Blick auf ein durch Sinn bestimmtes Geschäftsmodell

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Blick auf ein durch Sinn bestimmtes Geschäftsmodell

24. Juli 2018

Jaipur Rugs bringt seine Produkte mit sinngerichteten Innovationen und einem etwas anderem Geschäftsmodell auf den globalen Markt

Artikel

von Kunal Talgeri
Fotos von Florian Lang

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"The purpose principle – missions give businesses strength"

Die sandige Bilderbuchlandschaft des indischen Staates Rajasthan ist zur Kulisse für ein zukunftsweisendes neues Geschäftsmodell geworden. Für Nand Kishore Chaudhary und sein Unternehmen Jaipur Rugs ist der Grund für den globalen Erfolg einfach: Bleiben Sie fokussiert auf Ihren Zweck und die Belohnungen werden folgen.

Hitze und Staub. Noch immer wird dieses überkommene Klischee manchmal benutzt, um ganz Indien zu beschreiben. Aber in Manpura, einem Dorf im nordwestlichen Bundesstaat Radschastan, passt es perfekt. Der Staub ist allgegenwärtig und die Temperaturen in einer der heißesten Wüstenregionen der Welt sind nahezu unerträglich. Obwohl der Sommer gerade erst begonnen hat, hat das Thermometer schon jetzt die 37°-Celsius-Marke überschritten. Zwei Kamele trotten vorbei, beladen mit Lasten von Dorfbewohnern, die ihnen folgen. Aber die Trägheit täuscht. Unter einer Hausveranda werkeln viele fleißige Hände. Im Haus von Shanti gilt Hitze nicht als Entschuldigung, langsamer zu arbeiten oder gar eine Pause einzulegen.

Die 36-Jährige arbeitet hart. Sie tut, was sie seit fast 20 Jahren tut: Weben. Ihr Haus ist gleichzeitig ihre Fabrik. Während sie mit einem Faden hantiert, ruft sie Anordnungen in den Raum hinein – gerichtet an die sechs Weberinnen, die hier für sie arbeiten. Es ist eine beachtliche Leistung, dass Shanti eine Position mit Verantwortung und finanzieller Unabhängigkeit erreicht hat. Sie gehört zur Webergemeinde. Zu Menschen, die nicht nur zu den schlechtbezahltesten des Landes zählen, sondern zudem als "Unberührbare" unter dem verkrusteten, ausbeuterischen Kastensystem leiden, das in vielen Teilen Indiens noch immer existiert. Ihr Weg nach oben hat viel mit einer fortschrittlichen Geschäftsidee zu tun, aber auch mit ihrer Zähigkeit und Sorgfalt.

95% seiner Umsätze macht Jaipur Rugs mit Exporten, unter andrem in Möbel und Bauhausketten in den USA.

Mit 13 Jahren erlernte Shanti das Weben, kurz bevor sie verheiratet wurde – so wie es den gesellschaftlichen Normen der Region entspricht. Keine drei Jahre später gebar sie das erste Kind. Die Arbeit am Webstuhl war ein täglicher Kampf ums Überleben – verschlimmert durch Zwischenhändler, die sie um den Lohn betrogen. Wie andere Weber in Manpura musste sie sich Geld leihen, um Garn für Teppiche zu kaufen, und war völlig abhängig von professionellen Vermittlern, die Kunden für sie suchten. Der Lohn für ihre Arbeit war selten angemessen, meist verdiente sie keine acht US-Dollar im Monat – zu wenig, um eine Familie zu ernähren. Als ein Kunde sich weigerte, für zwei Teppiche zu bezahlen, musste sie sich als Hilfsarbeiterin auf Baustellen verdingen, zerhämmerte Steine und schleppte Lehm durch die Wüstenhitze.

