Nathan Myhrvold verrät kulinarische Geheimnisse

Think:Act Magazin “Reise in die Zukunft ”
Nathan Myhrvold verrät kulinarische Geheimnisse

Portrait of Think:Act Magazine

Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa
9. Mai 2023

Die Zubereitung raffinierter Gerichte lehrt Manager kreatives Arbeiten

Interview

von Steffan Heuer
Fotos von Daniel Berman

Nathan Myhrvold war der erste Technikvorstand von Microsoft. Heute wendet er seinen akademischen Forschergeist auf das Ergründen von Küchengeheimnissen an. Im Interview erklärt der innovative Allrounder, warum Kochen Wissenschaft und Kunst zugleich ist.

Wenn Nathan Myhrvold einem interessanten Problem ernsthaft auf den Grund gehen will, scheut er weder Kosten noch Mühen. Manch einer hat die aufwendige Testküche des früheren Microsoft­Technikvorstands mit dem Labor von ­James Bonds Waffenmeister Q verglichen. Sie misst annähernd 8.000 Quadratmeter und umfasst sämtliche erstklassigen Kochgeräte, die sich ein Koch nur wünschen kann. Es gibt Instrumente für Materialtests, die normalerweise nur Chemiker und Biologen durchführen. Eine ganze Maschinenhalle steht für die Bearbeitung von Metall und den 3D-Druck von Formen für Porzellanteller bereit. Außerdem hat ­Myhrvold in seinen Räumen eine ganze Reihe von Kameras und Scheinwerfern für Nahaufnahmen von Gerichten, Lebensmitteln oder auch zersägten Küchengeräten aufgebaut.

Die Herstellung einer Pizzapfanne in der Form Italiens ist eine der leichteren Aufgaben, erklärt uns ­Myhrvold beim Gespräch in seinem Kabinett der kulinarischen Wunder.

Ein Foto von Nathan Myhrvold in einer Kochjacke, erlächelt und blickt versonnen durch seine Brille.
Neu komponiert: In ihrer ­Buchreihe ­Modernist ­Cuisine: Die Revolution der Kochkunst erforschen Nathan ­Myhrvold, Chris Young und ­Maxime ­Bilet wissenschaftlich inspirierte Methoden der Zubereitung.

Ihr Buchprojekt Modernist Cuisine sollte ursprünglich nur ein mehrere Hundert Seiten starkes Buch über das Sous-Vide-Kochen werden. Am Ende ist es zu einer kleinen Bibliothek herangewachsen. War das ein wohldurchdachter Plan – oder ist das eher zufällig passiert?

Man könnte behaupten, ich sei der schlechteste Planer der Welt. Aber alle großen Projekte erfordern ein gewisses Maß an Blauäugigkeit. So ist das auch mit Gründen einer Familie. Man ist zumeist ein wenig naiv, was die Konsequenzen angeht. Aber Gott sei Dank ist das so, denn es hilft einem, Großes zu erschaffen. Das Vakuum-Garen war die erste innovative Kochtechnik, für die ich die Grundlagen ergründen wollte. Da gibt es eine Reihe von Dingen, die auf den ersten Blick ziemlich unlogisch erscheinen. Deshalb dachte ich, man erklärt besser, wie das funktioniert. Das Projekt entwickelte sich von einem schlanken Büchlein zu einem riesigen Werk mit 800 Seiten – und schließlich wurden fünf Bände daraus, mit jeweils 450 Seiten plus einem Zusatzhandbuch. In den Büchern werden Dinge aufgegriffen, die nahezu allen ­Köchen unbekannt oder höchstens einer sehr kleinen Anzahl vertraut waren. Ich betrachte das als einen Versuch, die Kochkunst zu demokratisieren.

Einer Ihrer Mitarbeiter, der Koch Chris Young, sagte einmal, dass Sie Lebensmittel als "Wasser mit einem Haufen Unreinheiten" begreifen. Kommt da der Wissenschaftler zum Vorschein?

