Sebastian Thrun bringt Technologie bei, zu denken, zu fahren und zu fühlen. Der IT-Professor und Firmengründer ist überzeugt: Künstliche Intelligenz kann unser Leben nicht schnell genug verändern, denn sie macht die Welt zu einem besseren Ort.
Der Durchbruch kam mit Stanley. Am 8. Oktober 2005 steuerte ein VW Touareg dieses Namens durch einen tückischen Kurs in der Wüste Nevada – und das völlig selbstständig. Stanley bescherte dies den Sieg bei der "Grand Challenge", einem Wettbewerb, den die DARPA initiiert hatte, die Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums. Den Informatiker Sebastian Thrun, dessen Team einen entscheidenden Teil zu diesem Sieg beigesteuert hatte, machte es auf einen Schlag bekannt. Er hatte bewiesen, dass autonom fahrende Autos keine Science-Fiction sind. Das Ereignis löste milliardenschwere Investments von Automobil- und IT-Firmen aus und beflügelte die Gründung Dutzender Start-ups.
Der heute 54-Jährige hat den Großteil seines Berufslebens damit verbracht, Technologien zu entwickeln, die selbsttätig sehen, fahren, denken und fliegen können und damit ihren Nutzern aus Thruns Sicht "übermenschliche Fähigkeiten" verleihen. Der gebürtige Solinger begann seine Karriere als Akademiker an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. 2003 ging er an die Stanford University in Palo Alto. Einmal im Silicon Valley angekommen, lag der Sprung ins Unternehmertum nahe. Für Google baute er die Forschungsabteilung Google X auf, er war treibende Kraft bei dessen Projekt "Driverless Car", aus dem das Unternehmen Waymo hervorging, und spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Google Street View und der umstrittenen Datenbrille "Google Glass".
Parallel gründete Thrun auch mehrere eigene Unternehmen, unter anderem die Bildungsplattform Udacity und das KI-Unternehmen Cresta, das Callcenter-Mitarbeitern während der Arbeit Ratschläge ins Ohr flüstert. Thruns jüngstes Projekt führt buchstäblich in neue Höhen: Er ist der CEO von Kitty Hawk, einem der Pioniere im Bereich Lufttaxis, gegründet von Google-Mitgründer Larry Pa.
Haben Sie im akademischen Betrieb Dinge gelernt, die Ihnen im Geschäftsleben zugute kamen?
Wissenschaftler sind offen dafür, auf Grundlage neuer Erkenntnisse ihre Meinung zu ändern. Für sie ist dies eine Eigenschaft, die man braucht, um die Wahrheit voranzubringen. Aber in einigen Bereichen unserer Gesellschaft wird diese Eigenschaft nicht besonders geschätzt, etwa der Politik. Was hingegen hilft, ist, dass Wissenschaftler von einer unstillbaren Neugier angetrieben werden. Man versucht stets, noch tiefere Einblicke zu erhalten. Das spielt auch als Entrepreneur eine große Rolle.
Und umgekehrt: Worauf hat die akademische Welt Sie nicht vorbereitet?
Es war für mich völlig neu, Mitarbeiter zu führen. Nicht bloß Studenten, mit denen man meist persönlich spricht, sondern ganze Teams von manchmal bis zu 1.000 Team-Mitgliedern. Als Professor kommt man nicht in die Verlegenheit, dass man so viele Menschen aufeinander abstimmen muss. Das ist ein bisschen wie in einem Elfenbeinturm. Man beschäftigt sich mit Themen, für die sich Fachkollegen interessieren, aber eher nicht mit Themen, die die Welt verändern könnten.
Sie haben in unterschiedlichen Firmen gearbeitet und selbst mehrere Start-ups gegründet. Gibt es etwas, das alle Unternehmen gemeinsam haben?
Es gibt zwei Dinge, die mich sehr gut beschreiben. Zum einen möchte ich die Welt durch das, was ich tue, zu einem besseren Ort machen – sei es durch selbstfahrende Autos oder den globalen Zugang zu Bildung. Zum anderen begebe ich mich gern in Situationen hinein, in denen ich etwas dazulernen kann. Darum tendiere ich dazu, mich mit Dingen zu beschäftigen, in denen ich schlecht bin, statt mit solchen, in denen ich gut bin. Das ist manchmal sehr herausfordernd, aber es gibt mir die Chance, als Persönlichkeit zu wachsen.
Wie finden Sie neue Bereiche, die wirtschaftliches Potenzial haben?