Der Agent des Wandels in Shanti's Leben kümmerte er sich nicht um Kasten und soziale Normen

Wer Shanti heute sieht, ahnt nichts von dieser Vorgeschichte: Sie ist der Versorger ihrer inzwischen sechs Kinder, verdient mehr als 75 US-Dollar im Monat und beschäftigt in ihrem Haus 25 Weberinnen, deren preisgekrönte Teppiche in den USA, Europa und der Türkei verkauft werden. Dass ihr Leben eine andere Wendung nahm, verdankt sie Nand Kishore Chaudhary und seinem Unternehmen Jaipur Rugs, das derzeit 23 Millionen US-Dollar wert ist. So wie weitere 39.000 mittellose indische Kunsthandwerker. Chaudhary setzte sich über gesellschaftliche Normen hinweg, indem er ausgerechnet "Unberührbare" zum entscheidenden Baustein seines Geschäftsmodells machte.

Chaudhary wollte ein Unternehmen aufbauen, das Sinn stiftet. Und er hatte eine einfache Vorstellung davon, wie man das anstellt: Stell die Menschen in den Mittelpunkt. "Unser Job ist es lediglich, die Weber mit ihren weltweiten Kunden in Verbindung zu bringen", sagt er. Von Anfang an setzte er auf globale Standards und Prozesse. Sonst hätte er keine Käufer gefunden. Er führte Arbeitsschutzmaßnahmen ein, die die Gesundheit der Arbeiter bei Jaipur Rugs erhalten. Um sich von den Mitbewerbern im Teppichgeschäft abzuheben – und um das Vertrauen der Weber zu gewinnen. Jaipur Rugs ist ein Beispiel dafür, dass Unternehmen Gutes tun können, ohne dass dies auf Kosten der Profitabilität ginge: Mehr als 95% der Einnahmen stammen aus Exporten. "Bei uns geht es darum, Beziehungen zwischen Menschen aufzubauen", sagt Chaudhary. "Es ist falsch, wenn nur das Unternehmen wächst. Wir wollen, dass die Menschen in unserem Unternehmen wachsen – von innen. Lernen sie etwas? Entwickeln sie ihre Fähigkeiten und ihre Führungskraft weiter? Das ist das einzige Wachstum, das ein Unternehmen am Leben erhält."

Weit gebracht: Wie Bimla Devi den German Design Award gewann
Bimla Devi aus dem Dorf Aaspura in Radschastan arbeitet seit rund zehn Jahren für Jaipur Rugs. Mit dem Design für einen Teppich gewann sie den German Design Award 2018, den sie in Frankfurt entgegennahm. Dies ist ihre Geschichte.

Wenn ich am Webstuhl sitze, will ich einfach nur weben und nicht mehr aufhören. Der große Unterschied bei Jaipur Rugs ist, dass wir alle gleiche Chancen haben, unabhängig von Geschlecht und Kaste. Das ermöglicht mir, meine Familie zu versorgen. Und meine 12 und 13 Jahre alten Kinder können jetzt zur Schule gehen.

Ich brauchte zwei Tage, um das Design für den Teppich zu entwerfen, mit dem ich den Award gewonnen habe. Das Bild war inspiriert von einem Shakarpara, einer indischen Süßspeise. Von meinem Sieg erfuhr ich vergangenen November, unser Filialleiter sagte mir: "Du brauchst einen Reisepass." Meine Familie war beunruhigt, weil ich so weit reisen musste.

Bis zu diesem Flug hatte ich noch nie so viele Sitze auf einmal in einem Fahrzeug gesehen!

In Frankfurt gab es so viele Geschäfte und ich war überrascht, dass die Menschen sogar für Wasser bezahlen. Und dass Alkohol viel leichter zu bekommen war als Wasser!

Es ist ein schönes Gefühl, dass man unsere Arbeit anerkennt, und als ich aus Frankfurt zurückkam, musste ich allen Familienangehörigen davon erzählen. Jetzt wollen es mir auch andere nachmachen. Ich arbeite in anderen Dörfern, um weitere Weber für Jaipur Rugs anzuwerben und meine Erfahrung an sie weiterzugeben.

Vor meinem Flug hatten mich viele Frauen gefragt, wie ich in einem so weit entfernten Land zurechtkommen würde. Aber anschließend waren sie stolz darauf, dass jemand aus unserem kleinen Dorf es so weit in die Ferne geschafft hat. Ich war niemals zuvor in einer anderen Stadt in Radschastan und schon gar nicht in Indien oder gar Europa! Wenn ich Mr. Chaudhary wieder sehe, werde ich ihm sagen, dass ich mir wünsche, mit dem CAD-Design-Team in Jaipur zu arbeiten.

