Kunst und Wirtschaft
Künstler eröffnen der Wirtschaft neue Sichtweisen und Techniken. Beides kann den Erfolg Ihres Unternehmens steigern.
K-Pop macht Korea zur kulturellen Supermacht: Binnen weniger Jahre entwickelte sich die koreanische Popmusik zu einem globalen Phänomen, das die Regeln der Musikindustrie außer Kraft setzt. Die Regierung in Seoul betrachtet die Förderung von K-Pop als strategisches Investment.
Ein Blick auf die südkoreanische Boyband BTS, und die Diagnose ist klar: Die ganze Welt ist im K-Pop-Fieber. BTS ist mit Abstand die erfolgreichste K-Pop-Band der Welt. 2019 hat sie im Alleingang unglaubliche 4,65 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet, berichtet The Hollywood Reporter. Laut dem Statistikportal Statista entsprach das 0,3 % der südkoreanischen Wirtschaftsleistung. Zum Vergleich: Korean Air, die größte Fluggesellschaft des Landes, steuerte 0,7 % bei.
Eine Handvoll Entertainment-Firmen dominiert das K-Pop-Business. Sie finanzieren, entwickeln und steuern eine schwindelerregende Anzahl von Künstlern. Zu den Marktführern der Branche gehören Hybe (früher Big Hit Entertainment), SM Entertainment, JYP Entertainment und YG Entertainment. Diese südkoreanischen Firmen produzieren Popmusik im industriellen Maßstab. Dagegen wirkt das US-amerikanische Modell der Fließband-Musikproduktion, in den 1960er-Jahren von Berry Gordy beim Plattenlabel Motown eingeführt, fast liebenswert altmodisch.
Aber wie gelang K-Pop der Sprung aus der Nische zum globalen Erfolg? Zunächst sollte man sich klarmachen, dass die Produktionsfirmen hochkomplexe Maschinen sind. Sie decken jeden kreativen und geschäftlichen Aspekt der betreuten Acts ab, von Platten und Tourneen bis hin zu Merchandise, Markenverträgen und sozialen Medien. Dabei gilt das Prinzip der Koexistenz. Eine ganze Palette sich ergänzender und konkurrierender Acts existiert unter einem Dach. „Es ist, als würde man einen Film produzieren“, erklärt Shin Cho, Leiter der K-Pop- und J-Pop- Abteilung (Japan) für Asien bei Warner Music Korea. „Da entsteht ein ganzes Universum mit Charakteren, die darin eingebettet sind.“
Die Karrieren der K-Pop-Künstler werden minutiös geplant. Der Masterplan reicht oft acht bis neun Jahre in die Zukunft, erklärt Cho. „Die Unternehmen legen fest, wie sich das jeweilige Universum und die Handlungsstränge entwickeln.“ Während manche Karrieren parallel weiterlaufen, werden neue Acts entwickelt, die andere ersetzen, wenn diese ihren Zenit überschritten haben. „Diese Labels arbeiten nicht nur an deiner Musik, deinem Management und deinen Markendeals, sie kümmern sich auch um Essen, Kleidung und Unterkunft", erzählt Musikautor Jeff Benjamin, der seit gut zehn Jahren über K-Pop berichtet.
Neben der K-Pop-Band BTS betreut Platzhirsch Hybe auch TXT, Enhypen, Seventeen und Yehana, um nur einige zu nennen. Die Website des Unternehmens erinnert eher an einen Hedgefonds als an ein Plattenlabel, ein Bereich ist ausschließlich Investoren gewidmet. SM Entertainment wiederum vertritt Pop-Acts, Schauspieler, Models und Sportler. Das Unternehmen hat aktuell mehr als 40 Musiker unter Vertrag. All diese Acts sind präzise aufeinander abgestimmt und sollen mehrere Zielgruppen gleichzeitig ansprechen. Ein Verfahren, das den klassischen Regeln der Popmusik widerspricht. „Strategisch kann man Gruppen in verschiedene Einheiten teilen“, erklärt Cho. „Man kann vierköpfige Gesangsgruppen oder mehrere Singer-Songwriter-Acts haben, und man kann auch Rapper und Tänzer einbauen. Das funktioniert wie ein Puzzlespiel.“
Während die südkoreanische Girlgroup Blackpink aus vier Mitgliedern besteht, sind es bei BTS sieben, Seventeen besteht aus 13 und Neo Culture Technology kommt auf 23 Mitglieder. Diese sind praktischerweise in Untergruppen aufgeteilt, sodass sie mehrere Zielgruppen gleichzeitig ansprechen. K-Pop-Beobachter Benjamin meint, dieses Hybridmodell sei kalkuliert. „Ein zentraler Punkt des K-Pop ist, dass diese Gruppen oder sogar die Solosänger mehrere Vorlieben ansprechen“, sagt er. „Als ich meinen ersten K-Pop-Song hörte, war ich überwältigt – in einem Moment klang das wie eine Ballade, dann waren da Rap-Elemente, aber es gab auch Dance-Break und Autotune.“ Anders ausgedrückt: Für jeden ist etwas dabei.
Mehrere Schwerpunkte zugleich verfolgen, sowohl produktübergreifend als auch innerhalb der Produkte, das ist die Erfolgsstrategie des K-Pop. Da alles zentral gesteuert wird, können Produkte gleichzeitig entstehen, ihren Höhepunkt im Vermarktungszyklus erreichen und auslaufen. Und ein Produkt kann das vorherige ersetzen, wenn es das Ende seines Lebenszyklus erreicht. Apple verfolgte diese Strategie schon beim iPod: Durch kluge Produktdifferenzierung konnten sich Kunden je nach ihren Bedürfnissen am Apple-Portfolio bedienen.
