Performance: Schneller, Höher, Stärker
Think:Act erforscht alle Faktoren, die mit der Leistung von Individuen und Teams zusammenhängen. Wir bieten Einblicke in Kennzahlen, KI und authentische Führung.
von Detlef Gürtler
Fotos von Getty Images, David Ramos, AFP, Andrej Isakovic
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Haben Wirtschaft und Zehnkampf Gemeinsamkeiten? Ja! Gewinner sehen die Kunst des Erfolgs darin, in verschiedenen Disziplinen Spitzenleistungen zu erzielen.
Citius, altius, fortius. Schneller, höher, stärker. 1894 prägte Pierre de Coubertin, der (Wieder-)Erfinder der Olympischen Spiele, das olympische Motto. Sportler sollten genau das anstreben, wenn sie um Medaillen kämpfen. Doch nur wenigen gelingt das alles gleichermaßen, außer den Siebenkämpferinnen und den Zehnkämpfern.
Viele andere olympische Disziplinen spezialisieren sich auf eine dieser drei Qualitäten. So können etwa Sprinter am schnellsten laufen, aber nicht am höchsten springen. Für die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris sind 329 Wettkämpfe in 32 Sportarten geplant, aber nur zwei davon werden alle drei Elemente des olympischen Mottos abdecken: der Siebenkampf der Frauen und der Zehnkampf der Männer. Im Zehnkampf müssen die Athleten zehn ganz unterschiedliche Herausforderungen meistern, darunter den 100-Meter-Sprint (citius), den Hochsprung (altius) und das Kugelstoßen (fortius).
Was lässt sich daraus lernen? Unternehmen streben üblicherweise die Marktführerschaft in ihrer Branche an. Vor allem dort, wo es nur einen Gewinner geben kann, zum Beispiel in der Softwarebranche oder in der Welt der sozialen Medien. Hier spielt es keine Rolle, wie gut man ist: Wenn nur einer besser ist, ist man raus. Die Belohnung für die Besten ist groß; und damit auch der Anreiz, eine Nische zu besetzen. Das erklärt, warum Messverfahren heute immer mehr in den Fokus rücken. Die Konzentration auf Leistungsindikatoren verstärkt die Tendenz zur Spezialisierung. In unserer datengetriebenen Welt kann man inzwischen fast alles messen, vom Preis-Gewinn-Verhältnis bis zur Kundenbindungsrate. Oft strebt die Chefetage eine gute Platzierung in solchen Rankings an.
Aber ist es für Unternehmen wirklich erstrebenswert, in einem oder in wenigen Spezialgebieten Spitzenreiter zu werden? Oder ist es besser, sich auf ein umfassenderes Ziel zu konzentrieren, also schneller, höher und stärker zugleich zu werden? Aus der Biologie wissen wir, dass es einen Zielkonflikt gibt. Ein Sprinter wie der Gepard ist nicht besonders ausdauernd. Und wer gut in die Höhe greifen kann wie eine Giraffe, kann meist nicht so gut tief graben wie ein Maulwurf. Doch je mehr man sich spezialisiert, desto abhängiger wird man von der Stabilität seiner jeweiligen ökologischen Nische. Jede größere Störung kann schnell das Aus bedeuten.
Das Dilemma der Spezialisierung beschränkt sich indes nicht allein auf die Evolution und das Artensterben in der Biologie. Es betrifft ebenso die gesellschaftliche und wirtschaftliche Welt. Viele Stars aus der Stummfilmzeit konnten sich nie richtig an den Tonfilm anpassen. Handyhersteller mussten sich aus dem Markt zurückziehen, als das Smartphone die Welt eroberte. Spezialisierte Berufe wie Holzschnitzer, Kupferstecher und Schriftsetzer wurden vom technischen Fortschritt verdrängt.
Dennoch kann es Sinn ergeben, sich zu spezialisieren. Kommen wir noch einmal auf die Sportanalogie zurück: Ein kleines Unternehmen kann sich in seiner Nische spezialisieren – so wie der Weltklasse-Sprinter Usain Bolt, der immer der Beste war in seiner Spezialdisziplin. Das funktioniert gut, solange sich Regeln und Märkte nicht verändern. Je mehr man sich aber in der freien Wildbahn bewegt – in verschiedenen Märkten, Branchen, Technologien und Kulturen –, desto agiler muss man sich anpassen. Man muss in verschiedenen Disziplinen herausragen, sich unterschiedlichen Umgebungen und Herausforderungen stellen. Es ist einfach unmöglich, auf allen Gebieten ein Usain Bolt zu sein.
Der Vergleich eines Tankers mit einem Sportboot verdeutlicht in diesem Zusammenhang einen weiteren wichtigen Punkt: Das Sportboot ist schneller und wendiger als der Tanker. Wenn das Manövrieren anspruchsvoll ist und das Ziel in der Nähe liegt, gewinnt immer das Sportboot. Wenn es aber das Ziel ist, den Pazifik zu überqueren, geht dem Sportboot schneller der Treibstoff aus. Und zieht dann auch noch ein Sturm auf, ist das Tankschiff sicher die bessere Wahl. In einem länger angelegten Wettbewerb in unbekannten Gewässern sollte ein Schiff somit am besten eine Kombination aus Stärke, Flexibilität und Ausdauer mitbringen. Dumm nur, dass es ein solches Alleskönner-Schiff nicht gibt.
Zurück zu den Olympischen Spielen. Wenn ein Unternehmen dem olympischen Motto folgen will, muss es in etwa so wie ein Zehnkämpfer agieren. Man denke nur an die Gewinner: Daley Thompson (Großbritannien), der beste Zehnkämpfer der 1980er-Jahre, Dan O'Brien (USA, 1990er-Jahre), Ashton Eaton (USA, 2010er-Jahre). Oder nehmen Sie die Besten von heute: Damian Warner (Kanada), Kevin Mayer (Frankreich) und Nafissatou "Nafi" Thiam (Belgien), zweifache Goldmedaillengewinnerin im Siebenkampf der Frauen. Sie müssen fast so gut sein wie die Spezialisten, allerdings in mehreren Disziplinen zugleich.
