Roland Berger ist Vordenker für Umweltthemen und deren Folgen für die Wirtschaft. Unsere Publikationen befassen sich mit allen Aspekten dieses Themenkomplexes.
Modernisierung ist nicht genug: die Energienetze neu erfinden
Von Martin Hoyer und Urs Neumair
Wie die Netze umgebaut werden müssen, um den Energiewandel zu beschleunigen
Die meisten der derzeit genutzten Energienetze wurden vor gut einem Jahrhundert entworfen. Sie wurden nach den Bedürfnissen der damaligen Zeit gestaltet und der menschliche Einfluss auf den Planeten oder etwa der Klimawandel waren da noch keine großen Themen. Die heutigen Ansprüche sehen jedoch anders aus. Heute wissen wir, wohin die Entwicklung geht und wir lernen schnell, wie wir darauf reagieren können. Bis vor kurzem waren es Regulierung und Gesetzgebung, die die Form des Energiesystems weitgehend bestimmten. In Zukunft wird die Technologie die entscheidende Rolle spielen – mit innovativen Lösungen für die Gewinnung, Speicherung, Nutzung, Transport und Verteilung von Energie.
Neue Dimensionen
Moderne Energienetze sind vielschichtig: Software und Technikebenen, Commodies Ebene sowie Sicherheit- und Informationsebenen. Die Standardisierung, die für die früheren physischen Netze obligatorisch war, hält jetzt Einzug in der Cloud, in Daten und sogar in die Smartphones der Verbraucher. Wir sind überzeugt, dass Stromnetzbetreiber wie auch Gasnetzbetreiber die traditionellen Sichtweisen ablegen und ihre Managementaktivitäten komplett neu überdenken und umstellen müssen, zum Beispiel in Bezug auf:
- Denkweise: Anlagenklassen vs. Spannungsebenen
- Stabilität: Frequenz vs. Kapazität
- Verantwortung: Hinter und vor dem Zähler
- Betriebsabläufe: externe vs. interne Mitarbeiter
- Daten: dynamisch/vorgebend vs. statisch
- Komponenten: smart vs. analog
- Koordination: national vs. grenzüberschreitend
- Daten: Einzel- vs. Multi-/Crossmedia
Diese Punkte müssen offensiv angegangen werden, wenn man die Komplexität der Energiesysteme von morgen zuverlässig und kosteneffizient meistern will.
Stromnetze der Zukunft
Die Stromnetze von morgen werden sich grundlegend von den heutigen unterscheiden. In Bezug auf die Größe wird es eine Verschiebung von relativ wenigen, zentralisierten, meist fossilen Kraftwerken hin zu einer großen Anzahl dezentralisierter Anlagen geben, die durch erneuerbare Energieträger betrieben werden. Die neuen Kraftwerke werden sich von den herkömmlichen auch in puncto Leistung unterscheiden und das beginnt schon bei den reinen Kilowattzahlen. Künftige Stromnetze werden außerdem über eine höhere Anzahl an Einspeisepunkten und an beteiligten Akteuren verfügen. Ferner wird es Unterschiede in Bezug auf Netzschwankungen geben, da erneuerbare Energieträger den veränderlichen Wetterbedingungen unterliegen und die Menge an erzeugtem Strom entsprechend variiert.
Überdenken der Netzanschlussrichtlinien in der Europäischen Union
Die massive Überarbeitung der Energiesysteme, mit dem Ziel diese klimafreundlicher zu gestalten, bringt viele technische Herausforderungen mit sich. Die Europäische Union hat darauf reagiert und ihre Richtlinien neu formuliert. Diese bilden die Basis für individuelle Bestimmungen in den einzelnen EU-Ländern, an die sich die Stromerzeuger, die an das öffentliche Netz angeschlossen sind, halten müssen, um sicher und ökonomisch zu produzieren.