Eine Besonderheit des K-Pop ist die Industrialisierung des Fanwesens. Fans werden aktiv zum Teil des Projekts gemacht und sollen nicht nur passive Konsumenten sein. „Die K-Pop-Unternehmen setzen bei der Hauptzielgruppe an“, erklärt Cho. „Von Anfang an geht es darum, direkt eine Fangemeinde zu schaffen, anstatt zuerst das öffentliche Interesse zu wecken und so eine Fanbasis aufzubauen.“ Benjamin stimmt zu: „Im K-Pop geht alles zuerst immer an die Fans. Der Wettbewerbsdruck ist einfach zu groß. Man kann seine Fans jederzeit an eine andere Gruppe verlieren.“
„Weverse ist ein Paradebeispiel für diese Vorgehensweise. Die maßgeschneiderte Social-Media-Plattform wurde 2019 von Hybe entwickelt. Weverse kontrolliert alle Fan-Daten, Plattformen wie Twitter bleiben außen vor. „Das ist eine brillante Plattform, zum ersten Mal konnte sich BTS direkt an seine Fans richten“, sagt Benjamin. Die Plattform Weverse ist sowohl Community-Hub als auch Onlineshop: Fans bekommen exklusive Inhalte und kaufen dort Fanartikel. „Das Unternehmen macht alles selbst, die Gewinnspanne ist größer“, erklärt Benjamin. Cho meint, BTS habe den Umgang mit Fans grundlegend verändert. Früher bestand der Managementansatz aus einer Kombination von mysteriöser Distanz und Fanbetreuung, sagt er.
„BTS geht weit über das normale Maß hinaus und tauscht sich mit den Fans aus. Bei der K-Pop-Strategie braucht man ständig neue Inhalte, sonst langweilt sich das Publikum.“ Die alten Spielregeln angloamerikanischer Popmusik gelten nicht mehr. K-Pop und lateinamerikanische Musik verändern die Weltsprache der Popmusik. Weverse startete 2020 ein Tutorial – internationale Fans lernen hier mithilfe von BTS-Texten Koreanisch und finden so Zugang zur K-Pop-Welt. Auf YouTube übersetzen koreanische Fans Interviews und Musikvideos.
Die globale Fangemeinde des K-Pop besteht heute aus polyglotten Weltbürgern, die sich mit einem Mix aus Englisch und Koreanisch austauschen. Diese Strategie wird mit zusätzlichen Einnahmen belohnt. K-Pop-Firmen motivieren Fans, ihre eigenen Inhalte beizutragen („user generated content“), daneben finden sich auf den Plattformen die Werbebotschaften der Firmen und Bandmitglieder. Konkurrenzprodukte? Keineswegs. „Für K-Pop galten in Korea zu Beginn nicht so strenge Copyright-Regeln wie auf westlichen Märkten", erklärt Cho. Die Fans werden dabei nicht nur als Kunden wahrgenommen, sie sollen zugleich neue Fans rekrutieren. BTS-Fans nennen sich nicht ohne Grund ARMY – ein Akronym für „Adorable Representative M.C. for Youth“, frei übersetzt etwa „Bezaubernde Vertreter des Militärkomitees für die Jugend“.
K-Pop-Unternehmen wollen wachsen, aber es geht ihnen nicht um die allerneuesten Markttrends oder eine Omnipräsenz auf den Märkten. Neue Gelegenheiten und Technologien werden zunächst sorgfältig geprüft, der optimale Zeitpunkt für den Markteintritt genau abgewogen. Natürlich entstehen dabei Fehler. Für die K-Pop-Vermarkter gehört es allerdings zur Geschäftsstrategie, diese öffentlich einzugestehen.
Wirtschaftlicher Erfolg und der Beitrag zum globalen Kulturexport hat aus den Protagonisten des K-Pop mächtige Player gemacht, die zunehmend auch Einfluss auf die Politik des Landes gewinnen. Das weltweit erfolgreiche Musikuniversum des K-Pop steht für ein neues Korea, zusammen mit TV-Erfolgen wie Squid Game und dem Kinofilm Parasite. „Der Durchbruch von Gangnam Style und dem Sänger PSY im Jahr 2012 spielte dabei eine große Rolle“, sagt der Musikjournalist Benjamin. „Ich glaube, vielen Leuten hat das gezeigt, wie viel Spaß koreanische Musik macht und wie spannend sie sein kann.“ Für Cho ist K-Pop Ausdruck des koreanischen Nationalstolzes nach der Unabhängigkeit im Jahr 1948, ökonomisch wie kulturell. Die koreanische Kultur ist geprägt von der Denkweise: „Wir können das, also machen wir es gemeinsam“, erklärt Benjamin. „Die Regierung hat immer die Idee gefördert, dass Korea auf der Weltbühne auftritt.
Die Regierung in Seoul steckt beachtliche Finanzmittel und sehr großen Aufwand in den globalen Kulturexport. Sie betrachtet die Förderung der K-Pop-Industrie als strategisches Investment, mit dem die koreanische Volkswirtschaft langfristig gestärkt wird. Der Einfluss von K-Pop im Mutterland der neuen Boygroups ist mittlerweile so groß, dass Politiker der Regierung kürzlich öffentlich darüber diskutierten, die BTS-Mitglieder von der Wehrpflicht zu befreien – das wäre eine Ausnahmeregelung, die in Korea bislang nur für international erfolgreiche Sportstars infrage kam. K-Pop ist somit nicht nur ein ökonomisches Kraftzentrum, weil es traditionelle Regeln bricht; sondern K-Pop hat vor allem deshalb einen so enormen wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss, weil seine wichtigsten Akteure völlig neue Regeln aufstellen.
Künstler eröffnen der Wirtschaft neue Sichtweisen und Techniken. Beides kann den Erfolg Ihres Unternehmens steigern.