In Dekaden denken
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Die aktuelle Think:Act-Ausgabe wirft einen frischen Blick auf die Business-Konzepte der letzten Jahrzehnte – und ihre Bedeutung für die kommenden 20 Jahre.
von Steffan Heuer
Fotos by Pete McBride
Der Colorado River im Westen der USA ist überfordert: durch die Landwirtschaft, industrielles Wachstum und den Wasserbedarf großer Städte. Die Flussanrainer haben die Wasserader schon lange überstrapaziert. Die Klimakrise hat die Situation verschärft. Jetzt stehen harte Entscheidungen an. Daraus lassen sich Lehren für alle ziehen.
In dem dystopischen Thriller Water – Der Kampf beginnt von Paolo Bacigalupi hat sich der amerikanische Westen in eine düstere, ausgedörrte Welt verwandelt. Die Reichen leben in streng bewachten Wolkenkratzern mit üppigen Gärten, Springbrunnen und vertikal angelegten Farmbetrieben. Die Millionen weniger Glücklichen fristen ihr Leben in heruntergekommenen Vorstädten ohne Strom und fließendes Wasser. Sie kämpfen um die gelegentliche Flasche Wasser, die von einer Hilfsorganisation bereitgestellt wird.
In dieser Welt ist Wasser weit mehr als eine Ressource. Wasserunternehmen haben sich in Schurkenstaaten verwandelt, in denen private Milizen dafür sorgen, dass Kalifornien und Las Vegas um jeden Preis mit Wasser versorgt werden. Texas und Arizona sind gescheiterte Staaten, die von Flüchtlingen bevölkert werden, die ihr Leben hinter Stacheldrahtzäunen fristen. Die Dystopie beschwört eine Hölle herauf, die man als reine Science-Fiction verstehen könnte. Doch Mitte der 2020er-Jahre scheint uns jeder Dürrerekord der düsteren Vision ein Stück näher zu bringen.
In der Wirklichkeit ist das Leben rund um den Colorado River schon heute viel bedrohlicher, als es technische Meisterleistungen wie der Hoover- Damm bei Las Vegas vermuten lassen. Der Fluss schlängelt sich über 2.300 Kilometer von den Rocky Mountains südwärts, bevor er in den Golf von Kalifornien mündet. Er versorgt mehr als 40 Millionen Menschen in sieben US-Bundesstaaten und Nordmexiko mit Frischwasser und bewässert insgesamt 22.258 Quadratkilometer Ackerland. Doch bis zu seiner Mündung schrumpft der Fluss zu einem trüben Rinnsal zusammen – das traurige Ergebnis jahrzehntelanger Übernutzung.
50 %: Der Weltbevölkerung müssen zeitweise oder übers ganze Jahr hinweg mit Wasserknappheit kämpfen.
Quelle: UN
Ein ohnehin schon völlig unübersichtliches Geflecht aus anachronistischen Gesetzen und Abkommen, gemeinhin das "Gesetz des Flusses" genannt, wird immer chaotischer. Die Hauptursache hierfür sind die konkurrierenden Interessen der verschiedenen Regionen und der Ressourcenkampf von Landwirtschaft, Städtewachstum und Industrie. Der Klimawandel befeuert die Verteilungskämpfe weiter. Diese explosive Mischung zwingt alle, deren Leben vom Colorado River abhängt, sehr bald zu drastischen Entscheidungen.
Eine Katastrophe hat der menschliche Erfindungsreichtum bislang verhindert. Im knochen- trockenen Bundesstaat Arizona schlängelt sich das Central Arizona Project über 500 Kilometer durch karge Landschaften und ist die Lebensader für die Städte Phoenix und Tucson. In Südkalifornien sind die Farmer auf Wasser angewiesen, das durch zwei massive Betonkanäle fließt: das Yuma Project und den All-American Canal. Und dann sind da noch die riesigen, aber mittlerweile schrumpfenden Stauseen des Lake Powell und des Lake Mead, ohne die es den glitzernden Zauber von Las Vegas nicht mehr gäbe.
