Bleib Mensch!
In dieser Ausgabe des Think:Act Magazins untersuchen wir, was es bedeutet, Mensch in unserer komplexen und hochdynamischen Welt zu sein – aktuell und in der Zukunft.
von Fred Schulenburg
Illustrationen von Tatiana Trikoz
Technologie ist Teufelszeug. Vor 200 Jahren sagten Ludditen das über mechanische Maschinen. Jetzt warnen Neo-Ludditen vor den Gefahren von Robotern und Smartphones. Und viele von ihnen stammen aus der Tech-Branche.
Zerstören ist die einzige Lösung. So dachte Ned Ludd, ein Weber aus England, als er 1779 zwei Webstühle zerschlug – Symbole einer neuen Technologie, die seine Existenz bedrohten. Ob sich das Ereignis tatsächlich so zutrug, ist fraglich. Vielleicht ist das Jahr falsch, vielleicht waren es andere Maschinen, und vielleicht hieß der Zerstörer gar nicht Ludd. Fakt aber ist: Der "Luddismus" wurde zum Namen eines historischen Phänomens – einer Bewegung von Arbeitern, die einen verzweifelten, wenn auch zum Scheitern verurteilten Kampf gegen die Technik führten, die ihr Leben und Überleben bedrohte.
Rund 200 Jahre später scheint es erneut, als ob sich Widerstand gegen Technik breitmacht. Vor wenigen Monaten ist die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU in Kraft getreten. Gegen mehrere soziale Netzwerke wird ermittelt, weil ihre Plattformen für politische Zwecke missbraucht wurden. Und der IT-Gigant Apple selbst hat jüngst Features entwickelt, die Nutzer vom übermäßigen Gebrauch seiner Produkte abhalten soll. Auf breiter Ebene wächst die Sorge darüber, welche Folgen die global rapide voranschreitende Technik haben könnte: auf die Arbeitswelt, auf die Gesellschaft oder ganz generell darauf, wie Menschen mit einander umgehen.
Viele Artikel und Bücher beschäftigen sich mit dem Thema, einige davon kommen aus unerwarteten Ecken. Jaron Lanier, Internetpionier und einer der Väter der Virtual Reality, etwa ruft in seinem jüngst erschienenen Buch uns alle dazu auf, unsere Accounts bei sozialen Netzwerken zu löschen. Und Fahrhad Manjoo, Technik-Autor bei der New York Times, erregte Aufsehen mit einer Kolumne, in der er beschrieb, wie er wieder Printprodukte las und dadurch gesünder und schlauer wurde. Sie sind nur zwei Vertreter einer wachsenden Gruppe eigentlich technikbegeisterter Menschen, die sich zunehmend Sorgen machen. Über die Auswirkungen von Technik, die uns eine glückliche Welt versprach, in der alle miteinander verbunden sind, aber stattdessen Disruption, Unzufriedenheit und den Verlust unserer Würde brachte.
Sind sie die neuen Ludditen? Nur, dass ihre Wut nun auf künstliche Intelligenz zielt, auf Roboter oder sogar auf die Smartphones in unseren Hosentaschen? Und falls ja: Wie werden Gesetzgeber und die Technologieunternehmen darauf reagieren? Jamie Bartlett glaubt, dass 2018 das Jahr der Neo-Ludditen sein könnte. In zahlreichen Artikeln und Podcasts führt der Direktor am "Centre for Analysis of Social Media" beim englischen "Think Tank" Demos die Belege für diese These auf. Sie reichen von kleinen Zurückweisungen durch Menschen, die regelmäßig offline gehen, bis hin zu Angriffen Einzelner auf Tech-Unternehmen in Frankreich. Letztere seien möglicherweise nur ein Anfang, sagt Bartlett. Er glaubt an weitere Reaktionen, wenn flächendeckend autonome Lkws eingeführt werden. "Wer glaubt, dass Menschen ruhig dabei zusehen, wie ihre Arbeitsplätze zerstört werden, ist naiv."
Es gebe zwar viel Gerede, aber nur wenige Menschen, die tatsächlich ihre Geräte abschalteten, sagt Ethan Zuckerman, Direktor des Center for Civic Media am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Viele der "Ludditen", spottet er, nutzten ebenjene sozialen Kanäle, um ihre Botschaft zu verkünden. Das Paradebeispiel dafür ist Manjoo, der in den zwei Monaten seines angeblichen Offline-Lebens hunderte Tweets absetzte. Zuckerman glaubt, dass wir eine "moralische Panik" erleben. Die aber sei nichts Neues. Immer wieder seien Menschen wegen neuer Technologien beunruhigt gewesen, bisweilen sogar wegen der Gefahren, die von Fernsehgeräten oder Romanen ausgingen.
