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München Office, Zentraleuropa
27. September 2023

Phil Rosenzweig, Autor von Der Halo-Effekt, spricht über die Bedeutung unseres Urteilsvermögens

Artikel

von Farah Nayeri
Fotos von Jérôme Sessini/Magnum Photos

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Fünfzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung seines Buches Der Halo-Effekt macht sich Phil Rosenzweig weiterhin für seinen Ansatz zur Leistungsbewertung stark.

So manche Fachbegriffe gehen in den Unternehmensjargon über. Der sogenannte Halo-Effekt stammt ursprünglich aus der Sozialpsychologie und ist einer davon (von englisch "halo", Heiligenschein). Er bezieht sich auf die Neigung zu der Annahme, dass eine Firma, die in einem Bereich erfolgreich ist, auch in anderen gute Arbeit leistet. Phil Rosenzweig machte den Begriff in seinem gleichnamigen Buch populär. Er lehrte gut zwei Jahrzehnte an der IMD Business School in Lausanne. Mit Think:Act sprach Rosenzweig über die aktuelle Relevanz seines Buches im Hinblick auf ein richtiges Verständnis von Leistung.

Phil Rosenzweig standing and looking into the camera, visible from the waist up, wearing a suit jacket and striped shirt, walls of shiny tiles either side of him cast his reflection.
Scharfer Blick: Der Magnum-Fotograf Jérôme Sessini begleitete Phil Rosenzweig im Februar 2023 auf einem Spaziergang durch Paris für ein exklusives Fotoshooting für Think:Act.

Welche spezielle Beobachtung oder Erfahrung hat Sie zu Ihrem Buch Der Halo-Effekt inspiriert?

Während meiner Zeit als Dozent in der Schweiz wurde mir klar, dass viele Führungskräfte keine ausgeprägte Fähigkeit zu kritischem Denken entwickelt hatten. In vielerlei Hinsicht waren sie leichtgläubig und glaubten oft kritiklos an alles, was ihnen Leute mit einem Doktor oder Professorentitel erzählten. Das war unsere eigene Schuld. Denn wir haben ihnen nicht vernünftig beigebracht, zwischen gesichertem Wissen und vagen Behauptungen zu unterscheiden. Also sammelte ich Beispiele.

Mein Buch schrieb ich dann in einem ziemlich respektlosen Ton. Einerseits, damit die Leser ein bisschen Spaß haben. Andererseits aber auch, um zu zeigen, dass vermeintliche Vordenker oft gar nicht so viel wissen, wie sie behaupten. Wenn man seine Fähigkeit zu kritischem Denken nutzt, kann man all diesen Leuten, die so wichtig daherreden, den Wind aus den Segeln nehmen.

"Meine Botschaft: Trainieren Sie Ihr kritisches Denken, wenn Behauptungen aufgestellt werden."
Portrait of Phil Rosenzweig

Phil Rosenzweig

Autor von Der Halo-Effekt

Könnten Sie die Botschaft Ihres Buches bitte in ein paar Sätzen zusammenfassen? Und was ist für Führungskräfte dabei bis heute relevant?

Meine Botschaft: Trainieren Sie Ihr kritisches Denken, wenn Behauptungen aufgestellt werden. Insbesondere dann, wenn sie sich auf die Unternehmensleistung beziehen. Jede Menge Leute werden Sie mit Behauptungen folgender Art versuchen zu beeindrucken: "Ich habe so und so viele Jahre damit verbracht, sehr viele Daten über diese und jene Unternehmen zu sammeln. Deshalb muss ich mehr wissen als Sie." Ich will den Leuten sagen, dass sie sich davon nicht täuschen lassen sollten. Man muss sein Urteilsvermögen einsetzen.

Ich spreche über eine Reihe von Irrtümern. Der Halo-­Effekt ist dabei das größte Trugbild. Viele Dinge, von denen wir glauben, sie seien leistungsfördernd, sind es nicht. Sie spiegeln die Leistung nur wider, sind also Leistungsindikatoren. Nehmen wir ein Unternehmen, das angeblich sehr erfolgreich ist. Die Einnahmen legen zu, der Gewinn steigt, der Aktienkurs geht durch die Decke. Wir sagen dann meist, das Unternehmen habe eine brillante Strategie, einen visionären Chef, ein offenes Ohr für Kunden und anderes mehr.

