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"Smarte" Medizintechnik: Großes Potenzial, begrenzte Ressourcen

"Smarte" Medizintechnik: Großes Potenzial, begrenzte Ressourcen

2. Juni 2019

Mehrheit der Unternehmen erwartet, dass datenbasierte Dienstleistungen ihr Geschäftsmodell verändern

Datenbasierte Dienstleistungen gewinnen in der Medizintechnik immer mehr Bedeutung. Ob in den Bereichen E-Health, Telemedizin, bei Plattformen oder mobilen Dienstleistungen für Patienten: Fast neun von zehn befragten Entscheidern gehen davon aus, dass solche Leistungen bei künftigen Kaufentscheidungen eine wichtige Rolle spielen. Für mehr als die Hälfte sind datenbasierte Dienstleistungen deswegen auch ein zentraler Bestandteil der Unternehmensstrategie. Fast zwei Drittel wollen in den nächsten drei Jahren signifikant in die Entwicklung entsprechender Angebote investieren. Das sind einige der wichtigen Ergebnisse der aktuellen Branchenstudie Smart Medtech von Roland Berger und der Universität St. Gallen.

Datenbasierte Dienstleistungen versprechen viele Vorteile. Durch ihre starke Kundenorientierung bringen Medizintechnikunternehmen gute Voraussetzungen zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle mit. Trotzdem agieren viele Firmen nach wie vor abwartend.
Datenbasierte Dienstleistungen versprechen viele Vorteile. Durch ihre starke Kundenorientierung bringen Medizintechnikunternehmen gute Voraussetzungen zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle mit. Trotzdem agieren viele Firmen nach wie vor abwartend.

Einige erfolgreiche Anwendungsbeispiele zeigen, wie es geht. So etwa die Plattformlösung HealthSuite von Philips. Sie fasst Patientendaten aus Geräten, ob zuhause oder in der Klinik, in einer Cloud zusammen und stellt sie herstellerübergreifend zur individuellen oder aggregierten Analyse zur Verfügung. Von dieser Möglichkeit macht etwa Ypsomed Gebrauch, ein Unternehmen, das sich auf Injektionssysteme zur Selbstmedikation spezialisiert hat. Durch die Integration der intelligenten Injektionssysteme in die HealthSuite, ist Ypsomed in der Lage, digitale Dienstleistungen zur Überwachung der Therapietreue zu entwickeln und Ihren Kunden, den pharmazeutischen Unternehmen, zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus ermöglicht die HealthSuite pharmazeutischen Unternehmen, Injektionsdaten mit Daten aus weiteren Quellen zu integrieren und zur Entwicklung neuartiger digitaler Dienstleistungen zu nutzen.

"Die wachsende Bedeutung von Daten in der Medizintechnik birgt Chancen und Risiken. Etablierte Unternehmen müssen auf verstärkten Wettbewerb, steigenden Kostendruck im Gesundheitswesen und veränderte Kundenerwartungen reagieren. Noch sind sie in einer Position der Stärke. Aber es wird Zeit, den Wandel aktiv zu gestalten."
Portrait of Thilo Kaltenbach
Senior Partner
München Office, Zentraleuropa

Mehr Komfort für Patienten, neue Geschäftsmodelle für Unternehmen

Der Untersuchung zufolge lassen sich datenbasierte Dienstleistungen derzeit in fünf Kategorien einordnen. Das Philips-Beispiel gehört in den Bereich Plattformen. Plattformen ermöglichen es, mehr als ein Medizintechnikunternehmen in die Dienstleistungserbringung zu integrieren. Weitere Kategorien sind E-Health-Lösungen, Telemedizin oder Digital- beziehungsweise Mobile-Health-Lösungen. Ein Beispiel für Letzteres ist die datenbasierte Blutzuckermessung von Roche Diabetes Care. Dabei überträgt ein unter der Haut eingesetzter Blutzucker-Sensor Daten an das Smartphone des Patienten und alarmiert ihn bei Bedarf per Vibration. Über die App mySugr oder Smart Pix auf dem PC können Patienten ihre Blutzuckermessdaten auswerten. Die App bietet außerdem weitere nützliche Funktionen wie Erinnerungen, Insulinrechner und Informationen zu Mahlzeiten. Über eine einfache Schnittstelle kann aber auch der behandelnde Arzt zugreifen, die Therapie überwachen und gegebenenfalls die Medikation anpassen. Mit Accu-Chek erleichtert Roche also sowohl den Alltag von Diabetes-Patienten (und bindet sie damit als Kunden) als auch deren Betreuung und Einstellung durch den Arzt. Die fünfte Kategorie sind sogenannte Product-Enabling- oder Product-Augmenting-Services. Darunter sind produktbezogene digitale Dienstleistungen an der Schnittstelle zwischen Hersteller und dem Anwender der Medizintechnik, dem medizinischen Leistungserbringer, zu verstehen. So ermöglicht Viz.ai, ein kalifornisches Start-up, durch den Einsatz künstlicher Intelligenz die Analyse von CT-Bildern, um frühzeitig drohende Schlaganfälle zu erkennen und das Klinikpersonal zu benachrichtigen. Das Beispiel zeigt auch, wie Start-ups erfolgreich in das Ökosystem eindringen und zusätzliche Wertschöpfung erbringen, die direkten Einfluss auf das Leistungsversprechen von Medizintechnikunternehmen hat.