Aber auch Zuckerman sieht die Entwicklung, die die Branche genommen hat, kritisch. Dabei war er in den 90er Jahren einer der Entwickler der Pop-up-Werbung – einer der entscheidenden Triebfedern für das werbebasierte Geschäftsmodell unzähliger Internetfirmen. In einem Essay für das Magazin "The Atlantic" bereute er diesen Schritt später als "die Ursünde des Internets". Ebenso wie Bartlett ahnt er, welche Gewalten entfesselt werden könnten, wenn fahrerlose Lkws die letzte Bastion des Ein-Mann-Unternehmertums bedrohen. "Wir dürfen das nicht unterschätzen", sagt er. "Ich glaube, worum es wirklich geht, ist das Gefühl zunehmender Ungerechtigkeit."
Wie begegnet man dieser Ungerechtigkeit? Es gibt Reaktionen auf unterschiedlichen Ebenen. Einer individuellen Ebene und einer größeren, industriellen und sozialen Ebene. Bei den individuellen Reaktionen reicht die Bandbreite von kompromisslosen Ludditen bis hin zu moderaten Kräften, die anerkennen, dass sich einiges ändern muss, aber nicht alles.
Zu den Ersteren zählt Jaron Lanier. Er ist vor allem über die sozialen Netzwerke beunruhigt. Sie hätten aggressives Verhalten und sozialen Zusammenbruch bewirkt, sagt er. Er fordert: Löscht eure Accounts! In seinem Buch führt er zehn Gründe dafür auf. Unter anderem, dass uns diese Netzwerke unseren freien Willen nehmen, die Wahrheit aushöhlen, uns unglücklich und Politik unmöglich machen. Aber Lanier nennt noch einen anderen, drastischeren Grund: "Soziale Medien machen aus dir ein Arschloch.".
Ein weiterer Hardliner unter den Neo-Ludditen ist Steve Hilton. Der ehemalige Berater des britischen Premierministers David Cameron lebt heute in den USA und moderiert eine Show auf dem konservativen Fernsehsender Fox. Seit Jahren besitzt er kein Mobiltelefon mehr, sagt er. Und er plädiert an uns alle, es ihm nachzutun. Smartphones einfach weniger zu nutzen, reiche nicht, meint er: "Das ist wie Rauchen. Man muss aufhören."
Für Lanier und Hilton ist das Smartphone das gefährlichste aller Geräte, die wir privat nutzen: wirkungsvoll und unwiderstehlich. Lanier sieht das Problem vor allem in der Kombination von Smartphones und dem werbegetriebenen Geschäftsmodell vieler sozialer Netzwerke.
Das Resultat nennt er die "Bummer"-Maschine, kurz für "Behavior of Users Modified and Made into an Empire of Rent", sinngemäß in etwa: "Nutzerverhalten, das manipuliert und zur Basis eines Imperiums wurde, das auf Pump lebt". Alternativ bezeichnet er es als Konstrukt, das die unangenehmen Seiten des menschlichen Wesens bewusst verstärkt, um "Aktivität" hervorzubringen: den Treibstoff für das Geschäftsmodell der sozialen Medien. Das Einzige, was dagegen helfe, sei auszusteigen. Statt das Schicksal als "Teilzeit-Laborratte" einfach hinzunehmen, sollten wir uns an einem Tier orientieren, das für seinen Eigensinn bekannt ist: der Katze. Die lebt zwar mit uns zusammen, aber tut dennoch nur, was ihr passt.
Es gibt auch moderatere Ansichten. Zu ihren Vertretern zählt Kenneth Cukier, Co-Autor des Buchs Big Data: A Revolution That Will Transform How We Live, Work, and Think. Auch er hat sein Verhalten verändert: "Ich habe meinen Twitter-Account gelöscht, als ich merkte, dass ich eine Stunde nach dem Zubettgehen noch Tweets las." Dennoch glaubt er, dass die Komplettverweigerung, die einige Neo-Ludditen predigen, falsch ist. Vielmehr sollten wir uns auf die Frage konzentrieren, wie wir mit Technologie umgehen. Statt das System zerstören zu wollen, wäre der Ned Ludd unserer Tage besser beraten, an einem "verantwortungsvollen Umgang mit Technik zu arbeiten", meint Cukier: "Denn sie wird nicht verschwinden."
Cukier, der gerade an einem Buch über die Auswirkungen künstlicher Intelligenz arbeitet, betont, dass neue Technologien in der Vergangenheit oft verzweigte Wege zurücklegen mussten, bevor sie ihren Platz gefunden hatten. "Jede Gesellschaft braucht Zeit, um herauszufinden, wie sie neue Instrumente richtig verwendet", sagt er: "Bücher hatten anfangs weder Seitenzahlen noch Index. Die ersten Filme wurden mit feststehenden Kameras aufgenommen – so als ob man einer Theateraufführung zuschaut. Und darum wird es auch einige Zeit dauern, bis wir es schaffen, die Vorteile unserer Apps zu nutzen, aber nicht gleichzeitig unsere Freiheit und Würde um zwölf Uhr nachts von einem Videospiel auffressen zu lassen."
