KI und der Vorstand

Think:Act Magazin "KI neu denken"
KI und der Vorstand

15. Mai 2024

Warum KI einen Sitz im Vorstand verdient

Artikel

von Steffan Heuer
Kunstwerk von Carsten Gueth

Eine kulturelle Evolution ist nötig: KI-Tools sind der neueste Schritt in der Unternehmenstransformation. Dabei sollten Führungskräfte neugierige, schnelle Lerner sein.

Als die Ökonomen Andrew McAfee und Erik Brynjolfsson vor zehn Jahren ihren Best­seller The Second Machine Age veröffentlichten, wagten sie eine mutige Vorhersage: "Für unsere geistigen Fähigkeiten bedeuten Computer und andere digitale Fortschritte … das, was die Dampfmaschine und ihre Nachkommen für die Muskelkraft bedeutete. Sie erlauben uns, frühere Grenzen zu sprengen, und führen uns in neues Terrain."

Andrew McAfee, Professor, MIT Sloan School of Management.
Andrew McAfee, Professor, MIT Sloan School of Management.

Das kann man wohl sagen. Unternehmen aller Größen versuchen sich in GenAI-Anwendungen. Dabei geht es um die Suche nach neuen Materialien und Medikamenten, die Optimierung von Fertigungsprozessen oder die Analyse von Investitionsmöglichkeiten; sie lassen GenAI programmieren, Marketingkampagnen entwerfen und Videoclips schneiden. Alle diese Aufgaben erforderten früher viele Stunden menschlicher Arbeit. Das Marktforschungsunternehmen International Data Corporation (IDC) erwartet, dass der weltweite Markt für KI-Software von 64 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 bis 2027 auf fast 251 Milliarden wachsen wird. GenAI-Plattformen und Anwendungen würden weitere 28,3 Milliarden US-Dollar hinzufügen. Das wirtschaftliche Gesamtpotenzial des KI-Einsatzes dürfte in die Billionen gehen.

Wie also sollten CEOs reagieren? Wollen sie diese neuen, beispiellosen Fähigkeiten nutzen und dabei die Speerspitze der Technologie bilden – einer riskanten Technologie, die vielleicht auch ihre eigene Entscheidungs- und Führungswelt aus den Angeln hebt?

"Geekige Chefs sind bereit, unkonventionelle Lösungen zu übernehmen. Sie lassen ihrem Umfeld so viel Freiheit, dass es die Komfortzone verlässt."

Andrew McAfee

Professor
MIT Sloan School of Management

Glaubt man McAfee, dann hat der wilde Ritt eben erst begonnen. Um oben zu bleiben, sollten CEOs sich weniger auf die Spielereien von KI-Werkzeugen konzentrieren, rät er, und mehr darauf, die Unternehmenskultur zu verfeinern, in der sie eingesetzt werden. "Auf CEO-Ebene besteht die Aufgabe für das kommende Jahrzehnt darin, einen klareren Überblick darüber zu erhalten, wo GenAI und der Rest des technologischen Werkzeugkastens Auswirkungen haben können, und dann zu versuchen, das Beste daraus zu machen. So schwierig war Transformation noch nie", sagt der Professor an der Sloan School of Management des MIT in einem Interview. "So etwas muss von oben angeleitet werden, anstatt von unten aufzusteigen."

McAfees neues Buch The Geek Way ist ein Leitfaden für dieses neue Zeitalter. KI ist demnach nur ein Aspekt einer digitalen Transformation, die "eine völlig neue Art und Weise erfordert, ein Unternehmen zu führen". Ihm zufolge lösen nicht Softwarepakete Veränderungen aus, sondern neugierige Köpfe, die sich nicht davor fürchten, schnell zu handeln und unbekannte Dinge auszuprobieren.

Geeks sind demnach alle Menschen, die zwei Eigenschaften teilen: "Sie entwickeln eine Leidenschaft für ein sehr schwieriges, sehr wichtiges Problem und können nicht davon lassen. Außerdem sind sie bereit, unkonventionelle Lösungen zu übernehmen. Sie lassen ihrem Umfeld so viel Freiheit, dass es durchaus die Komfortzone verlässt." Den "Weg des Geeks" zu gehen, bedeute, "die Kraft, einen sehr schnellen, iterativen, agilen Entwicklungsansatz für alles von der Softwareentwicklung über den Bau von Autos bis hin zum Starten von Raketen und Satelliten zu nutzen. Die Kraft des agilen Ansatzes ist weitgehend verallgemeinerbar."

