Technologie wandelt sich schneller als Gesellschaft

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Technologie wandelt sich schneller als Gesellschaft

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München Office, Zentraleuropa
16. November 2020

Technologie und Wirtschaft wandeln sich so schnell wie nie zuvor

Artikel von Detlef Gürtler
Illustrationen von Mathis Rekowski

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Selten in der Geschichte der Menschheit änderten sich Dinge so schnell, wie wir es derzeit erleben. Das Problem: Während unsere Technologie bald Flüge zum Mars möglich macht, steckt der Mensch selbst evolutionär noch in der Steinzeit. Brauchen wir ein Tempolimit für Wandel?

Fast nichts verändert sich langsamer als das Innere unserer Zellen. Evolutionäre Prozesse brauchen nun einmal Zeit. Sehr viel Zeit. Aber dann sind da noch die Mutationen. Wie schnell sie sich ausbilden, hängt stark von der Größe der Bevölkerung ab, haben die Genetiker Robert Moyzis und Eric Wang kürzlich entdeckt. Vor allem aber brauchen Mutationen eines, um sich durchzusetzen: einen selektiven Vorteil. Der lässt sich in zwei Varianten aufteilen. Da ist zum einen die Variante Sexappeal respektive Fortpflanzung. Das heißt: Wer die Mutation in sich trägt, bringt mehr Kinder zur Welt als die Spezies ohne Mutation. Die zweite Variante steigert die Überlebenschancen: Wer keine Mutation aufweist, stirbt eher.

Veränderungen in Sachen Sexappeal oder Zeugungsfähigkeit entwickeln sich meist schrittweise. Seit der Steinzeit sind beispielsweise unsere Zähne kleiner geworden – ein Hinweis darauf, dass wildes Fletschen mit den Zähnen in Sachen Attraktivität eine zunehmend geringere Rolle spielte. Die Überlebensvariante zeichnet sich meist durch wenige, aber umso größere Umwälzungen aus. Wie die letzte genetische Mutation der Menschheit, die sich vor rund 8.000 Jahren in Nordeuropa einstellte: Laktasepersistenz. Rund 70 % aller Europäer besitzen seitdem die Fähigkeit, auch als Erwachsene Laktose zu verdauen. Durch diese Mutation erschloss sich Menschen, die Vieh züchteten, eine zusätzliche Nahrungsquelle. So konnten sie Hungersnöte eher überleben.

Eine Illustration zeigt eine Gruppe von Menschen aus verschiedenen Zeitaltern: einen Höhlenmenschen mit einer Keule, einen Mann in mittelalterlicher Kleidung, der einen Beutel Münzen in der Hand hält, und einen Mann in Jeans und Sweatshirt, über dessen Hand ein Zahlencode schwebt. © Mathis Rekowski
"Der Mensch besitzt steinzeitliche Gefühle, mittelalterliche Institutionen und eine gottgleiche Technologie."

E.O. Wilson

Hungersnöte sind ein typischer Faktor für das Entstehen von Mutationen. Denn es sind fast immer Notlagen, in denen sich ihr Wert zeigt. Wann macht es wirklich einen Unterschied, dass man mit einer um 2 % höheren Geschwindigkeit laufen kann als die anderen Mitglieder des Stammes? Wenn man von Löwen gejagt wird. Steinzeit oder Moderne: Die Logik dahinter blieb dieselbe. Denn wann macht es wirklich einen Unterschied, ob die finanziellen Reserven Ihres Unternehmens um 10 % größer sind als die der Konkurrenten? Wenn Ihre Branche in einen Lockdown geht.

Die Viehhaltung als auslösender Faktor weist auf ein einzigartiges Merkmal menschlichen Wandels hin: Fast alle Transformationen, die wir heute durchlaufen, werden nicht durch Veränderungen in der Natur ausgelöst, sondern durch kulturellen Wandel. Und diese entwickeln sich wesentlich schneller als unsere DNA. Kultur bedeutet Geschwindigkeit. Oder besser gesagt: Geschwindigkeiten. Denn nicht alle Bereiche entwickeln sich gleich schnell.

