KI neu denken
KI verändert unser Leben und unsere Arbeit. Diese neue Ausgabe des Think:Act Magazins erforscht, was das für C-Level-Manager bedeutet.
von Steffan Heuer
Kunstwerk von Carsten Gueth
Chatbots sind ein Ersatz für echte Unterhaltungen. Doch wie lange noch? KI wird die Bedeutung menschlicher Beziehungen verändern.
Unsere komplexe Grammatik ist der wichtigste Unterschied zwischen der menschlichen Sprache und der Kommunikation zwischen Tieren. In einer Welt, in der fortgeschrittene KI-Systeme sich nun aber als menschliche Gesprächspartner ausgeben, uns zuhören, befragen, anstupsen und beizeiten sogar verhöhnen oder trösten, wird immer unklarer, was überhaupt noch als echte menschliche Sprache gilt.
Wenige sind sich der Möglichkeiten und Gefahren dieser maschinellen Fertigkeiten so stark bewusst wie Eugenia Kuyda. Die gelernte Journalistin begann um 2012, im Silicon Valley mit Chatbots zu experimentieren; anfangs, um Restaurantempfehlungen zu verbessern. Lange vor ChatGPT erschien 2017 ihr Chatbot Replika, den sie ursprünglich dafür entworfen hatte, Gespräche mit einem tragisch verunglückten Freund zu reproduzieren.
Bis heute geht es bei Replika darum, mit jemand zu sprechen, der tatsächlich nicht da ist. Personalisierte virtuelle Freunde beschäftigen sich mit Nutzern, um Leerstellen in deren Leben zu füllen. "Als jemand, der den Großteil seines Lebens mit Worten verbracht hat, fragte ich mich immer wieder, warum wir den ganzen Tag reden", erinnert sich Kuyda. "Wir brauchen Gespräche, um uns besser zu fühlen und weniger allein. Das ist ein Grundbedürfnis." Ob KI-Apps gesellschaftliches Potenzial haben, hängt für sie davon ab, ob Entwickler solche lebenserhaltenden Gespräche bauen oder nachbauen können – und zu welchem Grade solche Kräfte losgelassen werden sollten auf die Hunderte von Millionen Menschen, die sich einsam fühlen oder einfach nur missverstanden von ihren "Fleshie" Zeitgenossen, als die die Tech-Welt Menschen manchmal verspottet.
Das Ausloten der Nuancen menschlicher Gespräche, samt ihrer Emotionen, Ängste und Täuschungen, ist etwas ganz anderes, als Chatbots zu bauen, die alltägliche Dinge wie das Buchen eines Tisches oder die Bedienung eines komplizierten Gadgets vereinfachen. Für Kuyda sind es die "tief hängenden Früchte" ihrer Branche. "Gespräche, in denen man Dinge erledigt, haben keinen wahren Wert – wertvolle Gespräche haben nämlich normalerweise kein praktisches Ziel", erklärt sie. "Leider konzentrieren sich die meisten Unternehmen auf die praktischen Gespräche, die nur eine Schnittstelle zur Problemlösung darstellen. Das hat einen monetären, aber keinen menschlichen Wert."
Sprechende Chatbots sind nichts Neues. Der berühmteste ist ELIZA, 1966 vom Informatiker Joseph Weizenbaum am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelt. Das Programm überraschte seine Benutzer mit seinem neckischen Wortgeplänkel. Ein Skript namens DOCTOR spuckte die Art von offenen Fragen aus, die Psychotherapeuten verwenden. Nicht nur seine Sekretärin ließ sich von ELIZA täuschen, wie Weizenbaum herausfand. Später bereute er seinen Ausflug in dieses unerforschte Gebiet, wie er 1976 in seinem Buch Computer Power and Human Reason schrieb: "Normale Menschen einem relativ einfachen Computerprogramm auszusetzen, konnte mächtige Wahnvorstellungen auslösen. Das hatte ich nicht erkannt."
Eugenia Kuyda wurde in Moskau geboren, studierte Journalismus in Mailand und graduierte am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen und an der London Business School, bevor sie in die Technologiebranche wechselte. Ihr Unternehmen Luka bietet zurzeit drei Chatbotdienste an: Replika, Blush und Tomo.
Weizenbaums entscheidende Erkenntnis war, dass in eine solche, damals noch recht simple Scharade Beschränkungen eingebaut werden sollten: "Ganz gleich, wie intelligent die Maschinen werden, die wir entwerfen – so gibt es doch einige Denkakte, die nur von Menschen versucht werden sollten." Der Informatiker meinte damit, dass Programmen die innere Entwicklung und die introspektiven Fähigkeiten von Menschen fehlen. "Was könnte es bedeuten", sinnierte er, "von Risiko, Mut, Vertrauen, Ausdauer und Überwindung zu sprechen, wenn man von Maschinen spricht?"
