Aufbruch ins Unbekannte
Diese Ausgabe von Think:Act beschäftigt sich damit, wie Sie Ihr Unternehmen für die Unwägbarkeiten wappnen können, die vor uns liegen.
Die Unternehmerin und Autorin Margaret Heffernan sagt: Wer in unsicheren Zeiten entscheiden will, welcher Weg der richtige ist, muss mehrere Wege ausprobieren. Zumindest im Geiste.
Alte Weisheiten gelten nicht mehr. Diese Aussage wird uns nach dem Ende der Pandemie noch viel stärker bewusst werden als schon jetzt. Prinzipien, Technologie und Verhaltensweisen ändern sich. Aber auf welcher Grundlage sollen dann Entscheider ihre Entscheidungen treffen? In ihrem Buch Uncharted –How to Map the Future Together zeigt die Wirtschaftsvordenkerin Margaret Heffernan einen Weg auf. Sie beschreibt Beispiele aus Wissenschaft, Gesundheitswesen, Kunst und Politik und zieht die Schlussfolgerung: Wer in der Zukunft erfolgreich sein will, muss sich geistig von der Gegenwart lösen. Statt allein Daten und Prognosen zu vertrauen, sollten Unternehmer und Manager Experimente wagen.
Viele von ihnen sind in einer Welt aufgewachsen, in der das Prinzip der wissenschaftlichen Betriebsführung galt: Prognostizieren, Planen, Ausführen, Bewerten. Das Ziel lautet: maximale Effizienz. Aber Effizienz bringt nur etwas, wenn man vorhersehen kann, was man in Zukunft tun wird. In Zeiten großer Unsicherheit funktioniert das nicht. Denn wer sehr effizient handelt, hat keinen Puffer an Kapazitäten. So lässt sich eine plötzlich aufkommende Pandemie nicht bewältigen.
Margaret Heffernan ist Bestsellerautorin von Wirtschaftsbüchern und begehrte Keynote-Speakerin zu Innovations- und Leadership-Themen. Sie gründete mehrere digitale Unternehmen in den frühen Internetjahren und leitete fünf Firmen als CEO. Aktuell ist sie Dozentin an der University of Bath.
Die meisten Unternehmen stehen heute nicht nur vor komplizierten, sondern vor komplexen Aufgaben. Komplex ist aber keine Steigerung von kompliziert, sondern etwas grundlegend anderes. Komplizierte Systeme sind meist linear, sie haben ein klares Verhältnis von Ursache und Wirkung und darum vorhersehbare Muster, die sich effizient handhaben lassen.
Nehmen Sie eine Flugreise: Sie gehen zum Check-in, dann durch die Sicherheitskontrolle, dann zum Boarding, und an ihrem Sitzplatz nehmen Sie ein Bordmenü zu sich. Meist wird jede dieser Dienstleistungen von einem anderen Unternehmen erbracht. Deren Zusammenspiel so zu organisieren, dass dabei jeder einen Schnitt macht, ist kompliziert. Weil es jeden Tag mehr oder weniger dieselben Aufgaben sind, lautet das Ziel: Effizienz. Sobald Sie sich an Bord befinden, wird es jedoch komplex. Niemand kann sagen, was passieren wird: Es kann einen plötzlichen Wetterumschwung geben oder ein Vogel ins Getriebe fliegen.
Wir definieren die Zukunft, indem wir von der Gegenwart ausgehen. Das beschränkt unser Denken. Nehmen Sie das Beispiel Einzelhandel. Mit dem Aufkommen von E-Commerce begann eine Vernichtungsschlacht. Die Einzelhändler sahen, dass ihre Umsätze einbrachen, und als Reaktion senkten sie ihre Preise, reduzierten ihre Kosten und traten in einen mörderischen Wettbewerb mit ihren direkten Konkurrenten. Aber damit haben sie den Niedergang bloß verfestigt. Die Branche muss sich der brutalen Realität des Marktes stellen und neue Wege finden, um ihre Kunden zu erreichen.
Es ist nicht klug, in der Gegenwart zu starten. Stattdessen sollte man kreativer und mehr ums Eck denken. Eine Methode dafür ist das Backcasting: Stellen Sie sich einen Erfolg vor, der in der Zukunft liegt, und überlegen dann, was hätte passieren müssen, damit dieser Erfolg zustande kommt, und welche Schritte Sie heute einleiten müssten, um diese Zukunft zu kreieren.
Daten sind nutzlos, wenn es an Vorstellungskraft und Kreativität fehlt. Nur weil Sie über jeden Aspekt Ihres Unternehmens Daten erheben können, bedeutet das noch lange nicht, dass Sie Ihr Geschäft oder Ihre Kunden verstehen. Es gibt dieses Ammenmärchen, dass Menschen eine Ansammlung von Daten sind, die man nur analysieren müsste, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es gibt aber keine vollständigen Datensätze. Und genau das, was außen vor bleibt, könnte das sein, worauf es ankommt. Der bessere Weg zur Selbsterkenntnis ist es, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Das scheint völlig offensichtlich zu sein, aber es passiert viel zu selten. Instrumente, deren Einsatz sich für Unternehmen auszahlt, sind beispielsweise Konferenzen mit Kunden und Hackathons mit Mitarbeitern. Denn so erhalten sie viel vielfältigeren Input und Feedback aus der realen Welt. Diese helfen dabei, die Daten zu entschlüsseln.