Nathan Myhrvold

Nathan Myhrvold ist ein wahrer Tausendsassa. ­Myhrvold stammt aus Seattle und ging mit 14 Jahren aufs College. Er studierte Mathematik, Geophysik und Weltraum­physik, bevor er in Princeton promovierte und unter ­Stephen ­Hawking an der Universität Cambridge arbeitete. ­Myhrvold hat in einer Vielzahl von Disziplinen von sich reden gemacht, von der Astronomie über die Paläobiologie bis hin zur Naturfotografie. Er ist Mitgründer von Intellectual Ventures, einer Private-­Equity-­Firma, die durch die Monetarisierung eines Portfolios von mehr als 70.000 Patenten bekannt geworden ist.

Das trifft auf viele Ergebnisse zu. Eine der Fragen, die ich mir früh gestellt habe, als ich mich mit Pizza beschäftigte, war die folgende: Der Rand ist meist hoch und bauschig, während die Teigdecke in der Mitte sehr dünn ist. Und warum? Das wusste niemand. Einer naheliegenden Theorie zufolge drückt das Gewicht des Belags den Teig nach unten. Also haben wir mehrere Pizzen nebeneinander gebacken. Eine mit echten Zutaten, die anderen mit Sand oder Metall gleichen Gewichts. Sand und Metall wurden nach oben gedrückt, die Lebensmittel nicht. Die Erklärung: Sauce ist Wasser mit Verunreinigungen. Und Wasser kocht bei 100 Grad Celsius. Es spielt dabei keine Rolle, wie heiß der Rest des Ofens ist. Solange die Sauce nicht völlig austrocknet, wird sie nie heißer als 100 Grad. Wenn Sie eine Pizza in einen 500 Grad heißen Ofen schieben, legen Sie also eine sehr kalte Schicht auf den Teig. Dies verhindert, dass er aufgeht.

Vieles an der Zubereitung guter Lebensmittel scheint also mit angewandter Wissenschaft und Experimentieren zu tun zu haben. Was hat denn noch mit Bauchgefühl und Gewohnheit zu tun?

Das ist eine Mischung. Ich nehme gerne die Architektur als Beispiel. Sie kann Kunst sein, muss aber auch pragmatisch sein. Die meisten Gebäude sind keine Kunst. Sie müssen schlechtes Wetter abhalten und möglichst kostengünstig sein. Aber gelegentlich kann man auch erstaunliche Gebäude errichten. Sehen Sie sich das Guggenheim Museum von Frank ­Gehry in Bilbao an. Diese hoch aufragenden Kurven kann man nur bauen, wenn man die Baustatik dahinter sehr gut versteht. Üblicherweise wissen wir nach einer Zeit, wie man ein gewöhnliches Haus oder eine Kirche baut. Das machen wir dann so für die nächsten 100 Jahre oder länger. Einfach weil wir wissen, dass es funktioniert. Beim Kochen nennen wir so etwas Rezept. Weiche ich von dem Rezept ab, besteht die Gefahr des Scheiterns. Vor allem dann, wenn ich die Grundlagen nicht beherrsche, also gar nicht weiß, warum das Rezept funktioniert. Erst wenn ich mein Medium verstehe, kann ich Kunst schaffen.

"Kochen ist eine Art Mikrokosmos dessen, was man auch bei größeren Projekten tut. Und wegen der kurzen Zeitspanne kann man es immer wieder üben."

Nathan Myhrvold

Berater und Autor

Ist also ein herrliches Gericht vergleichbar mit einem Gemälde oder einem Musikstück?

Kunst wird im Allgemeinen als Möglichkeit definiert, Gedanken, Gefühle, Emotionen oder sogar einen Dialog auszulösen. Im Fall von Lebensmitteln konsumiert man sie direkt. Ich würde nicht jedes Gericht als Kunst betrachten. Aber in den Händen von jemandem mit der richtigen Kreativität erfüllt es für mich jede Definition von Kunst – genauso wie Malerei, Musik, Tanz oder Architektur.

Sie waren 13 Jahre lang bei Microsoft, unter anderem als erster Chief Technology Officer (CTO) und Gründer von Microsoft Research. Finden Sie, dass die Arbeit im Tech-Sektor und Programmieren mit dem Arbeiten in der Küche vergleichbar sind?

