Gerd Gigerenzer über Risikowahrnehmung

Think:Act Magazin “Reise in die Zukunft ”
Gerd Gigerenzer über Risikowahrnehmung

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Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa
11. Mai 2023

Für Gerd Gigerenzer legte die Pandemie offen, dass wir zu wenig von Risiken verstehen

Interview

von Neelima Mahajan
Illustrationen von Nigel Buchanan

Mit seiner Forschung hat der Psychologe unseren Blick auf Intuition, Ungewissheit und Risiko verändert. Vor allem Corona habe uns gezeigt, dass wir mehr Risikokompetenz aufbauen sollten.

In mancher Hinsicht war die Pandemie ein gesamtgesellschaftliches Experiment. Es legte offen, wie menschliche Wesen mit Risiken umgehen und dass sie häufig völlig irrational handeln, wenn sie mit Gefahren und Ungewissheiten konfrontiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Geschehnisse sprachen wir mit dem Psychologen Gerd ­Gigerenzer . Der 75 Jahre alte Deutsche ist Direktor emeritus für Adaptives Verhalten und Kognition am Max-Planck-­Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er sprach am Rande des Peter ­Drucker Forums mit uns. Dabei betonte der Experte für den Umgang mit Ungewissheit und Risiko, woran es uns als Gesellschaft ganz klar mangelt: an Risikokompetenz.

Durch die Pandemie haben wir gelernt, Bedrohungen und Unklarheiten anders zu betrachten. Was hat uns die Krise Ihrer Meinung nach wirklich darüber gelehrt?

Ich hoffe, wir haben aus der Pandemie gelernt, aber ich bin mir da nicht sicher. Zunächst einmal hat sie uns hoffentlich gelehrt, Ungewissheit zu akzeptieren, statt anzunehmen, dass wir in einer Welt kalkulierten Risikos leben. Viele Leute, die skeptisch sind, etwa gegenüber Impfungen, geben sich weiter der Illusion der Gewissheit hin. Deshalb kam es zu einem Aufschrei, als bekannt wurde, dass sich voll durchgeimpfte Menschen trotzdem angesteckt hatten oder ernsthaft krank wurden: Wie konnte das passieren? So hat die Pandemie uns aufgezeigt, wie wenig Risikokompetenz wir haben.

Gerd Gigerenzer

Gerd Gigerenzer ist ein Psychologe und Verhaltensforscher, der unser Verständnis von begrenzter Rationalität und Heuristik revolutioniert hat. Als Experte für intuitives Verhalten und Risikokalkulation verfasste er Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition und Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. Sein jüngstes Werk Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen erschien 2021.

Die anfänglichen Reaktionen auf die Pandemie reichten von Unbekümmertheit bis hin zu extremer Panik. Was wäre aus Ihrer Sicht eine vernünftige, umsichtige erste Reaktion gewesen?

Ich habe viele junge Leute gesehen, die sich plötzlich sehr für Virologie interessierten. Es hat mich beeindruckt, dass eine beträchtliche Gruppe versuchte, mithilfe der Wissenschaft zu verstehen, was da los war. So wie ­Marie ­Curie sagte: Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen. Das sah nicht jeder so. Ein Teil des Problems war, dass die meisten Regierungen nicht darauf vorbereitet waren, verständlich mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Viele Institutionen halten Risikokommunikation für einen weichen Faktor, längst nicht so wichtig wie Toxikologie oder Virologie. Wenn wir die Bevölkerung aber erreichen wollen, brauchen wir Institutionen, die wissen, wie man aufeinander zugeht, statt zu ängstigen und zu alarmieren.

Fast zwei Jahre lang hat Corona eine Menge anderer Probleme überdeckt. Auf einmal wurde das Risiko eines Routine-­Herzchecks überschattet von der Sorge, sich im Krankenhaus mit dem Virus zu infizieren. Wie können wir lernen, Risiken besser einzuschätzen und abzuwägen?

Das erste Prinzip der Risikokompetenz lautet: Vergiss die Illusion der Gewissheit . Zweitens: Fokussiere dich nicht auf ein Risiko, wäge ab. Viele Leute weigerten sich, die Impfung von Astrazeneca zu nehmen, nachdem bekannt wurde, dass schwere Thrombosen zu den möglichen Nebenwirkungen gehören. Also lieber abwarten? Was den Zögerern nicht bewusst war: Indem man versucht, ein Risiko auf null zu reduzieren, erhöht man typischerweise andere Risiken. Indem sie also monatelang auf Biontech-Pfizer warteten, nahmen sie ein erhöhtes Risiko auf sich, als Covid-­Patient auf einer Intensivstation zu landen. Risiken "lesen" zu lernen ist heute genauso wichtig, wie es vor 150 Jahren war, Lesen und Schreiben zu lernen.

