Spielregeln für Regelbrecher
Ist das Brechen der Regeln eine entscheidende Fähigkeit? Wir untersuchen, wie Menschen, die gegen Regeln verstoßen haben, die Geschäftswelt maßgeblich geprägt haben.
Fast schon pleite schaffte Lego die Kehrtwende. Als sich der legendäre Spielzeugmacher auf das zurückbesann, was ihn groß gemacht hatte, ging es wieder bergauf.
Jack Stone war schuld. Da half auch kein "Stein" als Nachname: Die Actionfigur, die der Spielzeughersteller Lego 2001 auf den Markt brachte, hatte nicht mehr viel gemein mit den bunten Steinen, auf denen die Dänen ihren Weltruf aufgebaut hatten. Aber Stone war nur eines von vielen Beispielen. Anfang der 2000er-Jahre war die Produktpalette von Lego immer unübersichtlicher geworden. Die Kunden zogen nicht mit, das Unternehmen verbrannte Geld in großem Stil. 2003 war Lego so gut wie bankrott. "Heute kann man sich kaum vorstellen, wie schlimm die Situation tatsächlich war", sagt David Robertson, Wirtschaftsprofessor und Autor von 'Brick by Brick: How Lego Rewrote the Rules of Innovation and Conquered the Global Toy Industry'. „Alle waren davon überzeugt, man müsse verkaufen oder liquidieren.“ Es gab radikale Vorschläge. "Ich riet ihnen tatsächlich, keine Steine mehr herzustellen", sagt Anders Drejer, Management-Professor an der dänischen Universität Aalborg. "Die Steine an sich sind nicht entscheidend, so etwas kann man outsourcen."
Die Rettung kam in Gestalt eines Harry-Potter-Doppelgängers. Jørgen Vig Knudstorp hatte schon, als er 2001 zu Lego kam, die Geschäftsführung und die Eigentümer-Familie Christiansen gewarnt: "Wir sind auf einem sinkenden Schiff. Die Probleme werden sich nicht von allein lösen." 2004 wurde Knudstorp CEO. Er drehte die Strategie um 180 Grad – und legte damit die Grundlage für ein ganzes Jahrzehnt des Erfolgs. Umsätze und Gewinne von Lego wuchsen jedes Jahr im zweistelligen Bereich. Knudstorp war kein Regelbrecher, sagt Robertson: „Eigentlich war er das Gegenteil. Er besann sich auf Legos altbewährtes Rezept. Dieses lässt sich in einem Satz des damaligen Marketingchefs Mads Nipper zusammenfassen: "Unser Ziel als Unternehmen ist: Siebenjährige deutsche Jungen glücklich machen. Sonst haben wir keine Zukunft." Die Geschichte von Lego begann 1932. Der Name, den der Kunsttischler Ole Kirk Christiansen seinem Familienbetrieb gab, ist eine Abkürzung von "leg godt": "spiel gut". Anfangs fertigte man Spielzeug aus Holz. Bis 1958 Christiansens Sohn Godtfred die Idee zu Kunststoffsteinen hatte, die sich durch Zapfen und Röhren miteinander verbinden lassen.
Das Unternehmen wuchs und vergrößerte sein Angebot, etwa um die Kleinkindermarke Duplo oder den Freizeitpark Legoland. 1990 zählte Lego zu den zehn größten Spielzeugherstellern weltweit. Rund zehn Jahre später betrieb das Unternehmen Parks auf der ganzen Welt und bot Produkte an, die sich von den klassischen Steinen weit entfernt hatten, beispielsweise Videospiele. Doch die Gewinne brachen ein. Als Knudstorp übernahm, war die Lage bedrohlich geworden.
Für Drejer beruht Knudstorps Wende auf drei Säulen: "Eine war, die Realität zu akzeptieren: Die Einbrüche würden nicht von allein aufhören. Die zweite Säule war Fokussierung: Schneide abgestorbene Äste ab und übernimm wieder die Kontrolle. Ein paar Jahre später, als alle dachten, man habe es überstanden, startete Jørgen eine Wiederauffrischungsphase. Er sagte: das war nur ein Anfang, wir haben noch einen langen Weg vor uns."