Neben dem, was Individuen in ihrem Verhalten ändern können, sehen Experten noch eine Reihe an weiteren Möglichkeiten, um die Beziehung zwischen uns und unseren Geräten neu zu ordnen. Für einige, wie Zuckerman und Cukier, steckt die Lösung in der Branche selbst. Andere, wie Bartlett und Hilton, sehen mehr Regulierung als einen Schritt in die richtige Richtung. "Statt einfach offline zu gehen, sollten wir uns anschauen, was es noch für Paradigmen gibt", sagt Zuckerman. Für ihn gehört dazu vor allem "Value-oriented Design", sprich: Entwickler sollten sich, bevor sie ein Gerät entwickeln, die Frage stellen, welche guten oder schlechten Auswirkungen es mit sich bringen könnte – und nicht erst danach.
Auch aus diesem Grund lehrt Zuckerman am MIT. In seinen Kursen spricht er unter anderem über Technologie und sozialen Wandel. Sein Ziel ist es, den Studenten Werte zu vermitteln, bevor sie in den Beruf starten. Und er will die Debatte aus den Hörsälen heraustragen. Aber er fürchtet, dass in den USA eine große öffentliche Debatte nicht mehr möglich sei. Auch weil es dort keinen so dringenden Wunsch nach Umverteilung gebe wie in Europa.
Die Europäische Union positioniert sich zunehmend als eine Kraft, die sich Big Tech entgegenstellt – sei es durch Initiativen für mehr Schutz der Privatsphäre wie die DSGVO, sei es durch direkte Angriffe auf die Geschäftsmodelle der Branchengiganten. "Sie kanalisieren die Angst der Bürger", sagt Bartlett. "Das ist sehr weise. Denn wenn die Bevölkerung das Gefühl hat, dass es keine Möglichkeit gibt, selbst krasse Folgen des Technologiewandels zu regulieren oder abzumindern, könnte sie sich gezwungen sehen, sich selbst zu wehren."
Hilton will noch weiter gehen. Zum einen würde er gern die Smartphone-Nutzung von Kindern gesetzlich einschränken lassen. Aber er glaubt auch, dass es entscheidend sein wird, dass sich unsere Einstellungen zu unserer Beziehung zu Geräten ändern muss, die seiner Meinung nach "unsere Menschlichkeit zerstören". So wie erst der Wandel in unserer Einstellung zu Zigaretten und Plastiktüten in Kombination mit gesetzlichen Regulierungen zu echten Verhaltensänderungen führte. Hiltons Wunsch wären Graswurzel-Bewegungen: regionale oder nationale Initiativen, die sich nach und nach ausweiten.
Nigel Shadbolt, Rektor des Jesus College im britischen Oxford und Autor des Buches "The Digital Ape", hingegen verweist darauf, die Herausforderung, mit neuen Technologien umzugehen, sei älter als der Homo sapiens. "Es gibt keinen Grund zur Sorge, dass die Maschinen erwachen und die Kontrolle übernehmen werden. Und es gibt keinen Grund zur Sorge, dass wir alle unsere Jobs verlieren und auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden." Stattdessen würden die Menschen das tun, was sie stets getan hätten: neue Wege finden, um Technologie einzusetzen – und dabei gleichzeitig neue Jobs entwickeln. Gern fügt er diesen Aussagen hinzu: "Keine unserer Mütter arbeitet als Suchmaschinenoptimiererin." Shadbolt ist sicher: "Die Ludditen irrten sich vor 200 Jahren. Und sie irren sich noch immer."
Bartlett hält dagegen: Der Geist des Luddismus habe zwar nicht den Siegeszug der Maschinen aufgehalten, aber viele der Ängste, die er widerspiegelte, hätten Niederschlag in gesetzlichen Regelungen gefunden. Und auch Zuckerman differenziert: "Die Antwort lautet nicht: 'Nein' oder 'böse' oder 'sofort löschen'", sagt er. "Sie lautet: Wir müssen darüber reden, wie wir Technologien entwickeln, die im Einklang mit unseren Werten stehen."
In dieser Ausgabe des Think:Act Magazins untersuchen wir, was es bedeutet, Mensch in unserer komplexen und hochdynamischen Welt zu sein – aktuell und in der Zukunft.
Tragen Sie hier Ihren Namen und Ihre Mail-Adresse ein und erhalten Sie den aktuellen und alle weiteren Newsletter. Ihr Abonnement ist jederzeit ganz einfach kündbar.