Garn und andere Rohstoffe werden direkt an die Handwerker geliefert

Zudem betrachtete Chaudhary seine Weber nicht als Angestellte, sondern als selbstständige "Artisans", als Kunsthandwerker. 1978 schuf er das "Türschwellen-Unternehmertum". Die Idee: Jaipur Rugs liefert den Artisans Garn und andere Materialien nach Hause. Manche von ihnen haben noch nie ihr Dorf verlassen, einen jener entlegenen kleinen Flecke, die sich über das Land zerstreuen. Orte, an denen es nichts gibt, mit dem man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, außer etwas saisonabhängigem Ackerbau. Jaipur Rugs lernt seine Weber sorgfältig an, bis sie aus dem Garn, das an ihre Haustür geliefert wird, Teppiche auf Weltmarktniveau produzieren, die etwa in der Baumarktkette Home Depot oder dem Einrichtungshaus Crate and Barrel verkauft werden.

Chaudhary kommt selbst aus einem kleinen Dorf. Er hatte keine echte Erfahrung darin, wie man ein Unternehmen führt. Stattdessen las er Bücher. Über die Jahre brachte er sich selbst Managementkonzepte wie "Six Sigma" und "Zero Defects" bei, die er später in seinem Unternehmen implementierte. "Mir war klar: Wenn wir auf Dauer erfolgreich sein wollen, müssten wir drei Bedingungen erfüllen: keine Fehler, keine Verschwendung und pünktliche Lieferung."

"Es ist falsch, wenn nur das Unternehmen wächst. Wir wollen, dass die Menschen in unserem Unternehmen wachsen."
Portrait of Nand Kishore Chaudhary

Nand Kishore Chaudhary

Gründer und CEO
Jaipur Rugs

Nand Kishore Chaudary: ein Selfmademan mit internationalem Prestige

Sein Modell hat Wirtschaftsdenker und Marktbeobachter fasziniert. Nicht nur wegen seiner Profitabilität, sondern vor allem wegen seines Ansatzes, Menschen in den Vordergrund zu stellen und ein Geschäft auf Weltniveau um eine über das Land verstreute Gruppe von Kunsthandwerkern herum zu bauen. Eliteuniversitäten wie Harvard und Wharton luden Chaudhary als Gastredner ein. Aber was vielleicht am meisten über sein Unternehmen aussagt, stammt vom Business-Guru C. K. Prahalad. In einer Jubiläumsausgabe seines gefeierten Buchs The Fortune at the Bottom of the Pyramid: Eradicating Poverty Through Profits schreibt er, dass Jaipur Rugs sich darauf konzentriert, Fähigkeiten seiner Mitarbeiter weiterzuentwickeln. Dass es regelmäßige Einkommen für Männer und Frauen in den hoffnungslosesten Regionen Indiens schafft und sie mit den Märkten der Reichen verbindet. Chaudhary erfüllt die Anerkennung mit Stolz. "Es macht mich glücklich, wenn meine Erfolge als Maßstab genommen werden". Auch anderen Wirtschaftswissenschaftlern ist sein Unternehmen aufgefallen. "Die Webergemeinde hat ein Gefühl für finanzielle Sicherheit und Eigenverantwortung entwickelt", sagen die Professoren Kaushik Roy vom Indian Institute of Management (IIM) in Kalkutta und Amit Karna vom IIM Ahmedabad in ihrer Studie Doing Social Good on a Sustainable Basis: Competitive Advantage of Social Businesses. Jaipur Rugs habe die Zwischenhändler faktisch verdrängt, indem es seine Teppiche direkt von den zuvor ausgebeuteten Webern bezieht.