Erleidet dasselbe Unternehmen einen Rückschlag, heißt es, die Strategie war doch nicht so toll, der Chef war hochmütig und man habe die Kunden vernachlässigt. Wir folgen der natürlichen Versuchung, aus Beobachtungen Rückschlüsse zu ziehen. Der Halo-Effekt zeigt, wie uns ein Gesamteindruck zu einer ganzen Reihe von spezifischen Urteilen verleitet. Das gilt auch für die individuelle Leistung. Unternehmen bewerten ihre Mitarbeiter nach einer Vielzahl von Kategorien, etwa im Hinblick auf Teamarbeit und Kreativität. Die Gefahr besteht darin, dass diese Bewertungen eine Schlussfolgerung auf der Basis eines Gesamteindrucks sind. Dieser stützt sich wiederum darauf, ob jemand zum Beispiel gute Zahlen vorlegt. Sind die Zahlen schlecht, behaupten wir das Gegenteil.

Der Halo-Effekt wirkt also auf kollektiver wie individueller Ebene und führt sowohl zu mehr negativen als auch zu mehr positiven Wahrnehmungen?

Das ist richtig. Edward Thorndike, der den Begriff Halo-Effekt vor rund 100 Jahren geprägt hat, nannte ihn in einer Studie ursprünglich den Horn-Effekt, abgeleitet von den Hörnern des Teufels. Dieser Ausdruck ist in Vergessenheit geraten.

In den letzten drei Jahren wurde die Weltwirtschaft von zwei Schocks beeinträchtigt: von der Corona-­Pandemie und vom Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Wie haben sich diese beiden Ereignisse auf die Unternehmensleistung ausgewirkt?

Die Corona-Pandemie war für viele Menschen eine Katastrophe. Und jedes Mal, wenn es eine größere Krise gibt, leidet tendenziell auch die Gesamtwirtschaft. Aber das Entscheidende ist, dass es Unterschiede zwischen einzelnen Branchen gibt. Zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 waren vor allem Fluggesellschaften, Hotels und Beherbergungsbetriebe stark betroffen.

Wenn Sie dagegen Fahrrad-Heimtrainer verkauften, gingen Ihre Umsätze durch die Decke. Jetzt, ein paar Jahre später, dreht sich das Ganze. Durch den Krieg sind die Energiepreise in die Höhe geschossen. Wenn Sie viel Energie verbrauchen, hat Ihnen das schwer geschadet. Auf der anderen Seite machen Energieunternehmen astronomische Gewinne. Das Wichtigste ist für mich, dass die Folgen je nach Branche unterschiedlich ausfallen.

Phil Rosenzweig standing with back to the wall on a platform in the Paris underground, blue seats to his right, the tracks ahead of him, posters in French pasted on the walls behind him.
In beide Richtungen: Rosenzweig betont, dass der Halo-­Effekt unsere Wahrnehmung positiv oder negativ beein­flussen kann.
"Jene Dinge, die wir als Leistungstreiber betrachten, sind gar nicht die Treiber: Sie sind nur Reflexionen von Leistung."
Portrait of Phil Rosenzweig

Phil Rosenzweig

Autor von Der Halo-Effekt

Entsteht der Halo-Effekt nicht ganz natürlich aus der menschlichen Versuchung, in allen erdenklichen Situationen nach Helden und Schurken zu suchen, nach Gut gegen Böse, nach geradlinigen, binären Erzählungen?

Das stimmt, dem widerspreche ich überhaupt nicht. Wir neigen jedoch dazu, in beide Richtungen zu übertreiben. Wenn jemand gut ist, halten wir sie oder ihn oft gleich für richtig gut. Wenn jemand aber nicht ganz so toll ist, wird sie oder er schnell als sehr schlecht abgestempelt.

Bestimmte Aspekte von Leistung sind absoluter Natur. Sie betreffen das, was Sie tun, und nur Sie allein. Und es gibt andere, die im Kern relativer Natur sind. Viele der wichtigsten Messgrößen für die Unternehmensleistung haben eine sehr wichtige relative Dimension: Es reicht nicht aus, etwas ordentlich zu tun, man muss es auch besser machen als sein Konkurrent.

In meinem Buch führe ich das Beispiel von Kmart an, lange Zeit ein großartiges Unternehmen. Dann aber kamen schwere Zeiten. Ich habe gezeigt, dass das Unternehmen bei vielen absoluten Leistungskennzahlen sogar besser geworden war. Trotzdem musste Kmart sein Geschäft aufgeben, weil Konkurrenten wie Walmart noch besser geworden waren. Oder nehmen Sie die großen amerikanischen Automobilhersteller. Ihre Autos sind in den letzten Jahrzehnten unendlich viel besser geworden. Das Scheitern der großen US-Autokonzerne ist somit kein absolutes Scheitern. Es handelt sich um einen relativen Misserfolg, der auf die starke Konkurrenz der asiatischen und europäischen Autohersteller zurückzuführen ist.

Nehmen wir an, Sie wären der CEO eines Unternehmens und wollten dessen Leistung messen. Wie gingen Sie dabei vor?