Knudstorp spricht von fünf Phasen: Überleben, Ziele setzen, Wachstum anschieben, Aufholen, Überholen. Als ersten Schritt versuchte er, die Finanzen in den Griff zu bekommen. Er reduzierte die Zahl der Produkte – und damit die Komplexität. Er verkaufte abseitige Geschäftszweige wie die Freizeitparks und die Videospiele. Er schloss oder verkleinerte Abteilungen im Ausland und machte die dänische Kleinstadt Billund wieder zum Herz der Lego-Gruppe. Die zweite Phase betraf die Produktivität. Knudstorp verlagerte einen großen Teil der Produktion von Dänemark nach Ungarn und Mexiko und stärkte gleichzeitig die Marke. 2009 begann Phase drei: Wachstum. Als die Umsätze um mehr als 20 Prozent pro Jahr stiegen, stellte Knudstorp in Phase vier sicher, dass die Lieferketten reibungslos funktionieren – bis in neue Märkte in Asien hinein. In der fünften und letzten Phase versuchte er, Lego trotz immer stärkerer Wachstumsschmerzen erfolgreich zu halten.
Knudstorp habe nicht nur Mut bewiesen, sondern auch "bemerkenswerte Sensibilität und emotionale Aufmerksamkeit" gezeigt, sagt Robertson. In seiner Fähigkeit, Innovationen einzuführen, ähnele er Steve Jobs. "Ich halte ihn für einen großen Innovator. Sein Führungsstil zeichnet sich dadurch aus, dass andere die Stars sein können – weil sie die Möglichkeit haben, innovativ zu sein."
Ein Beispiel dafür ist ein Feuerwehrauto, das Marketingchef Nipper in einer frühen Phase des Turnarounds für die Lego City Line kreierte. Es war ein traditionelles Lego-Produkt: wie gemacht, um einen siebenjährigen deutschen Jungen anzusprechen – und war der Startschuss, der allen Designern des Unternehmens klar machte, dass der Legostein wieder das Herz ihrer Arbeit bildete. "Jørgen tat das Gegenteil von dem, wozu ich geraten hatte", sagt Drejer: "Er machte den Stein zum Kern von allem. Selbst der Indiana Jones in ihren Computerspielen wird von seinen Feinden nicht zu einem Haufen Matsch zerquetscht, sondern zu einem Haufen Steine." Es mache ihm nichts aus, dass Knudstorp seinem Rat nicht folgte, ergänzt Drejer. „Aber sie verdienen weniger Geld, als sie könnten – wegen der Beschränkung auf den Stein. Sie lassen keine Experimente zu. Sie lassen nicht zu, dass sich andere Geschäftszweige entwickeln. Mads Nipper sagte mir: 'Der Legostein ist so wichtig, dass er immer im Vordergrund stehen muss – sonst würde die Kultur zerbrechen.'" Derzeit durchlebt Lego erneut schwere Zeiten. 2017 gingen die Verkäufe erstmals seit der Beinahe-Pleite zurück. Das vielleicht Bemerkenswerteste daran: Knudstorp sah die Entwicklung voraus, aber konnte sie offensichtlich nicht verhindern.
Er fürchte sich vor den Kräften, die große Firmen von genau dem entfremden, was sie einst erfolgreich machte, sagte Knudstorp im Dezember 2016 der Financial Times: "Es gibt Bürokratie. Wenn man wächst, gibt es den Druck, zu skalieren, die passenden Mitarbeiter zu finden. Und es gibt die Frage: Wie kann man als großes, erfolgreiches Unternehmen den Gründergeist aufrechterhalten?"