Der Vertrag zur Nutzung des Flusses geht auf das Jahr 1922 zurück. Die westlichen Bundesstaaten des oberen Einzugsgebiets – Colorado, New Mexico, Utah und Wyoming – schlossen mit den Bundesstaaten des unteren Einzugsgebiets – Kalifornien und Nevada – den "Colorado River Compact" ab. Arizona und Mexiko kamen im Jahr 1944 hinzu. Auf der Basis von nur 30 Jahren hydrologischer Aufzeichnungen teilte der Vertrag jeder Gruppe 9,3 Kubikkilometer Wasser pro Jahr zu, hinzu kommen weitere 1,2 Kubikkilometer für die Farmer südlich der Grenze. Das war nicht nur sehr optimistisch. Weitgehend unberücksichtigt blieben dabei auch 30 indigene Stämme, die seit jeher am Fluss leben und bis heute vor Gericht um ihre Wasserrechte kämpfen.
2 Mrd.: Menschen weltweit haben keinen Zugang zu sicherem Trinkwasser.
Quelle: UN
Ellen Hanak, Ökonomin und Wasserexpertin am Public Policy Center of California in San Francisco, sagt, das Abkommen habe einen unheilvollen Weg besiegelt: "Die Zuteilungen wurden in einer relativ feuchten Periode und ohne viel Wissen über hydrologische Modelle festgelegt. Dadurch wurde dauerhaft ein fundamentales Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage festgelegt, das bis heute auf rund 20 % gestiegen ist. "Die große Diskrepanz zwischen der Menge Wasser, die der Fluss liefert, und dem, was die Menschen verbrauchen, geriet in Vergessenheit, solange die großen Stauseen genügend Speicherkapazitäten für trockene Jahre vorhielten. "Das System steckt jedoch etwa seit dem Jahr 2000 im Niedergang", sagt Hanak.
Die Sorge um die Wasserversorgung für alle Flussanrainer reicht weit zurück. Der Geologe und Entdecker John Wesley Powell, der 1869 eine historische Expedition den Colorado River hinunter durch den Grand Canyon leitete, warnte schon 1893 auf einer Bewässerungskonferenz: "Ich sage Ihnen, meine Herren, Sie häufen ein Erbe von Konflikten und Rechtsstreitigkeiten über Wasserrechte an. Es gibt einfach nicht genügend Wasser, um alle zu versorgen." Wenig überraschend also, wenn Bundesstaaten, mächtige Wasserbehörden und in jüngerer Zeit auch boomende Städte wie San Diego und Phoenix um den Zugang zur Lebensquelle Wasser kämpfen.
"Die Städte haben ihre Bemühungen zum Schutz der Wasserressourcen wirklich verbessert."
Die anhaltende Megadürre hat die systemischen Mängel eines Systems offenbart, das nicht für das enorme Bevölkerungswachstum, die großflächige landwirtschaftliche Produktion und die Industrialisierung konzipiert worden war. Maßnahmen zum Schutz der Natur wurden erst eingeleitet, als die Not immer drängender wurde. 2026 steht deshalb eine grundlegende Neuverhandlung zwischen allen Beteiligten auf der Tagesordnung. "Wir werden dabei herausfinden müssen, wie wir die Nachfrage auf das langfristige durchschnittliche Angebot senken können – und wie wir das auf wirtschaftlich, sozial und ökologisch vertretbare Weise tun können", sagt Hanak.
Erstaunlicherweise sind es jedoch nicht die Siedlungen und Wirtschaftsbetriebe, die die Krise am meisten befeuern. Laut einer aktuellen Studie stehen Luzerne und Heu für fast die Hälfte der Wasserentnahmen aus dem Fluss. Alle kommunalen, gewerblichen und industriellen Nutzungen machen zusammen nur rund 18 % aus. Hinzu kommt, dass die boomenden Städte im Sun Belt in den vergangenen Jahrzehnten gelernt haben, effizienter mit Wasser zu wirtschaften.
Viele smarte Menschen haben Lösungen gefunden. Die Städte haben ihre Bemühungen zum Schutz der Wasserressourcen wirklich verbessert", sagt Felicia Marcus, die vor ihrem Wechsel nach Stanford das California State Water Resources Control Board leitete. Innovative Ansätze wie eine dürreresistente Vegetation, die Überwachung und Reparatur undichter städtischer Rohrleitungen und die Förderung wassersparender Armaturen haben einen Wandel eingeläutet.