Seit Weizenbaums Warnungen hat sich vieles verändert. Informatiker diskutieren, nach welchen Maßstäben das Bewusstsein einer Maschine zu messen wäre, während Linguisten darauf hingewiesen haben, dass die heutigen großen Sprachmodelle nichts als "stochastische Papageien" sind, die Wörter nach Wahrscheinlichkeiten aneinanderreihen, ohne sie oder den größeren Kontext zu verstehen. Aber die Welt steht zweifellos unter dem Einfluss tragbarer Supercomputer und Apps mit maximalem Suchtpotenzial – zugleich ist unsere psychische Gesundheit so angegriffen, dass es nicht mehr ausreichend menschliche Therapeuten gibt.
Für KI-Pioniere wie Kuyda bietet diese Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage nach menschlicher Verbindung eine zweifache Chance. Wenn 86 % der Weltbevölkerung ein Smartphone besitzen, warum sollten Chatbots uns dann nicht zuhören, ermutigen oder mit uns flirten? "Es grassiert eine Pandemie der Einsamkeit, und mit einem Therapeuten zu sprechen unterscheidet sich nicht so sehr vom Sprechen mit einer Maschine, beides basiert auf einem Vertrag." Sobald diese Maschine klug genug wird und sich echt genug anfühlt, reiche das aus, behauptet Kuyda.
Nach der Einführung von Replika mit inzwischen monatlich mehr als zwei Millionen Nutzern hat sich Kuyda nun auch in den Dating- und Wellnessbereich gewagt: Blush ist eine Dating-Simulator-App, Tomo eine Wellness- und Meditations-App mit einem KI-generierten Avatar-Guide. Dennoch könnten diese simulierten Gespräche nicht alles leisten. So sollten sie reale menschliche Interaktion lediglich ergänzen, nicht ersetzen. "Es kommt darauf an, wie man es designt – es könnte in beide Richtungen gehen", gibt sie zu. "Momentan helfen wir Menschen bloß, ein wenig Selbstwertgefühl aufzubauen, um dann Verbindungen zu echten Menschen herzustellen."
Aber sie ist sich bewusst, dass alles ganz anders enden könnte: Dann wären Chatbots tief in unser Leben eingebettet, tragbar und als virtuelle Realität. Programme könnten auf unsere Kalender, Chats und Daten zugreifen, um aus heiterem Himmel ein Gespräch anzufangen: "Du hast seit Wochen keinen Kontakt zu deinen engsten Freunden aufgenommen und hast heute nicht auf die E-Mail deines Partners geantwortet. Lass uns über dein Leben sprechen!" Solche umgebungsintegrierten Assistenten würden eine Illusion von Empathie und Komfortabilität errichten, was ihre Nutzer aber noch weiter von menschlicher Interaktion entfernen könnte. Deshalb arbeiten Unternehmen von Snapchat und Google bis hin zu Facebook an Programmen, die den Lebensberater oder das romantische Gegenstück mimen können.
Wollen wir also, dass schon Minderjährige mit synthetischen Begleitern aufwachsen? Noch nicht, sagt Kuyda, und verweist auf ihre eigenen zwei jungen Kinder. "Diese Technologie könnte enorm wertvoll werden für Kinder und Jugendliche, aber das müssen wir zuerst mit Erwachsenen herausfinden", erklärt sie. Dabei hat die Technologie bislang nur die Oberfläche gestreift. Es ist durchaus möglich, einen Chatbot die Gehirnsignale von Menschen entschlüsseln zu lassen – eine gruselige Aussicht. Deshalb hat die UNESCO die ungewöhnliche Warnung ausgesprochen, dass schnelle Fortschritte bei Hirnimplantaten und Scans in Verbindung mit KI eine Bedrohung für die "mentale Privatsphäre" darstellen.
Schon heute sind soziale Medien tief in die menschliche Interaktion eingedrungen. Personalisierte KI könnte hier zu einem zusätzlichen Weg in einen Zustand werden, den die renommierte Soziologin Sherry Turkle vom Bostoner MIT "zusammen allein" nennt. Eine solch tiefgreifende Veränderung würde irgendwann jeden dazu zwingen, darüber nachzudenken, was es bedeutet, Beziehungen zu Systemen aufzubauen, denen einige Experten bereits Zeichen von Bewusstsein zuschreiben.
KI verändert unser Leben und unsere Arbeit. Diese neue Ausgabe des Think:Act Magazins erforscht, was das für C-Level-Manager bedeutet.