Das sei verblüffend, meint Drejer: "Wenn Menschen wissen, dass etwas schiefgehen wird, sie aber nicht in der Lage sind, es zu verhindern, lautet meine Empfehlung, das Management auszuwechseln." Knudstorp wechselte im selben Jahr von der Geschäftsführung in den Vorstand – mit dem Mandat, gemeinsam mit der Gründerfamilie Expansionsstrategien zu entwickeln. Im Oktober 2017 wurde Niels Christiansen neuer CEO: Der Erste, der nicht aus dem Unternehmen stammt. Christiansen, der nicht mit der Gründerfamilie verwandt ist, hatte zuvor für die Industriegruppe Danfoss gearbeitet – und sie aus einer ähnlich schwierigen Situation herausgeholt wie Knudstorp Lego. Damit gleiche das Unternehmen einem Fußballteam, das gleichzeitig Messi und Ronaldo unter Vertrag habe, meint Drejer. Aber das Traumduo muss mit einer schwierigen Situation umgehen. Noch sind die Einnahmen von Lego stabil, aber wie die gesamte Branche steht das Unternehmen in hartem Wettbewerb mit Anbietern physischer und digitaler Produkte.
Bei allen Innovationsstorys gebe es einen entscheidenden Punkt, sagt Robertson: "Nichts hält ewig." Lego orientierte sich bei seinem Turnaround an Apple. Zwischen 2001 und 2007 taten dessen Chefs genau das, was Lego ein paar Jahre später tun würde: Sie machten den Mac hochwertiger und dadurch attraktiver. Später allerdings kam das iPhone als wichtige Einnahmequelle hinzu, obwohl es ursprünglich eher als ein Anhängsel des Mac gedacht war. Die Haupteinnahmequelle von Apple wechselte: von großen zu kleinen Bildschirmen. Lego hat einen solchen neuen Pfad noch nicht gefunden. Lego sollte sich an Disneys Angebot orientieren, findet Robertson: mit Freizeitparks, Filmen und anderen Dingen, die nur in losem Zusammenhang mit dem Stein stehen. "Ich glaube, dass Lego nicht auf den Markt gehört hat. Man hat lediglich digitales Spielzeug und Online-Aktivitäten hinzugefügt." Und vieles davon floppte. Lego Dimensions etwa – der Versuch, durch Online-Games mit Legofiguren auf den Toys-to-life-Trend aufzuspringen, wurde kurz nach dem Start drastisch zurückgefahren. Ebenso wie Nexo Knights – eine App zu der gleichnamigen Trickfilmserie. "Lego sollte sich nicht mit Mattel oder Hasbro vergleichen, sondern besser mit einem Unternehmen wie Amazon", sagt Drejer. "Und im Online-Handel hängt Lego hinterher.“ Der neue CEO habe sich bei Danfoss einen Ruf als Beschleuniger erworben, sagt Robertson: "Dort wurde das Management schlanker und schneller. Christiansen hat den Apparat optimiert. Ich fürchte aber, bei Lego muss man den Apparat austauschen."
Robertson glaubt, dass Lego am Scheideweg steht. Das Unternehmen muss sehen, ob es seine Strategie erneut auf den Kopf stellen oder auf der eingefahrenen Bahn vor sich hin dümpeln will. "Was sie jetzt tun, ähnelt den Fehlern von 1999 – man versucht zu stark in digitale Erlebnisse zu gehen. Ich glaube, man lässt sich vom Digitalen zu sehr einschüchtern", sagt Robertson. "Wenn man sich wirklich Apple zum Vorbild nimmt, muss man Erfolge aus der Vergangenheit nutzen, um Wachstumsfelder für die Zukunft zu erschließen."
2003: Ganz am Boden
Mehrere Experimente mit neuartigen Produkten sind gescheitert. Lego steht kurz vor dem Bankrott.
2009: Es geht wieder aufwärts
Lego verkleinert oder schließt Abteilungen, um wieder wachsen zu können. Die Umsätze steigen danach um mehr als 20 Prozent pro Jahr.
2017: Wackeliger Boden
Die Umsätze fallen zum ersten Mal seit dem nur knapp entkommen Bankrott.
2018: Fundamente verstärken
Als Reaktion auf fallende Verkaufszahlen erneuerte Lego 2017 das Management: CEO JØrgen Vig Knudstorp wurde Vorstandsvorsitzender, seinen bisherigen Posten übernahm Niels Christiansen. Lego ist nach wie vor profitabel. Das Unternehmen sieht den Schritt als Chance, die Fundamente, die Knudstorp legte, zu verstärken.
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