Aufbruch ins Unbekannte
Diese Ausgabe von Think:Act beschäftigt sich damit, wie Sie Ihr Unternehmen für die Unwägbarkeiten wappnen können, die vor uns liegen.
von Fred Schulenburg
Illustrations von Sören Kunz
Fotos von Dominik Butzmann
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Wer begreifen will, wie die Wirtschaft funktioniert, darf nicht nur auf die Zahlen schauen, meint Robert Shiller. Der Wirtschaftsnobelpreisträger ist davon überzeugt, dass Geschichten für unser Handeln oft wichtiger sind als Fakten und Formeln.
Ein Buch prägte ganz entscheidend Robert Shillers Sicht auf die Wirtschaft. In den 1960er-Jahren las er Only Yesterday, das 1931 erschienen war. Darin wurden die Ereignisse analysiert, die 1929 zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise geführt hatten. Shiller erkannte: Wer versteht, wie die Menschen zu ihrer Zeit die Gegenwart sahen, versteht ihre kollektiven Entscheidungsprozesse besser als jedes mathematische Modell.
Narrative Wirtschaft nennt Shiller diesen Ansatz in seinem vielbeachteten gleichnamigen Buch, das 2019 erschien. Er wirft einen Blick auf die Geschichten, die wir uns erzählen. Viele beruhen auf tief liegenden Kollektiverinnerungen und Interpretationen der Vergangenheit. So zeigt Shiller, wie Geschichten über die Krise von 1929 die Politik während der Finanzkrise von 2008 beeinflussten. Narrative sind wie Viren, sagt er: Sie können mutieren, eine Zeit lang schlummern und erneut ausbrechen. So wie die Pest-Erzählungen, die mit Ausbruch von Covid-19 wieder aufkamen.
Entscheidungen beruhen nicht nur auf dem Streben nach persönlicher Nutzenmaximierung, sagt Shiller, sondern unterliegen auch anderen mächtigen Einflüssen. Das sollten die Wirtschaftswissenschaften endlich anerkennen.
Ich verstehe darunter das Erforschen von populären Erzählungen, die sich wie ansteckende Krankheiten verbreiten. Ich nenne sie "ökonomische Narrative". Sie haben Einfluss darauf, welche wirtschaftlichen Entscheidungen Menschen treffen, wie sie sich selbst die Welt erklären, was ihnen wichtig ist und wo sie Gefahren sehen – letztlich also auf ihr gesamtes Denken. Narrative Wirtschaft untersucht, welche dieser Geschichten sich zu bestimmten Zeiten ausbreiten. Die traditionelle Ökonomik hingegen betrachtet Menschen als rationale Optimierer, die auf neue Informationen angemessen reagieren.
Robert Shiller ist Ökonomie-Professor an der Yale University. Der Autor des Bestsellers Irrational Exuberance sagte die Immobilienkrise in den USA voraus, erhielt 2013 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften und 2015 den Visionary Award des US Council for Economic Education.
Das Buch Only Yesterday von Frederick Lewis Allen beschreibt Trends, wechselnde Moden und Unterhaltungen über Nebensächlichkeiten. Etwa darüber, wie die Menschen während der Wirtschaftskrise auf die Einführung der neuen Wählscheibentelefone reagierten. Durch sie brauchte man keinen Vermittler mehr auf dem Amt, der einen durchstellt. Die Menschen sahen das als ein typisches Beispiel dafür, wie Maschinen Jobs vernichten. Und ihr Gedanke dabei war: "Früher oder später werde auch ich meinen Job verlieren." Das erklärt für mich die Geschichte der "Great Depression" viel besser als eine Betrachtung von Zentralbank- und Steuerpolitik. Ich würde mir wünschen, dass die narrative Wirtschaft solche Erzählungen genauso klassifiziert, wie Ornithologen Vögel klassifizieren.
Durch die Informationstechnologien verbreiten sich Narrative schneller, aber Technik spielte schon immer eine Rolle. Das begann mit der Druckerpresse von Gutenberg. Und Ereignisse wie die Tulpenkrise im 17. Jahrhundert wurden meiner Meinung nach durch Zeitungen und schnellere Kommunikationswege befördert. Der Einfluss der Technologie wird zwar dadurch beschränkt, dass die Anzahl der Geschichten, die wir gleichzeitig im Kopf haben können, begrenzt ist. Aber gut erzählte Storys können sich heute schneller verbreiten. Das fördert Kreativität. Und die Geschichten mutieren stärker, eben wie bei Krankheiten.