"Der moderne Mensch besitzt steinzeitliche Gefühle, mittelalterliche Institutionen, wie Banken und Religionen, und gottesähnliche Technologie", sagt der US-Biologe E. O. Wilson. Noch nie waren die Geschwindigkeitsunterschiede zwischen technischem, wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt so groß wie heute. Exponentielles Wachstum trifft auf traditionelle Ordnung. Digitale Umwälzungen treffen auf lineare Abschreibung. Ganz klar: Früher oder später muss es krachen. Egal, ob es um Autos, Computer oder Kreditkarten geht: Menschen müssen sich an Neues gewöhnen. Darum stellen sie sich meist langsamer um, als es die Erfinder neuer Technologien erwarten. Von dem Zeitpunkt, an dem eine bahnbrechende Innovation erstmals vorgestellt wird, bis zu ihrer flächendeckenden Verbreitung vergehen manchmal Jahrzehnte. Anders formuliert: Es braucht ein oder zwei Generationen vorsichtiger Eltern und neugieriger Kinder.

Technologisch und sozial betrachtet, sind Generationen die beste Maßeinheit, um das Tempo von Wandel zu erfassen. Besser als die Lebenserwartung. Entscheidend ist nicht, wie alt ein Mensch, ein Auto oder ein Mobiltelefon wird, sondern wie viel Zeit zwischen zwei Generationen vergeht. Wie viele Jahre liegen zwischen Babyboomern und Generation X? 15 bis 20. Wie viele Jahre liegen zwischen zwei Generationen des VW Golf? Fünf bis zehn. Wie viele Jahre liegen zwischen zwei Generationen von iPhones? Ein bis zwei.

Die Sexappeal-Variante der wirtschaftlichen Evolution kennt kein Tempolimit. Was zählt, sind Verkaufszahlen. Wenn Menschen heute etwas anderes kaufen wollen als gestern, dann ist es eben so. Der Grund dafür können technische Veränderungen sein, wie bei Mobiltelefonen. Aber auch Veränderungen in Mode und Geschmack – wie im Fall von Bekleidung. Fast-Fashion-Ketten wie Zara oder H&M wechseln ihr Sortiment mittlerweile im Monatstakt aus. Und solange es Kunden gibt, die stetig nach neuer Ware verlangen, halten die Umsätze diesen schnellen Wandel am Leben.

Bedeutet das: ohne Umsätze kein Wandel? Leider nicht. Denn jetzt kommt die Überlebensvariante ins Spiel. Die Hungersnot des Jahres 2020 ist die Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie ausgelöst wurde. Viele Staaten erleben den größten und schnellsten wirtschaftlichen Einbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds in diesem Jahre um 5 % schrumpfen, in einigen europäischen und lateinamerikanischen Ländern sogar um mehr als 10 %. Lediglich China, das Land, in dem die Pandemie begann, befindet sich noch im Plus, mit einem geschätzten BIP-Wachstum von 1 %.

161 US-Firmen gingen zwischen März und Juli 2020 aufgrund der Coronakrise bankrott

Für viele Unternehmen und ganze Branchen geht es nicht mehr um Verkaufszahlen, sondern um die Existenz. "Wir haben zwölf Jahre lang das Geschäft von Airbnb aufgebaut und innerhalb von vier bis sechs Wochen fast alles verloren", sagt Brian Chesky, Mitbegründer und CEO von Airbnb. Er glaubt: "Die Art zu reisen, wie wir sie kannten, ist vorbei und wird nicht wiederkommen." Wie soll es dann der Kreuzfahrtbranche gelingen, sich zu erholen, den Freizeitparks, den Musikfestivals und Messen? Vielleicht gar nicht. Und vielleicht wird etwas oder jemand anderes ihren Platz einnehmen.

