhen. Und wie viele Unternehmen nutzen offene Innovationsplattformen? Fast keines!

ÜBER DEN AUTORIN
Portrait of Neelima Mahajan
Neelima Mahajan
Neelima Mahajan ist Chefredakteurin von Think:Act. Sie hat seit zwei Jahrzehnten als Wirtschaftsjournalistin für verschiedene Publikationen in Indien und China gearbeitet, unter anderem war sie Mitglied des Gründungsteams der indischen Ausgabe des Magazins Forbes. Von 2010 bis 2011 war sie Gaststudentin an der University of California in Berkeley und Stipendiatin der Bill und Melinda Gates Foundation für ein Reportageprojekt über Afrika. Majahans Leidenschaft sind Management-Themen. Sie hat zahlreiche renommierte Managament-Vordenker, Nobelpreisträger und Unternehmenslenker interviewt. 2010 erhielt sie den Polestar Award for Excellence in IT and Business Journalism, einen der renommiertesten Journalistenpreise Indiens.
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