In komplexen Systemen helfen Daten nicht. Es gibt zu viele mögliche Ursachen und Wirkungen. Bevor man etwas im echten Leben ausprobiert hat, weiß man nicht, was passieren wird. Oft ist es daher besser, gewisse Risiken in Kauf zu nehmen. Mit Experimenten bringen Sie das System in Bewegung: Sie versuchen herauszufinden, was passiert, wenn Sie etwas anders machen als sonst. Selbst wenn Ihre Idee nicht funktioniert, lernen Sie zumindest etwas über das System, in dem Sie sich bewegen.
In den Niederlanden gab es beispielsweise eine Nachbarschafts-Pflegehilfe, die die Arbeitsleistung mithilfe von Algorithmen verrechnete, nach KPIs und Leistungszielen. Alle waren unzufrieden, bis eine Krankenschwester namens Jos de Blok vorschlug, dass die Pflegekräfte selbst entscheiden, welche Arbeiten sie bei welchem Patienten verrichten. Mit Erfolg: Die Patienten brauchten nur noch halb so lang, um wieder fit zu werden, bei zwei Drittel der Kosten. De Blok gründete später ein Unternehmen namens Buurtzorg , das den Faktor Mensch akzeptiert und Erfolg daran misst, was für die Menschen bewirkt wird. Daten allein hätten das nicht gekonnt.
Das Ziel ist, verschiedene Verläufe der Zukunft zu identifizieren. Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussehen wird, aber wir können uns vorstellen, dass Szenario A oder B eintreffen wird. Die Frage ist: Falls A eintreffen wird – was hätten wir dann rückblickend genau jetzt am besten getan? Dieselbe Frage stellen wir für den Fall, dass B eintritt. So entwickeln wir eine Bandbreite an Möglichkeiten. Einige davon werden zu viele Risiken mit sich bringen, andere werden sich als gute Ausgangsbasis für Experimente herausstellen.
Diese Szenariotechnik ist eine großartige Übung für Entscheider. So können sie einen offeneren und diskursiveren Blick darauf werfen, wie es mit ihrem Unternehmen weitergehen könnte, und sich mit Unsicherheit arrangieren. Zudem hilft sie dabei, feine Signale zu erkennen, die auf große Umwälzungen hindeuten.
Viele ältere Menschen haben Probleme damit, weil sie das gegenwärtige System zu sehr verinnerlicht haben. Jüngere Menschen tun sich meist leichter damit – ebenso wie Menschen, die viel Computerspiele spielen. Eigentlich ist jedes Spiel in vielerlei Hinsicht eine Übung der Szenariotechnik: "Mal gucken, was passiert, wenn ich links abbiege ... Oh, ich bin tot. Also gleich noch mal: Mal gucken, was passiert, wenn ich diesmal rechts abbiege!" Der entscheidende Punkt ist, dass wir uns nicht vor dem fürchten, was uns unsere Vorstellungskraft präsentieren könnte. Dazu muss man imaginativ denken. Und das ist schwerer, als es sich viele glauben. Aber der Ölkonzern Shell tat genau das in den frühen 1970erJahren. Man fragte sich, was man unternehmen könnte, wenn der Ölpreis fiele – obwohl sich zu diesem Zeitpunkt niemand vorstellen konnte, dass dies jemals passieren würde. Als der Ölpreis 1973 tatsächlich abstürzte, war Shell vorbereitet und überstand den Wandel mit Leichtigkeit.
Wir bewegen uns von einer Pandemie in eine Wirtschaftskrise, die wir noch nicht richtig erkannt haben, und in eine Ungleichheitskrise, die wir erkannt haben, aber mit der wir noch nicht umzugehen gelernt haben. Und in der Klimakrise stecken wir bereits mittendrin. Aber ich glaube, wir haben inzwischen verstanden, dass es einen gesunden Zusammenhang geben muss zwischen dem, was ein Unternehmen aus der Gesellschaft herausholt und was es an die Gesellschaft wieder zurückgibt. Damit Menschen vernünftig arbeiten können, brauchen sie beispielsweise angemessene Wohnungen, sichere Arbeitswege und Zugang zu Bildung. Unternehmen sollten verstehen, dass auch sie davon profitieren.
Ich kann kein perfektes Beispiel nennen. Aber ich glaube, die Notwendigkeit, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen, hat den Menschen klargemacht, dass Teilhabe der Schlüssel zum Erfolg ist. Es braucht Menschen mit gelebter Erfahrung. Denn die Essenz guter Entscheidungen ist nicht die Entscheidung selbst, sondern wie sie getroffen wurde. Bürgerversammlungen sind ein Beispiel dafür. Sogar Menschen, denen das Ergebnis nicht gefällt, können es akzeptieren – weil sie gesehen haben, dass der Prozess fair war. Die Entscheidung wurde nicht von einer Handvoll ideologiegetriebener Einzelner gefällt, sondern war transparent, offen und faktenbasiert. Es gab nie zuvor eine Zeit, in der wir dies so dringend gebraucht hätten wie heute. Denn wir haben einige harte Entscheidungen vor uns.
Diese Ausgabe von Think:Act beschäftigt sich damit, wie Sie Ihr Unternehmen für die Unwägbarkeiten wappnen können, die vor uns liegen.