Krisen befeuern Disruption. Und manchmal ist das etwas Positives. Nehmen wir beispielsweise das Budget, das Unternehmen einsetzen mussten, um ein innovatives Produkt bekannt zu machen. Der Löwenanteil davon wurde von Messebesuchen und Branchentreffs aufgefressen. Man musste dorthin gehen, wo die wichtigen Leute waren. Dafür nahm man überhöhte Preise für Tickets, Transport und Unterkünfte in Kauf. Jetzt, wo diese Treffen nicht mehr stattfinden, rücken Alternativen ins Rampenlicht. Etwa, dass die wichtigen Leute sich mithilfe moderner 3D-Technologie neue Produkte in ihrem Homeoffice ausdrucken können.

Wandel im Zeichen des Überlebens bringt also auch Vorteile mit sich; die Entwicklung von Innovationen nimmt an Fahrt auf. Der Nachteil: Der Verlust an Arbeitsplätzen und Umsätzen wird nicht annähernd durch die neu entstandenen Branchen aufgefangen. Und das hat einen starken Einfluss darauf, in welche Richtung sich der Wandel entwickelt. Denn es geht nicht nur um Wirtschaft, sondern auch um Politik.

Die USA sind seit jeher geradezu das Symbol für stetigen Wandel. Und das Hauptinstrument, um diesen anzuschieben, waren hochgradig kompetitive Finanzmärkte, die das Geld dorthin pumpen, wo es sich am meisten rentiert. So fördert man Disruptionen im Silicon-Valley-Stil. Wenn die Weltwirtschaft den Überlebensmodus beendet und zurück in den Sexappeal-Modus schaltet, werden die USA darum vermutlich einen enormen Wettbewerbsvorteil haben, egal welche neuen Entwicklungen sich dann ergeben mögen. Vorausgesetzt, wir reden tatsächlich von "wenn" und nicht von "falls".

Eine Illustration zeigt einen Affen in einem Astronautenanzug, der neben einer Rakete steht. © Mathis Rekowski
1 Volkswirtschaft weltweit wird laut Internationalem Währungsfonds 2020 ein positives Bruttoinlandsprodukt erzielen: China

Der Gegenentwurf ist Deutschland. Das lässt sich an einem Satz illustrieren, den der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder als Kern seiner politischen Philosophie sah: "Man muss die Menschen mitnehmen". Die Idee dahinter: Es gibt ein Tempolimit für Veränderungen. Zumindest, wenn man die Menschen nicht überfordern will. Und obwohl gerade Deutschland für seine Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung bekannt ist, ist es auch ein Land, das sich bei Veränderungen sehr strenge Tempolimits auferlegt – zumindest, wenn sie mit dem Verlust von Arbeitsplätzen verbunden sind.

Der unrentable deutsche Steinkohlenbergbau etwa wurde 50 Jahre lang mit Subventionen am Leben erhalten. Massive Programme zum Erhalt von Arbeitsplätzen haben während der Finanzkrise 2008 und während der Coronakrise dazu beigetragen, Entlassungen zu verhindern oder diese zumindest aufgeschoben. Kurzfristig konnten diese Maßnahmen die Folgen der Krise abmildern. Aber ob sie ausreichen, um den Strukturwandel zu bewältigen, der derzeit stattfindet? Das wissen wir vermutlich erst in einer oder zwei Generationen.

ÜBER DEN AUTOR
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Detlef Gürtler
Detlef Guertler ist ein deutscher Wirtschaftsjournalist und Senior Researcher für den Schweizer Think Tank GDI Gottlieb Duttweiler Institute. Sein Hauptaugenmerk gilt dem Wandel – Reformen und Revolutionen, Innovationen und Disruptionen in Geschichte, Zukunft und Gegenwart. Detlef Guertlers jüngstes Buch Clusterfuck ist 2018 im Hanser Verlag, München, erschienen. Er lebt in Berlin und Marbella.
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Diese Ausgabe geht der Frage nach, wie Gesellschaft und Wirtschaft nach der Coronakrise aussehen werden.

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