Nur so können sie sich immer wieder neuen Herausforderungen in einem volatilen Umfeld stellen. Unternehmen, die diesem Bild entsprechen, sind nicht einfach zu finden. Zum einen gibt es keine passenden Leistungsindikatoren, die die Gesamtleistung eines Unternehmens verlässlich erfassen könnten. Außerdem ist von außen kaum zu erkennen, ob ein Unternehmen zur Königsklasse gehört, solange es nicht erfolgreich einen größeren Umbruch bewältigt hat. Denn erst dann zahlen sich Ausdauer und Widerstandsfähigkeit aus.
Beispiel Microsoft: Der IT-Konzern schien beim Ausbruch der Corona-Pandemie gefährlich aus dem Gleichgewicht zu geraten. In Seattle hatte man den Trend zum Homeoffice offenbar nicht kommen sehen, jedenfalls hatte Microsoft nicht die passende Software im Angebot. Zoom, Google Meet, Slack, WhatsApp – Unternehmen setzten zahlreiche Nischenanwendungen ein, um den Laden am Laufen zu halten. Skype for Business aus dem Hause Microsoft konnte sich nicht durchsetzen. Der Nachfolger Teams war im Vergleich zu Shootingstars wie Zoom damals kaum verbreitet.
Doch das Imperium schlug zurück. Microsoft spielte seine Stärken aus. Für IT-Abteilungen sind Microsoft-Anwendungen einfach komfortabel. Als integraler Bestandteil von Microsofts Office-Paket reduziert Teams zum Beispiel Sicherheitsrisiken und Kommunikationsbarrieren. Mitarbeiter konnten nicht nur von zu Hause aus arbeiten, der Arbeitgeber konnte auch ihre Arbeitsleistung so gut kontrollieren, als seien sie vor Ort. Die Überflieger von Anfang 2020 mussten sich wieder in ihre Nischen zurückziehen.
Wie lässt sich Spitzenleistung in unruhigen Zeiten aufrechterhalten? Die Lösung des Zehnkämpfers: ein breit angelegtes, umfassendes Training. Für Unternehmen kann das herausfordernd sein. Wie wollen Sie einen Abteilungsleiter davon überzeugen, Hochsprung zu trainieren, wenn sein Erfolg durch seine Leistung im Sprint gemessen und beurteilt wird? Sie müssen somit mehrdimensionale Leistungsanforderungen in eine Sprache übersetzen, die für Abteilungs- und Teamleiter verständlich ist. Ein Übersetzungsvorschlag stammt vom Innovationsberater und früheren Rugby-Profi Aidan McCullen: permanente Neuerfindung.
Sich neu zu erfinden wird häufig als eine einmalige Angelegenheit verstanden. Man war einmal Läufer und erfindet sich neu als Hochspringer. Doch dieser Ansatz greift zu kurz in einer Welt, die sich mit rasender Geschwindigkeit jeden Tag immer schneller verändert. Gefragt ist eine andere Geisteshaltung. In einer durch ständige Disruption geprägten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwelt kann nur überleben, wer sich permanent neu erfindet. Man bereitet sich darauf vor, in immer neue Rollen schlüpfen zu können, vom Sprinter bis zum Gewichtheber.
In den Nullerjahren war die Handyindustrie Testfeld für einen solchen Ansatz. Hier konkurrierten einige der besten Hightech-Unternehmen der Welt: BenQ Mobile, Palm, Psion. Die meisten Marken sind inzwischen in Vergessenheit geraten. Den hochspezialisierten IT-Konzernen ging die Puste aus, als sich das Marktumfeld änderte. Aber zwei überlebten: Nokia und Motorola. Nokia war einst das wertvollste Unternehmen Europas, verlor aber dennoch das Rennen gegen Apples iPhone. Von 1998 bis 2011 war Nokia die unangefochtene Nummer eins in der Handybranche. 2012 erlitt die Handysparte jedoch erhebliche Verluste, ein Jahr später wurde sie verkauft. Wohlgemerkt die Sparte, nicht das ganze Unternehmen. Nokia entwickelte sich sodann zu einem der weltweit führenden Anbieter von Netzwerktechnologie. Eine ähnliche Entwicklung nahm Motorola. Der Konzern verkaufte die Mobilfunksparte 2012 an Google, andere Geschäftsbereiche florieren bis heute.
Man weiß nie, welche Fähigkeiten in einem spezifischen Marktumfeld künftig gefragt sein werden. Vielleicht ist es Schnelligkeit wie bei der Entwicklung des Corona-Impfstoffs. Vielleicht ist es eine überlegene Technologie. Doch um künftigen Stürmen zu trotzen, sollte man mehrere Fähigkeiten trainieren. Die rasante Digitalisierung, mehr Innovationsdruck, disruptive Geschäftsmodelle: Unternehmen müssen sich auf massive Veränderungen einstellen.
Eine besonders gute Anpassungsfähigkeit war auch einer der Gründe für den evolutionären Erfolg unserer Spezies. Wir sind schnell, aber langsamer als ein Gepard. Wir sind stark, doch schwächer als ein Elefant. Wir können uns anpassen, jedoch nicht so gut wie ein Chamäleon. Dafür sind wir flexibel und lernfähig. Wir brauchen also beides: Unternehmen mit den Qualitäten eines Usain Bolt, und Unternehmen, die es machen wie Dan O'Brien und die Spezies Mensch.
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