Spielregeln für Regelbrecher
Ist das Brechen der Regeln eine entscheidende Fähigkeit? Wir untersuchen, wie Menschen, die gegen Regeln verstoßen haben, die Geschäftswelt maßgeblich geprägt haben.
Die meisten Unternehmer glauben, Entrepreneursdenken sei etwas, das nur Start-ups brauchen. Sie irren gewaltig.
Als CEO eines großen Unternehmens muss man entscheiden. Ständig. Immer wieder stellt sich die Frage: Ergreife ich die Chance, die sich gerade bietet – mit allen Risiken, die sie in sich trägt, aber auch mit der Aussicht, dass sich das Wagnis auszahlt? Oder soll ich auf das Bewährte setzen und die Geschäfte führen wie gewohnt? Auch wenn sie es nicht gern zugeben: Viele CEOs entscheiden sich letztlich dafür, dass alles statisch bleibt. Weil sie denken: "Meine Aufgabe ist es, das Unternehmen zu erhalten, und nicht, durch riskante Entscheidungen seine Existenz zu gefährden." Ungezählte Unternehmen wählten den defensiven Ansatz – und wurden dann von smarteren Rivalen abgehängt. Start-ups sind das andere Extrem. Gründer werden für genau die Qualitäten bewundert, die viele Führungskräfte auf dem Weg verdrängen: Agilität, Kühnheit und den Mumm, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen. Aber es ist falsch zu glauben, dass Entrepreneursdenken nur in der Gründungsphase eines Unternehmens eine Berechtigung habe – oder dass es sich nicht mit den Denkweisen vertragt, die es braucht, um ein etabliertes Unternehmen zu leiten. Das zeigt die Geschichte der Dutch Kidney Foundation (DKF).
Die DKF ist eine Stiftung aus den Niederlanden. Fast 30 Jahre lang versuchte die DKF, das Leben von Menschen zu erleichtern, die an Nierenerkrankungen litten. Aber langwierige Behandlungen und kräftezehrende Nebenwirkungen quälten die Patienten. Sie hatten die Hoffnung aufgegeben, irgendwann ein normales Leben fuhren zu können.
Die Rolle einer Non-Profit-Organisation besteht für gewöhnlich darin, Fördergelder zu akquirieren und Aufmerksamkeit fur ihr Thema zu wecken, nicht aber darin, selbst medizinische Innovationen anzustoßen. Doch genau das tat die DKF. Ihr Geschäftsführer Tom Oostrom empfand es als seine Verpflichtung, die Rolle von DKF vollkommen neu zu definieren und ein komplexes Problem zu lösen, indem er es völlig anders anging. Sein erklärtes Ziel war es, Nierenkranken die belastenden Dialyse-Termine im Krankenhaus zu ersparen, indem er sie mit tragbaren Dialyse-Geräten ausstattete. Oostrom wusste, dass es technisch möglich war, diese Geräte auf die Größe eines Schuhkartons zu reduzieren – was die Lebensqualität der Patienten dramatisch verbessern wurde. Aber niemand wollte eine solche Weiterentwicklung finanzieren. Den etablierten Herstellern fehlte es dafür an Anreizen: Eine solche Innovation hatte ihr Geschäftsmodell über den Haufen geworfen. Um echte Durchbrüche zu erzielen, mussten darum die Versicherungsunternehmen das Risiko für die Kosten der medizinischen Forschung tragen.
Oostroms Team trat gedanklich einen Schritt zurück und dachte darüber nach, was die Gründungsidee ihrer Stiftung gewesen war: das Leben von Nierenkranken zu erleichtern. Und um das zu erreichen, brauchten sie tragbare Dialyse-Gerät. Als ihnen dieses Ziel (wieder) klar war, begannen sie von dort aus rückwärts zu denken und definierten bis ins Detail, welche Komponenten für ein solches Gerät notwendig wären. Die Stiftung brachte wichtige Akteure aus verschiedenen Feldern und Branchen zusammen und vereinte ihr Wissen, um das Problem zu lösen. Um das Versagen des Marktes überwinden zu können, brauchte die DKF aber auch eine völlig neue Organisationsstruktur und ein neues Geschäftsmodell. Sie startete die Neokidney Foundation, aus der wiederum Neokidney hervorging: ein gewinnorientiertes Unternehmen, mit dem Ziel, die tragbaren Geräte herzustellen, die die Patienten so schmerzlich vermissten. Ich kürze die Geschichte ab: Die DKF schaffte es, ein ungelöstes Problem zu lösen – nach 70 Jahren Stillstand. Sie schaffte dies, indem sie sich ihrer ursprünglichen Mission besann, ihre Rolle neu entwarf und das Problem anders anging: mit einem sehr unternehmerischen Ansatz.
Ich nenne dies "Re-Entrepreneuring". Die Idee dahinter ist von einer französischen Redewendung inspiriert: "reculer pour mieux sauter" – zurückweichen, um dann mit neuer Kraft nach vorn zu marschieren. Das "Re" steht für die Geschichte eines Unternehmens und die Werte, die es über die Zeit hinweg aufgebaut hat: Know-how, Erfahrung, Fähigkeiten, Marke. Das "Entrepreneuring" beschreibt den Funken, der entzünden kann, was im "Re" schlummert, und so einen Energieschub auslost, der das Unternehmen auf die nächste Entwicklungsstufe hebt. Wenn sie wachsen, verbannen viele Unternehmen ihre unternehmerische Energie ins Archiv. Das ist ein Fehler.
Bei Re-Entrepreneuring geht es nicht darum, über den Tellerrand hinauszuschauen – es geht darum, über das nachzudenken, was auf dem Teller liegt. Indem man die bestehenden Werte und Fähigkeiten des Unternehmens für ein neues Ziel einsetzt. Unternehmen, die mit einem frischen Blick auf die Welt sehen und ihren Mitarbeitern die Freiheit geben, seine Rolle neu zu erfinden, eröffnen sich aufregende Chancen. Sie erkennen, dass ein statischer Zustand nichts ist, das ihnen vom Schicksal aufgezwungen wird, sondern die Folge einer Entscheidung. Und, dass man auch eine andere Entscheidung treffen kann.
Ist das Brechen der Regeln eine entscheidende Fähigkeit? Wir untersuchen, wie Menschen, die gegen Regeln verstoßen haben, die Geschäftswelt maßgeblich geprägt haben.
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