Ich würde zunächst folgende Fragen stellen: Warum war dieses Jahr ein großartiges Jahr? Ging es dabei um Erlöse und Profit? Ging es um neue Produkte? Waren die Kunden zufrieden? Einige dieser Fragen sind absoluter Natur, andere eher relativer. Dann stelle ich die nächste Frage: Was müssen wir tun, um unsere so definierten Ziele zu erreichen?

Denn wir müssen uns so am Markt positionieren, dass wir uns von unseren Wettbewerbern abheben. Man spricht dabei vom USP, dem Unique Selling Point oder dem Alleinstellungsmerkmal. Wenn nun aber jeder wüsste, was das beste Alleinstellungsmerkmal ist und wie man es am Markt umsetzt, wäre es keines mehr. Wir müssen Risiken eingehen, um unsere Ziele zu erreichen.

"Am Ende eines guten Jahres glaubt man: Wir haben alles richtig gemacht. Mag sein. Oft stimmt das aber nicht."
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Phil Rosenzweig

Autor von Der Halo-Effekt

Es gibt also keine einfache Antwort. Das Alleinstellungsmerkmal muss man als Unternehmen finden und am Markt vermitteln, richtig?

Genau. Am Ende eines guten Jahres glaubt man: Wir haben alles richtig gemacht. Mag sein. Oft stimmt das aber nicht. Nur weil die Zahlen gut sind, muss ein Unternehmen noch lange nicht innovativ sein. Messen wir die Innovationskraft besser mit geeigneten Indikatoren, also an den Innovationen der Firma. Die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens bemisst sich eben nicht nach Umsatz und Profit.

Welche Schlüsselgrößen tragen also wirklich zur Leistungsfähigkeit bei? Das kann man so pauschal gar nicht sagen, denn es hängt von der jeweiligen Branche ab. In einem Hotel liegt der Schlüssel zum Erfolg vielleicht beim Kundenservice. Ein Stahlkonzern wiederum muss heute emissionsarme Produktionsverfahren entwickeln. Jedes Unternehmen muss sich also auf die Frage konzentrieren: Auf welchem Feld konkurrieren wir am stärksten mit unseren Wettbewerbern?

Phil Rosenzweig sitting on a cream couch, looking into the camera, serious expression, wearing a dark suit, surrounded by cushions, cream wall behind him.
Klarer Blick: Wenn es um Ihr Alleinstellungsmerkmal geht, empfiehlt Rosenzweig einen ehrlichen und klaren Blick auf die Schlüsselfaktoren.

Wenn Sie Ihr Buch heute schreiben würden – welches Unternehmen profitiert Ihrer Auffassung nach gegenwärtig am meisten vom Halo-Effekt?

Apple führt seit 16 Jahren die Rangliste des Magazins Fortune der am meisten bewunderten Unternehmen der Welt an. Apple ist wirklich gut und ungeheuer profitabel. Was allerdings bemerkenswert ist: Apple wird nicht nur allgemein bewundert. In acht von neun Kategorien des Rankings rangieren die Kalifornier unter den Top Ten. Das erscheint mir nicht glaubhaft. Ist Apple wirklich in all diesen Kategorien so gut? Oder wird hier nicht in erster Linie auf die hohen Gewinne geschaut? Verleitet uns der positive Gesamteindruck nicht automatisch zu der Annahme, dass der Apple-Konzern in vielen anderen Bereichen ebenfalls gut sein muss?

Für die britische Ausgabe meines Buches bat mich der Verlag um ein Vorwort, das speziell unsere Leser aus dem Vereinigten Königreich ansprechen sollte. Marks & Spencer hatte damals gerade eine schwierige Phase hinter sich. 2005 kam Marks & Spencer in einem ähnlichen Ranking wie bei Fortune nur noch auf Platz 124. Dann stellten sie einen neuen Vorstandschef ein, und nur zwei Jahre später war Marks & Spencer das am meisten bewunderte Unternehmen Großbritanniens. In jeder von neun betrachteten Kategorien waren sie unter den Top Ten. Ein paar Jahre später ging es wieder bergab, M & S fiel in fast allen Kategorien. Man sieht: Der positive oder negative Gesamteindruck färbt offenbar stark auf die Einzelbeurteilungen ab. Da sollten wir skeptisch sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir es hier mit einem Halo­-Effekt zu tun haben, ist sehr groß!

ÜBER DEN AUTOR
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Farah Nayeri
Farah Nayeri ist die Autorin von Takedown: Art and Power in the Digital Age (2022). Sie arbeitet als Journalistin in London. Außerdem ist sie Gastgeberin des CultureBlast-Podcasts. Sie schreibt für die New York Times und war zuvor als Korrespondentin für Bloomberg in London, Paris und Rom tätig.
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