Wie schätze ich Risiken ein? — Große Zahlen ergeben knallige Überschriften. Fragen Sie sich daher immer, ob die Zahlen einen relativen oder einen ­absoluten Anstieg des ­Risikos repräsentieren. Absolute Zahlen eignen sich weniger zum Hin­gucker, sind aber akkurater.

Corona hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Manche infizierten sich, andere isolierten sich zu Hause, verfolgten wie besessen die Fallzahlen und hielten sich immer auf dem neuesten Stand, was die Impfungen betraf – ein Leben in extremer Angst. Würden Sie diese Risikobesessenheit als gesund oder als ungesund einstufen?

Es gab beides: Leute, die Todesangst hatten, aber auch Leute, denen alles egal war. Männer meinten oft, es sei männlich, so weiterzumachen wie zuvor, und alle anderen sind Weicheier. Die Mehrheit war aber in den meisten Ländern ziemlich vernünftig. Manche Länder haben es besser als andere gemanagt. Insbesondere Portugal und Spanien, wo das Virus früh ausbrach, haben heute Impfquoten von mehr als 90 %. In Ländern wie den USA, in denen das Thema politisiert wurde, entstand ein Riss in der Gesellschaft. Was wir wirklich verbessern müssen, ist die Risikokompetenz in der Gesellschaft und die Risikokommunikation der Regierungen. Wenn wir das jetzt nicht schaffen, fällt uns das beim nächsten Mal auf die Füße.

Viele verlassen sich auf ihre Bezugsrahmen, wenn sie Risiken abwägen: eigene Erfahrungen und die von Menschen, die wir kennen, Allgemeinwissen und Geschichtswissen. Dieses Mal wurden wir jedoch mit etwas konfrontiert, zu dem wir keinerlei Bezugsrahmen hatten – jedenfalls nicht innerhalb unserer Lebenszeit. Wie kommen wir also am besten damit zurecht, dass es solche nie dagewesenen Ungewissheiten gibt?

Es gibt Menschen, die größere Sorgen hatten, etwa in der Dritten Welt. Die Pandemie sollte uns als Mahnung dienen, dass wir alle sterblich sind; dass von einem auf den anderen Tag Dinge geschehen können, mit denen wir nie gerechnet hätten. Zum Beispiel eine plötzliche Trennung oder der Tod eines Kindes. Wir sollten also nicht glauben, dass alles immer so weitergeht, sondern überlegen, was wir tun würden, wenn dies der letzte Tag unseres Lebens wäre: Könnte man nicht etwas Nützlicheres tun als das, was man heute tut? Corona hat uns in vieler Hinsicht die Chance gegeben, aufzuwachen, diese Ungewissheit zu akzeptieren, auf rationaler und emotionaler Ebene.

Risiko oder Ungewissheit? Sei kein Truthahn!
1. Fütterung

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Truthahn. Gibt es am ersten Tag Futter, rechnen Sie nun jeden Tag mit diesem festen Ereignis.

2. Keine Fütterung

Gibt es nur jeden zweiten Tag Futter, bietet jeder Tag zwei Möglichkeiten. Es besteht das Risiko, dass Sie nicht gefüttert werden.

3. Thanksgiving

Nach 100 Tagen sind Sie plötzlich selbst das Futter. Leider gab es einen versteckten Risikofaktor: die Ungewissheit.

Bei Corona brauten sich viele Dinge zusammen: halbgare Informationen, Desinformation, Verschwörungstheorien … Nach welchen Wegweisern hätten wir uns richten können?

Im besten Fall können wir uns auf unser Gesundheitssystem verlassen und auf eine Regierung, die verantwortlich handelt, statt um Stimmen zu kämpfen; ebenso auf unser Bildungssystem – Corona kann ein Thema in der Schule sein. In Mathematik kann man über die Statistiken sprechen. Im Sport kann man lernen, wie man auch mit Abstand fit bleibt und sich weiterentwickelt. Wir sollten auch mehr über Risikopsychologie lernen: Die meisten Verschwörungstheoretiker haben "ihre" Theorien nicht selbst erfunden, aber sie tendieren dazu, sie zu glauben, weil ihre Bezugspersonen es tun. Wir sollten verstehen lernen, wie stark wir von der Meinung anderer abhängen und dass wir viele unserer Meinungen nie selbst hinterfragt haben.