Die Arbeiterbewegung verändert wirtschaftliche Machtstrukturen und wird durch Narrative angetrieben. Dadurch gibt es die Vorstellung, dass Arbeiter sich zusammentun und Gewerkschaften gründen, und es gibt Redner, die das Geschehen interpretieren. So entwickelten sich Streik-Erzählungen, die die Gesellschaft polarisierten. 1886 etwa gab es den Haymarket Riot, einen Arbeiterprotest, der in einer Auseinandersetzung mit der Polizei endete. Während der Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren war dieses Ereignis immer noch im Gedächtnis der Menschen präsent – ein halbes Jahrhundert danach.
Oft höre ich die Frage: Sollte der Haymarket Riot in Vorlesungen angesprochen werden? Das ist nicht entscheidend. Kaum jemand erinnert sich noch an den Haymarket Riot, dafür ist die Great Depression heute selbst eine mächtige Geschichte, die jeder kennt. Sie ist ein bisschen mutiert und plötzlich ging sie viral. Deswegen wurde während der Rezession von 2007 bis 2009 so viel darüber geredet.
Bernanke war kein narrativer Ökonom, aber er hatte sich genug mit dem Thema beschäftigt, um einige der Erzählungen aufzuschnappen. Jedenfalls kursierte 2007 und 2008 in der Fed das Franklin Roosevelt zugeschriebene Zitat: "Das Einzige, wovor wir uns fürchten müssen, ist die Furcht selbst."
Hinter den Bankenrettungen in Großbritannien und den USA stand der Versuch, Panik zu verhindern. Der Rettung von Banken wie Northern Rock lag keine ökonomische Theorie zugrunde, sondern ein Blick in die Geschichte. Die Menschen sollten nicht denken, dass die Great Depression zurückgekehrt sei. Die Menschen hatten noch die Bilder vom Ansturm auf geschlossene Banken im Kopf. Solche Bilder wollte man verhindern. Ich finde, dass das eine sehr vernünftige politische Entscheidung war. Es hätte viel schlimmer kommen können. Man kann also aus der Geschichte lernen.
Wir brauchen ein realistisches Bild davon, wodurch Entwicklungen ausgelöst werden. Deswegen müssen wir darüber nachdenken, wie wir an bessere Informationen gelangen. Wir haben digitalisierte Parlamentsbeschlüsse, Redemanuskripte, Gerichtsdokumente, Zeitungen, Magazine, ja sogar Tagebücher und Predigten. All das ist Teil des narrativen Prozesses und kann quantifiziert werden. Wir könnten auch Daten sammeln, die mehr darüber aussagen, wie die Menschen in ihrer Zeit dachten.
Als Reaktion auf die Great Depression begann man systematisch Einkommen zu erfassen, und das Bruttoinlandsprodukt wurde erfunden. Das änderte die Datenlage. Die "keynesianische Wirtschaftspolitik" konzentrierte sich nun auf Werte wie BIP und Arbeitslosenquote. Aber wenn Sie Keynes lesen, stellen Sie fest, dass er mit dieser Entwicklung des "Keynesianismus" wohl nicht glücklich gewesen wäre. Er klingt mehr wie ein narrativer Ökonom. 1919 schrieb er in seinem Buch The Economic Consequences of the Peace über das Narrativ, das entstünde, wenn man Deutschland für den Ersten Weltkrieg zu hart bestrafen würde. Eigentlich sagte er damit den Zweiten Weltkrieg vorher, auch wenn er es nicht aussprach.
Weil Erzählungen sehr langlebig sein können. Und das Narrativ, das sich Wirtschaftswissenschaftler seit Langem erzählen, lautet: Wir sind Mathematiker! Wir haben doch Computermodelle! Und darauf sind wir stolz. Es gibt in den Wirtschaftswissenschaften einen Platz für die Mathematik, und das ist richtig so. Aber wir sollten zumindest ein klein bisschen mehr in Richtung narrative Wirtschaft umschwenken.
In den USA sagten Wirtschaftswissenschaftler über Donald Trump: "nicht unsere Zuständigkeit." Aber er war omnipräsent in unseren Gesprächen und unserem Denken. Wie kann das nicht wichtig für die Wirtschaft sein?
Na ja, Trump ist kein US-Narrativ, sondern ein weltweites Phänomen. Aber es gibt noch weitere wichtige Narrative. Etwa das von der globalen Erwärmung. Das ebbt gerade wieder ein bisschen ab, weil wir uns nicht gleichzeitig wegen Covid-19 und Politik Sorgen machen können. Eine andere Erzählung ist die vom "Deep State". Oder dass die Medien auf Befehl von oben das Volk belügen. Wir trauen den Nachrichten nicht mehr und haben keinen Achtung mehr vor den Medien. Ich halte das für eine gefährliche Weltsicht.
Diese Ausgabe von Think:Act beschäftigt sich damit, wie Sie Ihr Unternehmen für die Unwägbarkeiten wappnen können, die vor uns liegen.