Meine Erfahrung mit Technologie hat verschiedene Aspekte. Einer davon war sicherlich die Erkenntnis, welche unglaubliche Macht die Computertechnik hat. Programmieren ist kreative Arbeit, die gleichzeitig aus Wissenschaft, Technik und Regeln besteht. Software ist so nah an Magie wie nichts anderes, was Menschen je erschaffen haben. In den Harry-­Potter-­Büchern sprechen Leute lateinisch klingende Worte aus, und jemand verwandelt sich in einen Frosch. Software ist insofern ähnlich, als man nur eine Reihe von Wörtern in einer sehr taktischen Absicht anordnet – und schon erhält man etwas, das fast ein Eigenleben entwickelt.

Ein Foto des früheren Microsoft-CTO Nathan Myhrvold in einer Kochjacke,er tropft Olivenöl aus einem Kupferkessel auf eine frisch gebackene Pizza.

Sie haben viele Interessen, sie reichen von Ihrer ­privaten Beteiligungsgesellschaft bis hin zu Foto­grafie, Archäologie, Astronomie und Kernphysik. Wie schaffen Sie es, Ihren Geist für so viele unterschiedliche Disziplinen offen zu halten?

Wir belohnen Menschen, die immer mehr über immer weniger wissen, bis sie zu Experten auf einem sehr begrenzten Fachgebiet werden. Das ist nicht gut. Wenn ich mich jetzt einer Gehirnoperation unterziehen müsste, wäre das genau die Art von Person, die ich mir wünschen würde. Ich hatte schon immer Probleme damit, mich nur für eine Sache zu interessieren. Hauptsächlich durch Willenskraft konnte ich mich dazu zwingen, es zu tun. Ich hatte das Glück, dass ich die Breite meiner Interessen schon mit neun Jahren entwickeln konnte. Ich denke, eine verfrühte Spezialisierung für Kinder ist problematisch.

Warum?

Es grenzt an eine Tragödie, wenn sich Menschen zu früh darauf festlegen, etwas zu tun, was sie nicht mögen. Zunächst einmal ist es schwierig, in etwas gut zu sein, das man nicht mag. Man macht sich dann einfach nicht genügend Gedanken und Mühe. Es ist nur ein Job. Eine Spezialisierung sollte man so lange wie möglich hinauszögern. Man kann so mehr Erfahrungen sammeln. Die meisten Menschen üben einen Beruf aus, von dem sie als Kind nicht wussten, dass es ihn überhaupt gibt. Je mehr man Menschen in sehr jungen Jahren in Berufe lenkt, insbesondere in Jobs, die keinen fundierten Bildungshintergrund haben, desto mehr wird man sie in eine Falle locken.

Können Führungskräfte durch Arbeit in der ­Küche neue Perspektiven entwickeln?

Im Gegensatz zum Geschäftsleben ist der Zyklus beim Kochen von der Planung über die Beschaffung bis zur Zubereitung und dem Servieren relativ kurz. Der Prozess erfordert indes eine gewisse wissenschaftliche und technische Herangehensweise, um die Lebensmittel auszuwählen und zu kombinieren. Das hat auch einen kreativen Aspekt. Kochen ist eine Art Mikrokosmos dessen, was man bei größeren Projekten tut. Und wegen der kurzen Zeitspanne kann man es immer wieder üben. Kochen stärkt die Praxis. Kochen ist meines Erachtens auch hervorragend geeignet für Teambuilding. Die Arbeitsschritte sind überschaubar, aber nicht trivial. Das Risiko, dass mal etwas danebengeht, ist gering. Was macht es schon, wenn ein Essen mal ein bisschen anbrennt?

Ergänzende Lektüre:
Modernist Pizza von Nathan Myhrvold und Francisco Migoya, 1.708 Seiten. Phaidon, 2022. 375 Euro (deutsch)

Über den Autor
Portrait of Steffan Heuer
Steffan Heuer
Steffan Heuer lebt in Berlin und Kalifornien. Seit mehr als zwei Jahrzehnten schreibt er über Technologie, Wirtschaft und Kultur des Silicon Valley, unter anderem für The Economist, die MIT Technology Review und brandeins.
Alle Online-Veröffentlichungen dieser Ausgabe
Mehr
Portrait of Think:Act Magazine

Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa