Klimaneutralität 2050: Die Industrie braucht entschlossenes politisches Handeln
Deutschland will bis 2050 klimaneutral sein. Für die Industrie bedeutet dies eine Kraftanstrengung. Für den Erfolg bedarf es der richtigen Rahmenbedingungen.
Von Heiko Ammermann und Yvonne Ruf
Deutschland will bis spätestens 2050 klimaneutral sein. Für die Industrie bedeutet dies eine gewaltige Kraftanstrengung. Zugleich hat Deutschland die große Chance, eine internationale Führungsposition in einem Klimaschutzmarkt zu erlangen, der bis 2025 ein Volumen von 5,9 Milliarden Euro erreicht haben dürfte. Damit dieses Vorhaben gelingt, muss die Politik jedoch dringend geeignete Rahmenbedingungen schaffen.
Der Klimawandel steht ganz oben auf der globalen politischen Agenda. Im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 hat sich die internationale Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, mit politischen Maßnahmen die Erderwärmung auf deutlich unter 2°C, möglichst 1,5°C, zu begrenzen. Auch Deutschland hat sich diesem Ziel verschrieben. Im Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2019 ist eine Treibhausgasreduktion von 55 % bis 2030 sowie die Erreichung der Klimaneutralität bis 2050 gesetzlich verankert.
Auf dem Weg zu diesem Ziel muss die Industrie einen großen Teil ihrer Infrastruktur modernisieren bzw. ersetzen. Dieses gewaltige Umbauprojekt birgt für Deutschland die große Chance, sich eine Führungsposition im weltweiten Klimaschutzmarkt zu erarbeiten – einem Markt, der bis 2025 ein Volumen von voraussichtlich 5,9 Milliarden Euro haben wird. Damit diese Chance ergriffen werden kann, muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen, welche die schnelle Entwicklung, die Errichtung und den Betrieb von nachhaltigen Technologien und Anlagen fördern. Die derzeitigen politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen sind hierfür nicht geeignet.
Was muss sich also ändern? Nach einem intensiven Dialog mit Unternehmensexpertinnen und -experten aus verschiedenen Industriebranchen skizziert Roland Berger gemeinsam mit dem Thinktank Agora Energiewende und der sektorübergreifenden Initiative Stiftung2° eine Reihe von Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche Industrietransformation.
Um bis 2050 klimaneutral zu werden, muss Deutschland einen ganzheitlichen Wandel seiner industriellen Infrastruktur vollziehen. Dieser Strukturwandel beruht auf fünf Säulen:
Ob neu gedacht oder angepasst – die deutsche Industriepolitik sollte die folgenden vier übergeordneten Ziele in den Fokus nehmen:
Deutschland und Europa müssen weiterhin Heimat von produzierenden Industrieunternehmen bleiben. Diese sichern nicht nur Arbeitsplätze und Wohlstand, sie treiben durch klimafreundliche Grundstoffe und Technologien auch die Transformation der Wirtschaft voran.
Bis 2030 müssen Kernelemente von CO2-intensiven Produktionsanlagen erneuert werden. Aktuell fehlt für diese neuen Technologien jedoch das Geschäftsmodell. Um effektiv planen zu können, brauchen die Unternehmen mehr Sicherheit in Bezug auf den Infrastrukturausbau, den rechtlichen Rahmen und die ökonomischen Voraussetzungen.
Die zügige Transformation der Industriesektoren kann nur gelingen, wenn geeignete politische und administrative Rahmenbedingungen geschaffen werden. Damit staatliche Beihilfen schnellstmöglich an Ort und Stelle gelangen, muss die Vereinbarkeit von nationalem und EU-Beihilferecht gewährleistet sein. Essentiell ist zudem die Vereinheitlichung und Reduzierung der technischen Vorschriften (z. B. DIN- und ISO-Normen) sowie die Beschleunigung von Genehmigungsfaktoren und die Modernisierung der Verwaltungen.
Viele Schlüsseltechnologien sind bereits erprobt und werden im Rahmen von Demonstrationsprojekten durch die Politik finanziell gefördert. Nun müssen die Unternehmen den nächsten Schritt gehen und diese Technologien zur großvolumigen Anwendung bringen. Für Deutschland ergibt sich daraus die Chance einer internationalen Technologieführerschaft, insbesondere im Anlagenbau.
Damit Deutschland klimaneutral wird und seine Wirtschaft prosperiert, braucht es einen durchdachten Mix von Instrumenten entlang der gesamten industriellen Wertschöpfungskette.
Der Industriesektor ist auf den sicheren Zugang zu ausreichend grüner Energie und CO2-armen Rohstoffen zu wettbewerbsfähigen Preisen angewiesen (upstream). Hierfür sind Maßnahmen für einen beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien und des Kohleausstiegs erforderlich. Für Technologien wie CCU/CCS und eine in höherem Maße zirkuläre Wirtschaft bedarf es der internationalen Zusammenarbeit.
Bei der Produktion (midstream) werden geeignete ökonomische Rahmenbedingungen benötigt, um die Wettbewerbsfähigkeit bestehender Produktionsverfahren zu gewährleisten und Carbon Leakage, d. h. die Verlagerung der Produktion in Länder mit weniger strenger Umweltgesetzgebung, zu vermeiden.
Da nachhaltig erzeugte Produkte aufgrund höherer Kosten derzeit noch nicht ausreichend nachgefragt werden, muss auch bei den Absatzmärkten (downstream) nachjustiert werden. Hierfür müssen für jeden Sektor differenziert ausgestaltete Anreize und Vorgaben geschaffen werden, wie beispielsweise eine nachhaltige öffentliche Beschaffung, steuerliche Vorteile und die Sicherstellung einer hohen Recyclingfähigkeit.
Auf übergeordneter Ebene ist zudem durch zusätzliche Maßnahmen sicherzustellen, dass auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) auf dem Weg in die Klimaneutralität weiterhin erfolgreich wirtschaften können.
Die angestrebte Klimaneutralität verlangt von allen Wirtschaftsregionen weltweit eine massive Transformationsanstrengung. Die deutsche Industrie kann hier eine führende Rolle spielen – wenn die Bundesregierung die notwendigen Rahmenbedingungen schafft. Die folgenden zwölf Handlungsempfehlungen an die Bundespolitik sollen aufzeigen, wie Deutschland klimaneutral werden, die internationale Transformation vorantreiben und zugleich die Basis für seinen wirtschaftlichen Erfolg sichern kann.
Deutschland will bis 2050 klimaneutral sein. Für die Industrie bedeutet dies eine Kraftanstrengung. Für den Erfolg bedarf es der richtigen Rahmenbedingungen.