Jaipur Rugs' verleiht dem Websektor Legitimität

Worauf es meisten ankommt? Für Chaudhary ist es, dass er die Weber wie Familienmitglieder behandelt und mit einbezieht: "Sie wollen genauso, dass das Unternehmen floriert, wie ich." In den 90er-Jahren verbrachte er acht Jahre in Gujarat, um aus den dort lebenden Stämmen 15.000 Kunsthandwerker zu rekrutieren. In dieser Zeit lernte er die Bedürfnisse der Weber und ihre Familien kennen – was zum nächsten Schritt auf dem Weg zu einer neuen Führungskultur führte: der Jaipur Rugs Foundation (JRF) – einer Stiftung, die auf die sozialen Ansätze seines Unternehmens aufsetzt. Die sechs Kinder von Weberin Shanti lernen durch das JRF-Ausbildungsprogramm Englisch und Mathematik; und auch ihr Mann ist in einem Ausbildungsprogramm eingeschrieben. Darüber hinaus hat die JRF dafür gesorgt, dass 5.000 Weber "Kunsthandwerk-Karten" erhielten, ein wichtiger Schritt zu rechtlicher Absicherung. "Das Wichtigste für uns ist: Wir erhalten das Geld, das uns zusteht", sagt Shanti.

Nur Unternehmen werden in der Lage sein, die sozialen Probleme Indiens zu lösen

Ein verlässliches, angemessenes Einkommen – das ist ihre Definition von Erfolg. Für Jaipur Rugs bedeutet Erfolg: 6.685 Webstühle in 576 Dörfern und eine Umsatzsteigerung zwischen 2013 und 2016 von einer knappen halben Million auf beeindruckende 2,65 Millionen US-Dollar.

Nand Kishore Chaudhary

Nand Kishore Chaudhary gründete das Unternehmen, aus dem 1978 Jaipur Teppiche werden sollten. Sein innovativer Ansatz für die Teppichindustrie hat ihm mehrere Auszeichnungen eingebracht, darunter den India Pride Award 2011.

"In unseren Dörfern schlummern Talente und Fähigkeiten", sagt Chaudhary. "Wir müssen eigene Wege finden, um sie zu erschließen." Darum investierte Jaipur Rugs während seiner Expansion nicht in Geschäftsräume für Weber und Webstühle. Stattdessen suchten seine Leute nach Weberinnen, die Webstühle gegen Vergütung in ihren eigenen Häusern aufstellen konnten. "Das ist logistisch herausfordernd und komplex", sagt Chaudhary, "aber wo könnten wir die Kreativität der Kunsthandwerker besser anzapfen?"

Aber Chaudharys Leistung besteht nicht nur darin, dass er künstlerische Fähigkeiten erkennt und Menschen wie Shanti aus der Armut heraushilft – seine Einstellung zu Wachstum beflügelt neue Geschäftsmodelle, die Sinnhaftigkeit und soziale Verbesserung in den Mittelpunkt stellen. Wenn es um den Sinn von Wirtschaft geht, wird er zum Prediger: "Nur die Wirtschaft kann die sozialen Probleme Indiens lösen. Es gibt keinen anderen Weg. Geschäftsleute haben die Fähigkeiten, die es braucht, um diese Probleme zu lösen. Wenn wir Menschen einen Job geben, geben wir ihnen ganz nebenbei Kleidung und ein Dach über dem Kopf."

Das bedeutet nicht, Geschäfte um jeden Preis oder ungezügeltes Wachstum. Mit Wachstum wachse auch die Gefahr, sich von den Webern an der Basis zu entfernen, sagt Chaudhary: "Das wäre der Anfang vom Ende." Ein wachsames Auge auf das zu haben, worauf es ankommt, ist auch ein wichtiger Aspekt fürs Geschäft. "Sinn ist das Einzige, was zählt. Ohne ihn wird jedes Unternehmen letztlich die Orientierung verlieren." Je größer ein Unternehmen werde, desto mehr müsse es darauf achten, dass "seine Seele am Leben bleibt", sagt er.

Die Seele von Jaipur Rugs: Das sind die Weberinnen. Und diese Seele singt. Während sie die Knoten in die Fäden weben, stimmen sie ein Lied an. Und trotz Hitze und Staub behält Shanti dabei ein Auge auf die Qualität der Teppiche, die ihrer aller Schicksal veränderten.

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Veröffentlicht Juli 2018. Vorhanden in
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