<1 %: des Wasser ist für eine Nutzung durch Menschen zugänglich. Der große Rest ist Salzwasser und in den Polkappen eingefroren oder aus anderen Ursachen nicht verfügbar.
Quelle: EPA
Der Anbau wasserintensiver und qualitativ weniger hochwertiger Nutzpflanzen zur Heugewinnung ist noch aus einem anderen Grund problematisch: Etwa ein Fünftel der Ernten wird als Viehfutter nach Japan, China, in die Vereinigten Arabischen Emirate oder Saudi-Arabien verschifft. Fachleute zählen diese Exporte zu den Milliarden Litern "virtuellen Wassers", die dem System entzogen werden. Landwirte denken deshalb über neue Möglichkeiten der Bewirtschaftung nach, auch weil drastische Einschnitte immer wahrscheinlicher werden. In Gegenden wie dem Imperial Irrigation District in Südkalifornien verkaufen Bauern Wasserrechte an Städte und lassen im Gegenzug Felder brach liegen. Feldfrüchte mit weniger Wasserbedarf oder Erntezyklen anzubauen, wäre ein weiterer Lösungsansatz, um den Wasserverbrauch zu senken.
In manchen Fällen ist die Umstellung auf modernere Methoden jedoch auch mit unbeabsichtigten Nebenwirkungen verbunden. Wenn zum Beispiel Flächen brach liegen, fördert das die Bodenerosion, Staubstürme nehmen zu und invasive Pflanzenarten breiten sich aus. Ohne Bewässerung werden Arten bedroht, die auf das Drainagewasser der Felder angewiesen sind. "Es gibt eine Grenze, wie viel Land man brach liegen lassen kann. Überschreitet man diese, zerstört man das gesamte ökonomische Ökosystem der Landwirtschaft", warnt Marcus. "Ein Bauer kann Geld gegen Wasser eintauschen und sich zurückziehen. Aber was machen der Traktorhändler und der Saatgutverkäufer? Rund um den Anbau von Nahrungsmitteln hat sich ein Wirtschaftszweig etabliert, den wir nicht außer Acht lassen dürfen."
Vielleicht gelingt die Rettung des Flussbeckens ja nur mit ganz neuen Denkansätzen. Der Stanford-Ökonom Paul Milgrom bekam 2020 den Nobelpreis für eine Pionierarbeit verliehen, mit der er der US-Regierung dabei half, Breitband-Frequenzen zu versteigern. Als er sich die verworrenen Wasserrechte ansah, erkannte der Forscher ein ähnlich überkommenes System wie bei den Breitband-Frequenzen: "Wir versuchen, Probleme des 21. Jahrhunderts mit uralter, längst überholter Technik und Gesetzen des 19. Jahrhunderts zu lösen. Im Grunde haben wir es mit einem Problem des Marktdesigns zu tun", sagte Milgrom Ende 2023 bei einem Vortrag über eine mögliche Neuverteilung der Wasserrechte.
Bisher handelt es sich nur um ein Gedankenexperiment, das Milgrom zusammen mit Billy Ferguson, einem seiner Studenten, entwickelt hat: Es zielt darauf ab, Wasser zu jährlich angepassten Preisen an diejenigen zu verteilen, die es jeweils am dringendsten brauchen und bereit sind, entsprechend dafür zu bezahlen. Im Mittelpunkt steht eine freiwillige Auktion, bei der die Regierung zunächst bestehende Rechte von Privaten zurückkauft, um diese dann wieder an die Meistbietenden abzugeben. Diese können dann auch privat mit den Wasserrechten handeln. "Funkfrequenzen und Wasser haben mehr Gemeinsamkeiten, als man glaubt", sagt Ferguson. "Beides sind Ressourcen, deren Rechte vor langer Zeit vergeben wurden, die aber heute besser genutzt werden könnten. Wir haben nicht mit dem mobilen Breitband gerechnet, und der amerikanische Westen hat sich auch nicht so entwickelt wie erwartet."