Die neuen Netzanschlussrichtlinien der EU führen zu einem kompletten Paradigmenwechsel beim Betreiben von Stromnetzen. In der Vergangenheit wurden die Spannungsebenen herangezogen, um die Aufgaben und Verantwortlichkeiten der verschiedenen Akteure im Energiesystem zu definieren. In dem neuen Szenario wird die Kapazität zur wichtigsten Kennzahl, d.h. die Anlagenklassen (unterteilt nach Kilowatt) ersetzen die Spannungsebenen (in Kilovolt) als entscheidende Messgröße.
Dieser radikale Wandel hat signifikante Auswirkungen. Bisher, zum Beispiel, bestimmte der Anschlusspunkt einer 50-MW- Windkraftanlage die Verantwortlichkeiten des Eigentümers und des Netzbetreibers. In Zukunft hat der Betreiber sicherzustellen, dass der Windpark in dieser Anlagenklasse schwarzstartfähig ist. Mit anderen Worten: Der Netzbetreiber wird für das einwandfreie Funktionieren der Windkraftanlage im Energiesystem rechtlich verantwortlich sein.
Wie sieht es beim Gas aus?
Anders als bei Strom wird die Zukunft der Gasnetze sowohl vom Angebot als auch von der Nachfrage bestimmt werden. Auf der Angebotsseite werden Verfügbarkeit, Kosten und Entwicklungsstand von E-Fuels, Wasserstoff und anderen Alternativen sowie auch die Kosten für CO2-Zertifikate bestimmen, in welchem Umfang und wofür die Netzinfrastruktur zukünftig genutzt wird. Auf der Nachfrageseite bedeutet die zunehmende Energieeffizienz und die politische Unterstützung für Strom, dass die Nachfrage nach Gas in vielen Regionen auf der Niederdruckeben allmählich zurückgehen wird. Gasheizungen werden zudem von elektrisch betriebenen Wärmepumpen verdrängt werden. Gleichzeitig wird jedoch der Wechsel von Kohle- zu Gaskraftwerken möglicherweise einen positiven Effekt auf die Gasnachfrage auf der Hochdruckebene haben, zumindest für einige Jahre.
Die CxO-Agenda
Für Führungskräfte gilt: Initiativen zur Modernisierung werden nicht ausreichen. Was wir brauchen, ist Neuerfindung und wirklicher Wandel. Richtig geplant und umgesetzt können Verteilernetze zum Katalysator für den Kohleausstieg und für wirtschaftliches Wachstum werden. Zwei Handlungsfelder sollten dabei auf der Agenda von Managern ganz oben stehen:
- #1 Gesteckte Ziele überdenken: Ihre Ambitionen sollten hauptsächlich bestimmt sein in den Dimensionen Verlässlichkeit, Schutz, Sicherheit, Krisenfestigkeit, Flexibilität, Nachhaltigkeit und Kostenbewusstsein. Jeder dieser Aspekte eröffnet eine Reihe von möglichen Zielen wie zum Beispiel die Sicherstellung einer unterbrechungsfreien Versorgung in gleichbleibender Qualität, die Vermeidung von netzbedingten Gefahren und Ausfällen von Verbrauchsgeräten, der Schutz des Netzes und seiner Betriebsmannschaft, ein professionelles Krisenmanagement, die Unterstützung der Netzkunden bei der Erreichung ihrer Dekarbonisierungsziele usw.
- #2 Prioritäten für die Transformation festlegen: Zu den wichtigsten Aktionsbereichen gehören Ihre Anlagenstrategien, Ihre Compliance, Ihr Geschäftsbetrieb und Ihr Informationsmanagement. Grundlegende Fragen sind zum Beispiel: „Ist unsere derzeitige Netzstruktur so ausgelegt, dass Netzschwankungen berücksichtigt und dezentrale Anlagen sowie Speichereinrichtungen integriert werden können?“ oder „Nutzen wir Primär- und Sekundärdaten, um bessere und kosteneffizientere Vorhersagen treffen zu können?"
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