MedTech-Unternehmen brauchen neue Kompetenzen und Partner

Daran, dass datenbasierte Dienstleistungen ein wichtiger Zukunftsmarkt sind, herrscht auch in den Unternehmen der Branche kein Zweifel. So erwarten fast 90 Prozent der Unternehmen, dass datenbasierte Dienstleistungen zukünftig die Kaufentscheidung ihrer Kunden beeinflussen werden. Allerdings haben bislang erst 45 Prozent klar formulierte strategische Ziele für dieses Geschäft. Etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen hat in den vergangenen drei Jahren umfassend in diesen Bereich investiert. In den nächsten drei Jahren wollen zwei von drei Unternehmen dieses Engagement weiter ausbauen. Damit zeigt die Untersuchung allerdings auch, dass, trotz stark zunehmender Bedeutung datenbasierter Dienstleistungen, ein Großteil der Unternehmen bei der Investitionsplanung noch zurückhaltend ist. Das könnte damit zusammenhängen, dass die strategische Bedeutung datenbasierter Dienstleistungen zwar hoch, die damit verbundenen Umsätze aber eher niedrig eingeschätzt werden. So rechnen die Unternehmen mittelfristig nur mit einem Umsatzanteil im einstelligen Prozentbereich.

"Klar formulierte Ziele sind wesentlich, um datenbasierte Dienstleistungen in der Organisation zu verankern und Mehrwert zu generieren."
Portrait of Philipp Schmitt
Partner
Büro Zürich, Zentraleuropa

Mehr als 80 Prozent der Firmen erwarten, dass datenbasierte Dienstleistungen ihr Nutzenversprechen und die Beziehungen zu ihren Kunden grundlegend verändern werden. So erlauben die Dienstleistungen beispielsweise eine engere Verzahnung mit den Prozessen der Kunden. Dadurch steigen die Wechselkosten und die Kundenbindung. Die zunehmende Digitalisierung des Gesundheitswesens führt aber auch zu neuen Anforderungen der Kunden in Bezug auf Medizinprodukte. Damit werden datenbasierte Dienstleistungen zu einem wichtigen Differenzierungsmerkmal in der Branche. Datenbasierte Wertschöpfung wird sich zu einem Kernbestandteil vieler Medizinprodukte entwickeln. Innerhalb möglicher klinischer Anwendungsbereiche sehen die befragten Unternehmen die größte Relevanz für Anwendungen zur Entscheidungsunterstützung. Rund ein Viertel hat hier bereits erste Dienstleistungen im Einsatz. Auch im E-Health sehen Medtech-Firmen großes zukünftiges Potential für datenbasierte Dienstleistungen.

Klar ist aber auch: Aus Bordmitteln sind derzeit die wenigsten Unternehmen dazu in der Lage, datenbasierte Dienstleistungen zu entwickeln und anzubieten. Nicht ausreichender Zugang zu relevanten Patientendaten, Datenschutzbestimmungen wie GDPR und mangelnde IT-Kompetenzen machen die Arbeit nicht einfacher. Medizintechnikunternehmen müssen neue Kompetenzen entwickeln und über Partnerschaften Expertise in den Bereichen Konnektivität oder Datenanalyse aufbauen. Wer wettbewerbsfähig bleiben will, sollte jetzt definieren, wo und wie die Nutzung von Daten sinnvoll ist. Im After-Sales-Bereich beispielsweise können digitale Logistiklösungen die Effizienz der Supply Chain zum Anwender hin optimieren und die Kundenbindung stärken. Auch Predictive-Maintenance-Lösungen bieten großes Potenzial für neue Geschäftsmodelle, setzen allerdings auch umfassende technologische Kompetenzen voraus.

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