"Wir versuchen, Probleme des 21. Jahrhunderts mit uralter, längst überholter Technik zu lösen."
Ein flexibler Marktmechanismus, der Angebot und Nachfrage in Einklang bringt, könnte das Problem der übermäßigen Zuweisung von Ressourcen lösen, den Naturschutz fördern und auch das Netz alter Gesetze entflechten. Die Forscher empfehlen, den marktwirtschaftlichen Preismechanismus mit einem Regelwerk zum Schutz schwächerer Bevölkerungsgruppen einzuhegen. "Mir ist bewusst, wie groß die Herausforderung ist", gesteht Ferguson. "Aber ich bin noch jung und voller Hoffnung. Wenn der Colorado River seine Sollbruchstelle erreicht, wollen wir bereit sein."
Der technologische Fortschritt fügt dem Streit um Wasser noch eine weitere Wendung hinzu. Rechenzentren und besonders generative KI-Systeme benötigen sehr viel Wasser [siehe "So viel Wasser verbraucht KI" unten]. Das hält von Dürre geplagte Städte wie Phoenix aber nicht davon ab, um neue Rechenzentren und Halbleiterfabriken zu werben. Während die Metropolregion mit mehr als fünf Millionen Einwohnern inmitten der Sonora-Wüste 2024 immer neue Hitzerekorde brach, umwarb sie Intel und die Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC), um dort drei neue Chipfabriken anzusiedeln – jede von ihnen benötigt jeden Tag Dutzende Millionen Liter reines Wasser.
Vermutlich gibt es keinen besseren Ort als Las Vegas, um die kognitive Dissonanz zwischen der Schuldzuweisung an die Landwirtschaft für die Verschärfung der Wasserkrise und den Verlockungen der Hightech-Industrie zu illustrieren. Eine neue Vergnügungsstätte namens The Sphere ist außen mit 1,2 Millionen dreifarbigen LED-Pucks und innen mit einem 15.000 Quadratmeter großen LED-Bildschirm ausgestattet, der von 150 Nvidia-Grafikprozessoren gesteuert wird. Bei voller Auslastung wird das digitale Monster 28 Megawatt Strom und jedes Jahr bis zu zwei Milliarden Liter reines Oberflächen- und Grundwasser verbrauchen.
Felicia Marcus hält das Albtraum-Szenario aus dem eingangs erwähnten Roman nicht mehr für ganz unrealistisch. Zwar sei eine derartige Dystopie aus heutiger Sicht noch sehr weit entfernt. "Wenn sich aber nichts ändert, könnte das irgendwann passieren. Wir müssen lernen, im Rahmen unserer Möglichkeiten zu leben."
"Die wenigen Daten, die Tech-Unternehmen offenlegen, sind nur die Spitze des Eisbergs."
Ein paar Dutzend Anfragen an einen Chatbot verbrauchen laut Shaolei Ren, Professor an der University of California in Riverside, einen halben Liter Oberflächenwasser. "Die wenigen Daten, die Tech-Unternehmen offenlegen, sind nur die Spitze des Eisbergs. Sie ziehen nicht die gesamte Verbrauchskette von der Stromerzeugung bis zur Chipherstellung in Betracht", sagt Ren.
Die riesige Menge Wasser, um die giftigen Abfälle zu verdünnen, die beim Abbau Seltener Erden entsteht, wird oft übersehen. Seltene Erden sind ein Schlüsselmaterial für die Magnete, die in den Festplatten der Rechenzentren eingesetzt werden. Die Nachhaltigkeitsingenieurin Inez Hua von der Purdue University hat errechnet, dass allein in Ost- und Südostasien mehr als ein Siebtel des gesamten Wassers, das jedes Jahr weltweit aus den Flüssen abfließt, benötigt wird, um nur diese Verunreinigungen zu neutralisieren.
Professor Ren regt an, Technologiekonzerne in die Pflicht zu nehmen. So könnte man etwa Label für Nachhaltigkeitsstandards im KI-Sektor einführen, um den Wasserverbrauch zu senken.
Die aktuelle Think:Act-Ausgabe wirft einen frischen Blick auf die Business-Konzepte der letzten Jahrzehnte – und ihre Bedeutung für die kommenden 20 Jahre.