Als ersten Schritt in meinem Denkprozess stelle ich mir die Frage: Gibt es eine tolle, möglichst neue Technologie, die man nutzen kann, um etwas sehr Ineffizientes zu verbessern? Nehmen wir das Beispiel Bildung. Man könnte sagen, dass die Art und Weise, wie wir Bildung an Orten wie Stanford vermitteln, sehr ineffizient ist, weil wir nicht die gesamte Welt erreichen und weil es sehr teuer ist, eine so kleine Zahl von Studenten zu unterrichten. Diese Erkenntnis mache ich dann zu meiner Richtschnur. Bei jungen Studenten erlebe ich oft das Gegenteil: Sie verlieben sich in eine Technologie und möchten dann ein Unternehmen darum herum bauen. Es kommt darauf an, die bestmögliche Lösung zu suchen. Und das ist möglicherweise nicht die, die wir mögen.
Welche Rolle spielt es für Sie dabei, ob ein Unternehmen einen Nutzen für die Menschheit bringt?
Sebastian Thrun
wurde in Solingen geboren und studierte in Hildesheim. Er promovierte in Informatik und Statistik, dozierte in den USA an der Carnegie Mellon University und der Stanford University, arbeitete für Tech-Konzerne wie Google und gründete mehrere Start-ups. Er gilt als Pionier der probalistischen Robotik, die Statistik und Robotik miteinander kombiniert.
Ich habe mehr als zwei Jahrzehnte lang an Verkehrsthemen gearbeitet. Der Auslöser dafür war der tödliche Verkehrsunfall eines High-School-Freundes. Aber nach ein paar Jahren wurde mir klar, welches Problem ich eigentlich lösen wollte: Verkehr sicherer und leichter zugänglich zu machen. So erkannte ich, dass es eine bessere technische Lösung gibt. Darum ging ich zu Kitty Hawk. Die Vision des Unternehmens ist es, Transporte in die Luft zu verlagern. Dort gibt es jede Menge Platz für Verkehr, der nicht nur extrem sicher ist, sondern auch extrem schnell und umweltfreundlich. Das ist ein Beispiel dafür, wie ich und mein Mitgründer Larry Page unser Denken schärfen. Wir fragen uns ständig: Ist der Weg, den wir eingeschlagen haben, der richtige und beste, um Transporte sicherer, besser und grüner zu machen?
Sie haben Erfahrung mit sehr großen Teams gemacht, etwa bei Google, und mit sehr kleinen Teams in verschiedenen Start-ups. Was liegt Ihnen mehr?
Ich führe definitiv lieber kleine Teams als große. Denn in größeren Teams gibt es nach meiner Erfahrung zwei Schwierigkeiten. Das Management über und neben einem besteht durchweg aus willensstarken Menschen, die alle ihre eigenen Sichtweisen haben. In Unternehmen wie Google muss man sich die ganze Zeit verteidigen. Zweitens kann man in großen Teams nicht zu allen wichtigen Leuten eine persönliche Beziehung aufbauen. Dafür muss man sehr gut und sehr deutlich kommunizieren. Noch schwieriger wird es, wenn man das Unternehmen neu ausrichten will
Warum ist das so?
Man hat ein Team, das perfekt darauf eingestellt ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Und dann nimmt man dieses Team und führt es in eine völlig andere Richtung. Fast wie ein General, der auf einem Schlachtfeld nicht vorankommt, sich zurückzieht und zu einem anderen Schlachtfeld marschiert. Man muss seinen Leuten erklären, was los ist, sie überzeugen und führen.
Was macht das Silicon Valley zu so einem starken Innovationszentrum?
Die meisten Menschen im Silicon Valley stammen nicht von hier. Sie haben sich diesen Ort bewusst ausgesucht. Ihre Gedanken kreisen ständig darum, wie sie die Welt in einen besseren Ort verwandeln können. Das Silicon Valley ist ein tolles Ökosystem für Innovationen, mit einem Finanzierungssystem, das es Gründern leicht macht, zu starten. Hinzu kommt ein stetiger Strom an außerordentlichen Talenten aus Orten wie Stanford und Berkeley.
Sollten andere Orte und Entrepreneure versuchen, so zu werden wie das Silicon Valley?
Jede Gesellschaft hat die Chance, so zu werden wie das Silicon Valley. Es ist nur eine Frage der Einstellung. Sind wir bereit dazu, gescheiterte Entrepreneure zu belohnen? Im Silicon Valley feiern wir solche Menschen, wir stellen sie ein und geben ihnen Geld, damit sie es erneut probieren.
Automatisierung und Künstliche Intelligenz sorgen für viel Unruhe und Angst. Müssen wir Angst davor haben, dass wir von Robotern ersetzt werden?