Für Unternehmen, die aus einer planungsintensiven Ära stammen, sei so etwas sehr seltsam und ungewohnt: "Es scheint eine dumme Idee zu sein, einfach anzufangen, Dinge zu bauen, die nicht sehr gut sind und nicht sehr gut funktionieren werden. Das scheint chaotisch und riskant, aber ich denke, es funktioniert meistens besser."

Der Dreh- und Angelpunkt der KI-Transformation besteht darin, durch besseres Lernen und neue Innovationsansätze die kulturelle Evolution eines Unternehmens zu beschleunigen. McAfee nennt eine Reihe kultureller Praktiken, die "Iteration vor Planung bevorzugen, Koordination vermeiden und ein gewisses Maß an Chaos tolerieren". Das sei keine höhere Mathematik. "CEOs müssen jetzt keinen Doktor in Informatik machen", beteuert der Forscher. Vielmehr sollten Führungskräfte Hierarchien und Strukturen abbauen und ihre Belegschaft dazu ermächtigen, digitale Werkzeuge zu übernehmen und zu erkunden. So könnte auf allen Ebenen Zeit frei werden, um sich auf das zu konzentrieren, was Menschen am besten können: sich gemeinsam schneller weiterentwickeln.

Andrew McAfee

Andrew McAfee ist Forschungsleiter an der MIT Sloan School of Management und Co-Direktor der MIT-­Initiative zur Digitalwirtschaft. Der ehemalige Harvard­ Professor hat mehrere Bücher geschrieben, darunter Machine, Platform, Crowd: Harnessing Our Digital Future (2017) und The Second Machine Age (2014).

Entgegen einiger düsterer Prognosen wird GenAI laut McAfee keine Führungskräfte ersetzen. "CEOs werden coachen, führen, kommunizieren und motivieren, um große Dinge zu erreichen – unterstützt von KI und vielen anderen Tools." Selbst mittlere Manager müssen sich keine Sorgen machen, ersetzt zu werden. "Die Rolle des Anführers oder Managers wird noch wichtiger. Unternehmen sind unglaublich kompliziert, diese ganze Komplexität wird KI nicht für uns übernehmen."

McAfee kennt viele Führungskräfte von Technologieunternehmen, die so denken und arbeiten. Er betont, dass "Geeks" nicht unbedingt junge Revolutionäre sein müssen: "Mein Prüfstein ist Microsoft. Das Unternehmen gibt es seit fast einem halben Jahrhundert, doch in den 2000er-Jahren lag es bei den Innovationen nicht mehr an der Spitze", erläutert er. "Microsoft war zu einer massiven, verkrusteten Bürokratie geworden, und die Person, die es umgekrempelt und enorme Werte freigesetzt hat, war Satya Nadella. Als er CEO wurde, war er ein langjähriger Mitarbeiter und kein Kind mehr."

Jede Transformation ruft Widerstände hervor. Menschen auf allen Ebenen sträuben sich, wenn das, woran sie gewöhnt sind, erschüttert oder zerschlagen wird. "Immer wenn es eine Art von organisatorischem Wandel gibt – technologisch oder nicht –, werden die Menschen mit einer gewissen Treffsicherheit einschätzen, wieweit sie dadurch an den Rand gedrängt werden. Das liegt nicht ausschließlich an der Technologie. Auch wenn KI noch in den Kinderschuhen steckt, ist klar, dass da etwas Großes kommt. Die Manager, die ich spreche, sind sehr darauf bedacht, da einzusteigen, aber sie erkennen auch, dass die vollständige Integration all dieser Neuerungen schwierig sein wird."

Wer also Manager ist und den Supergeek in sich erst einmal langsam aufpäppeln und dann später von der Kette lassen will, sollte lernen, zunächst einmal seinen Mitarbeitern zuzuhören. Dann folgen sie ihrem Geek auch in ein neues Zeitalter.

KI verändert die Vorstandsetage, den Arbeitsplatz, die Gesellschaft - und unser Privatleben. Lesen Sie hier die andere Teile der Titelgeschichte:
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Steffan Heuer lebt in Berlin und Kalifornien. Seit mehr als zwei Jahrzehnten schreibt er über Technologie, Wirtschaft und Kultur des Silicon Valley, unter anderem für The Economist, die MIT Technology Review und brandeins.
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