Eine Illustration einer weißen Feder mit einem schwarzen Streifen.
Vorsicht vor dem freien Fall: Gerd Gigerenzer erklärt, warum wir unserer Intuition nicht immer vertrauen sollten.
"Intuition hilft denen, die Erfahrung haben. Wenn man aber von etwas keine Ahnung hat, sollte man seinen Gefühlen nicht trauen."

Gerd Gigerenzer

Psychologe

Welche Rolle spielt unsere Intuition bei der Einschätzung von Risiken? Führt sie uns eher in die Irre oder können wir uns auf sie verlassen?

Intuition ist ein Gefühl, das auf jahrelanger Erfahrung beruht. Man weiß, was zu tun ist, aber nicht, warum. Es ist wichtig, Intuition nicht mit willkürlichen Entscheidungen oder einem sechsten Sinn zu verwechseln. Ein Doktor, der seinen Patienten regelmäßig sieht, merkt, dass heute etwas nicht stimmt mit ihm. Vor der Diagnose steht die Intuition. Sie wird oft als das Gegenteil bewussten Denkens gesehen, und das ist ein großer Fehler. Beides passt zusammen. Alle guten Experten lassen sich von ihrer Intuition leiten, aber nicht ausschließlich. Ohne Intuition keine Innovation. Sie hilft denen, die viel Erfahrung haben. Wenn man aber von etwas keine Ahnung hat, sollte man seinen Gefühlen nicht trauen.

Unsere Gesellschaft hegt ein Misstrauen gegen alles Intuitive. Psychologen zeigen mit einem Experiment nach dem anderen, dass Intuition irreführend sei. Am Anfang von Schnelles Denken, Langsames Denken betont ­Daniel ­Kahneman, zeigen zu wollen, dass Intuition falschliegt. In dieser weitverbreiteten Forschung wird aber fast nie versucht, zu verstehen, wann Intuition richtigliegt. Das ist die falsche Spur.

Ein erfahrener Golfspieler zum Beispiel muss seiner Intuition folgen, ich weiß das aus meiner eigenen psychologischen Forschung. Für einen Anfänger gilt das nicht. Spieler in einer Trainingsgruppe reagieren ganz unterschiedlich, je nachdem, ob sie Anfänger sind oder Experten. Wenn die Anweisung kommt, beim Putten auf die eigenen Bewegungen zu achten, verbessern sich die Anfänger. Die erfahrenen Golfer hingegen verschlechtern sich, weil sie plötzlich bewusst über etwas nachdenken, was sie sonst unbewusst richtig machen.

Ich habe viele Topmanager gebeten, ihre letzten zehn wichtigen beruflichen Entscheidungen zu bewerten: Wie viele davon waren am Ende Bauchentscheidungen, also intuitiv? Sie haben mir gesagt, dass rund 50 % ihrer Entscheidungen am Ende aus dem Bauch heraus kamen. Dieselben Entscheider würden das nie öffentlich zugeben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer weniger Führungskräfte Verantwortung übernehmen wollen. Ich habe beobachtet, dass viele Entscheidungen intuitiv getroffen werden, was aber niemand so kommuniziert, aus schierer Angst. Da beauftragt man lieber jemand, im Nachhinein die passenden Gründe und Fakten zu finden.

Experience Report
Portrait of Neelima Mahajan
Neelima Mahajan
Neelima Mahajan ist Chefredakteurin von Think:Act. Sie hat seit zwei Jahrzehnten als Wirtschaftsjournalistin für verschiedene Publikationen in Indien und China gearbeitet, unter anderem war sie Mitglied des Gründungsteams der indischen Ausgabe des Magazins Forbes. Von 2010 bis 2011 war sie Gaststudentin an der University of California in Berkeley und Stipendiatin der Bill und Melinda Gates Foundation für ein Reportageprojekt über Afrika. Majahans Leidenschaft sind Management-Themen. Sie hat zahlreiche renommierte Managament-Vordenker, Nobelpreisträger und Unternehmenslenker interviewt. 2010 erhielt sie den Polestar Award for Excellence in IT and Business Journalism, einen der renommiertesten Journalistenpreise Indiens.
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Veröffentlicht April 2023. Vorhanden in
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