Technologischer Fortschritt ist die DNA der freien Welt. Sie hat uns immer stärker gemacht. Vor Beginn der Industriellen Revolution arbeiteten die meisten Menschen in der Landwirtschaft. Ein Bauer konnte damals gerade genug Nahrung für seine Familie anbauen. Dann kamen die Maschinen auf, und plötzlich konnte ein Farmer genug Nahrung für Hunderte von Familien produzieren. Nur wenn man die Welt für ein Nullsummenspiel hält, würde man die vielen Bauern bedauern, die dadurch ihre Arbeit verloren. Denn was wurde aus den Menschen, die sonst Bauern wären? Sie sind nun Piloten, Softwareprogrammierer, Zahnärzte oder Krankengymnasten. Fast keiner unserer heutigen Berufe existierte vor 150 Jahren. Ich glaube fest daran: Auch wenn wir jetzt Künstliche Intelligenz einsetzen, um die repetitiven Teile unserer Arbeit zu automatisieren, werden wir Menschen viel bessere Jobs finden. Wir müssen nur unsere Fähigkeiten ausbauen.
Viele Führungskräfte geben zu, dass ihnen die Veränderungen, die Künstliche Intelligenz bewirkt, zu schnell geschehen.
Nehmen wir mal ein Beispiel für Künstliche Intelligenz, an dem ich beteiligt war: das autonom fahrende Auto. Manche Menschen sagen, dass es die Automobilindustrie erschüttern könnte und die Zahl der Autos massiv reduzieren wird. Fragen Sie sich jedes Mal, wenn jemand beerdigt wird, der bei einem Verkehrsunfall gestorben ist, ob diese Veränderung schnell genug vorangeht. Warum lassen wir zu, dass jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen im Straßenverkehr sterben? Wer möchte auf Elektrizität in seinem Haus verzichten, auf sein Telefon oder eine Narkose, wenn er operiert wird? Wenn ich mir das Leid anschaue, das weltweit durch extreme Armut, durch Krankheiten oder Covid-19 verursacht wird, frage ich mich: Warum finden wir nicht schneller Lösungen dafür?
Die öffentliche Meinung zu Technologie schwankt zwischen Euphorie und Ablehnung. Wenn Sie das Jahr 2021 aus technologischer Perspektive betrachten: Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Ich glaube, in den vergangenen fünf Jahren hat die größte Transformationsperiode in der Geschichte der Menschheit begonnen. Der Fortschritt jeder Gesellschaft lässt sich an ihren Fähigkeiten zu kommunizieren ablesen. Die Druckerpresse machte es möglich, dass einzelne Menschen Millionen andere Menschen durch Bücher erreichen konnten. Später wurden Fernsehen und Radio zu einem Megafon, über das man eine große Menge von Menschen ansprechen konnte.
Die Aufklärung
, die wissenschaftliche Revolution, der Übergang von kirchlicher zu weltlicher Macht, der Aufstieg der Demokratien – sie alle sind verknüpft mit der Fähigkeit von Menschen zu kommunizieren. Aber Kommunikation war immer teuer. Erst heute kann ein Einzelner Millionen erreichen, ohne einen einzigen Cent auszugeben, oder sogar Geld dabei verdienen.
Gleichzeitig kranken diese Plattformen an Fake News, Propaganda und zunehmender Radikalisierung der Nutzer.
Durch die Art, wie Menschen das sammeln und weiterleiten, was sie für relevant halten, sind Unternehmen wie Facebook zu einer Art
Nachrichtenagenturen geworden
. Das bringt jede Menge Herausforderungen mit sich. Doch das war auch früher schon so. Als die ersten gedruckten Bücher erschienen, hielt man Druckerpressen im Osmanischen Reich für Teufelszeug. Und Gesellschaften, die die gedruckten Bücher erlaubten, mussten lernen, Wahrheit von Fiktion zu unterscheiden. So entstanden großartige journalistische Institutionen, die als Referenz für Glaubwürdigkeit standen. Wir müssen neu entdecken, worauf Vertrauen basiert. Auch wenn Technologie ein Enabler ist, so würde ich sie niemals allein für die genannten Probleme unserer heutigen Gesellschaft verantwortlich machen.
Über den Autor
Steffan Heuer
Steffan Heuer lebt in Berlin und Kalifornien. Seit mehr als zwei Jahrzehnten schreibt er über Technologie,Wirtschaft und Kultur des Silicon Valley, unter anderem für The Economist, die MIT Technology Review und brandeins.
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Das Leben verbessern
Die Pandemie hat uns in vielen Bereichen zurückgeworfen. Aber die Krise hat auch viele Entwicklungen im Gesundheitswesen massiv beschleunigt. Neue Technologien und Konzepte könnten unsere Gesellschaft in bislang unvorstellbarer Weise revolutionieren.