KI neu denken
KI verändert unser Leben und unsere Arbeit. Diese neue Ausgabe des Think:Act Magazins erforscht, was das für C-Level-Manager bedeutet.
von Geoff Poulton
Illustrationen von Matthias Seifarth
Die Menschen in den Industriestaaten leben länger als je zuvor. Ältere werden zunehmend wichtiger als Konsumenten und Arbeitnehmer sowie als unverzichtbarer Teil einer funktionierenden Gesellschaft. Politik und Unternehmen müssen noch viel tun, um die Potenziale der Älteren zu heben.
Als Joe Biden ankündigte, zum zweiten Mal für das Amt des US-Präsidenten zu kandidieren, sorgte ein Thema für Diskussionen: sein Alter. Sollte Biden im November wiedergewählt werden, stünde er kurz vor seinem 82. Geburtstag. Viele Amerikaner glauben, Biden sei zu alt für die Anforderungen des vielleicht aufreibendsten Jobs der Welt. Aber ist das wirklich zutreffend in einer Zeit, in der wir länger und gesünder leben als je zuvor? Oder sehen sich Ältere unfairer Altersdiskriminierung ausgesetzt?
77,3 Jahre: Die Lebenserwartung eines 2050 Geborenen weltweit
Quelle: World Economic Forum
Ein langes Leben und unsere Einstellung zum Alter sind Themen, die mehr Beachtung verdienen. "Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die dramatischen demografischen Veränderungen, die wir in den nächsten Jahrzehnten erleben werden, nach dem Klimawandel wahrscheinlich das zweitwichtigste Problem sind, mit dem die Welt konfrontiert ist", sagt Avivah Wittenberg-Cox, Forscherin und Autorin, die mit dem britischen National Innovation Centre for Ageing und dem Stanford Center on Longevity zusammenarbeitet.
62,3 %: Geschätzter Anteil an den US Konsumausgaben der Generation 50 plus im Jahr 2050.
Quelle: AARP
Die höhere Lebenserwartung und die sinkenden Geburtenraten verändern die Alterspyramide; älteren Menschen wächst stetig eine größere Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft zu. Vor etwas mehr als einem Jahrhundert lag die Lebenserwartung weltweit bei nur 32 Jahren, mittlerweile ist sie auf 73 gestiegen. Bis 2050 wird sich die Anzahl der über 60-Jährigen auf 2,1 Milliarden Menschen verdoppelt haben. Zugleich sanken die Fertilitätsraten: von 4,7 Geburten pro Frau im Jahr 1960 auf heute nur noch 2,3.
Eine alternde Bevölkerung führt zwangsläufig dazu, dass weniger Beitragszahler mehr alte Menschen mit Gesundheits- und Rentenleistungen versorgen. Die schwindende Zahl jüngerer Arbeitskräfte, vor allem in den reichen Ländern, wird die Bedeutung von Migration und Technologie stärker in den Vordergrund rücken. Für Unternehmen wird das zu einem Thema, "das gemeinsam mit Nachhaltigkeit und KI zu den großen transformativen Trends zählt", sagt Andrew Scott, Professor an der London Business School und Autor des Buches The Longevity Imperative.
Avivah Wittenberg-Cox ist Forscherin am National Innovation Centre for Ageing UK und am Stanford Center on Longevity.
Für die Arbeitswelt werden ältere Menschen ebenfalls wichtiger. 1990 waren 28 % der OECD-Bevölkerung im erwerbstätigen Alter zwischen 45 und 64. Heute sind es bereits 40 %. Für Unternehmen sind ältere Menschen auch wegen ihrer Kaufkraft interessant. Laut der gemeinnützigen US-Ruheständlervereinigung AARP entfallen die Hälfte der globalen Konsumausgaben heute auf die Generation 50 plus. Bis 2050 dürfte dieser Anteil auf fast 60 % oder rund 96 Billionen US-Dollar zulegen. Dennoch unterschätzen viele Unternehmen die wirtschaftliche Bedeutung der älteren Generation. "Wenn wir die Fähigkeiten älterer Menschen unterschätzen, schließen wir sie von wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten aus", kritisiert Andrew Scott.
"Das zeigt sich zum Beispiel an den Produkten und Dienstleistungen, die für ältere Generationen entwickelt werden", sagt Colum Lowe, Direktor des britischen Design Age Institute. "Zu viele Unternehmen konzentrieren sich auf das, was sie glauben, das ältere Menschen brauchen – und nicht auf das, was ältere Menschen wollen. Sie unterstellen, dass man mit 65 keine Wünsche mehr hat. Aber die meisten Älteren wollen Spaß haben, ihr Leben genießen und Geld ausgeben." Lowe ermutigt Unternehmen, ihr Marketing zu überdenken: "Wenn sie erklären, dass etwas für ältere Menschen gemacht ist, wollen jüngere Menschen es nicht haben, aber ältere Verbraucher eben auch nicht."
Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt gehen die meisten Unternehmen von irrigen Annahmen aus. Sie denken, ältere Arbeitnehmer seien weniger produktiv und innovativ, obgleich es dafür keine empirischen Belege gibt. Arbeitssuchende über 50 brauchen doppelt so lange wie Jüngere, um eine neue Stelle zu finden. Wittenberg-Cox findet, dass Unternehmen der demografischen Entwicklung eine höhere Priorität einräumen müssen. Heute werde das Thema meist nebenbei unter der Überschrift "Diversität und Inklusion" abgehandelt. "Es ist noch nicht auf dem Radar der Führungskräfte", kritisiert die Forscherin.
Mit dem Eintritt in eine neue demografische Ära muss der traditionelle dreistufige Ansatz für das Leben – lernen, arbeiten, in Rente gehen – überdacht werden. Das Stanford Center on Longevity prognostiziert eine Lebenserwartung von 100 Jahren für die heute geborene Generation. Flexibilität, lebenslanges Lernen und ein häufiger Arbeitsplatzwechsel werden zur Norm. Dieser Ansatz eignet sich für Arbeitnehmer aller Altersgruppen. Auch für jene, die das reguläre Rentenalter überschritten haben und weiterhin arbeiten, ob aus finanziellen Gründen oder aus Freude an der Arbeit.
Manche Unternehmen haben bereits Schritte in diese Richtung unternommen. Zum Beispiel Unilever. Mitarbeiter, die dort am "U-Work"-Beschäftigungsmodell teilnehmen, erhalten eine zusätzliche monatliche Vergütung, wenn sie sich verpflichten, eine bestimmte Anzahl von Wochen im Jahr an Kurzzeitprojekten zu arbeiten. Außerdem bekommen sie Sozialleistungen, Rentenbeiträge, bezahlten Urlaub und Stipendien für Weiterbildungsmaßnahmen. Sie können sich auch dafür entscheiden, für eine zusätzliche Vergütung an weiteren Projekten mitzuarbeiten. Unilever will mit diesem flexiblen Modell mehr qualifizierte Mitarbeiter, insbesondere Eltern und ältere Arbeitnehmer, an das Unternehmen binden.
Nach einer OECD-Studie ist die Produktivität von Unternehmen mit generationsübergreifenden Belegschaften tendenziell höher als bei Unternehmen, die nicht auf eine gute Altersmischung ihrer Belegschaft achten. Andrew Scott ist der Auffassung, dass dies angesichts der demografischen Entwicklung für Unternehmen künftig essenziell sein wird. "Die Kombination von innovativen technologischen Ansätzen, die in der Regel bei jungen Menschen am stärksten ausgeprägt sind, mit fundierten Erfahrungen Älterer in Bezug auf Märkte, Kunden und Arbeitsweisen bringt bessere Ergebnisse hervor. Die Abkehr von Hierarchien wird dabei ebenfalls von großer Bedeutung sein", betont Scott. Ältere Arbeitnehmer haben in der Regel zwar wertvolle Erfahrungen und Fachkenntnisse im Laufe ihres Berufslebens angesammelt. Um einen hohen Beitrag zur Wertschöpfung eines Unternehmens leisten zu können, müssen sie allerdings auch neue Fähigkeiten erlernen, insbesondere im Hinblick auf die Digitalisierung. Unternehmen müssen deshalb sicherstellen, dass sie geeignete Möglichkeiten für Schulung und Weiterbildung anbieten. Der japanische Konzern Mitsubishi hat beispielsweise ein spezielles "Career Design Center" aufgebaut, das gezielte Weiterbildungsmaßnahmen für ältere Mitarbeiter anbietet.
Die Verantwortung für den Erfolg der sogenannten "Longevity Economy", bei der Ältere ab 50 einen stärkeren Beitrag zum Wirtschaftsleben leisten, liegt nicht beim privaten Sektor allein. Die Politik spielt eine wichtige Rolle, um Menschen zu unterstützen, im Alter gesund und produktiv zu bleiben. Einige Regierungen haben Subventionen für Unternehmen eingeführt, die ältere Arbeitnehmer einstellen, darunter Korea, Kanada und Australien. Untersuchungen von AARP und Oxford Economics haben gezeigt, dass Menschen jenseits der 50 nahezu doppelt so oft ein Unternehmen gründen wie Leute in ihren Zwanzigern. Die Unternehmen der älteren Gründer sind zudem länger am Markt erfolgreich.
"Ältere Unternehmer haben eine Reihe von Bedürfnissen, die durch Gesetzesänderungen und politische Maßnahmen sowie durch Bildungseinrichtungen erfüllt werden könnten", unterstreicht die Global Coalition on Aging. "Vor 25 Jahren waren es Frauen, die im Berufsleben und als Konsumentinnen viel wichtiger wurden. Heute sind es die Älteren", sagt Wittenberg-Cox. Ähnlich wie die Genderfrage beschäftigt heute auch die Alterung der Gesellschaft nahezu jedes Unternehmen. "Und wenn Sie keine Strategie dafür haben, haben Sie praktisch keine Wachstumsstrategie", betont die Forscherin.
KI verändert unser Leben und unsere Arbeit. Diese neue Ausgabe des Think:Act Magazins erforscht, was das für C-Level-Manager bedeutet.