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Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa
27. September 2023

Wie profitiert Ihr Unternehmen von einer neuen Kultur des Experimentierens?

Artikel

von Geoff Poulton
Fotos von Pelle Cass

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Sich von der Wissenschaft inspirieren zu lassen und selbst zu experimentieren, kann für Unternehmen sehr profitabel sein. Wie aber bringt man sein Team dazu, eine neue Trial-and-Error-Kultur zu verinnerlichen?

Von Archimedes, der aufsprang und "Heureka!" rief, über Flemings Entdeckung des Penicillins bis hin zu Mendels Enthüllung der Genetik: Die Geschichte der Wissenschaft ist voller Experimente, die die Grundlagen der Natur erforschen – und damit entscheidende Innovationen offenbaren. Ohne diese Experimente wären einige von ihnen wohl unentdeckt geblieben oder als pure Spekulation abgetan worden.

Blue tennis court; two players in different stages of motion appearing as over 30 players in the shot. Rackets and lots of tennis balls in the air at different heights.
Alle Bälle in der Luft halten – lohnt sich das? Der Fotograf Pelle Cass nimmt bei jedem Shooting mehr als tausend Bilder auf. Dabei folgt er den Gezeiten eines Profi­Matches, indem er es zeitlich neu anordnet und so "Zeitraffer-Stillleben" erschafft.
"Sich wie ein Wissenschaftler zu verhalten, ist für Führungskräfte schwierig, weil es ihnen Demut abverlangt."

Stefan Thomke

Professor für Betriebswirtschaftslehre
Harvard Business School

Dennoch wirken Bauchgefühle, Theorien und Meinungen zu oft als treibende Kräfte hinter wichtigen Geschäftsentscheidungen. Indem wir uns stärker von Intuition als von Beweisen abhängig machen, schränken wir uns unnötig ein. Wie der renommierte Management-Denker Gary Hamel sagt: "Die Zukunft erschafft man nicht, indem man sie vorhersagt, sondern indem man sie findet. Und man findet sie durch Experimente." Diese Vorstellung teilt Stefan Thomke, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Harvard Business School und Autor von Experimentation Works: The Surprising Power of Business Experiments. Anstatt sich auf Erfahrungen oder Überzeugungen zu verlassen, sei es an der Zeit, "dass Unternehmensführer anfangen, wie Wissenschaftler zu denken und zu handeln".

Seit Jahrhunderten haben wir Innovationen erschaffen, indem wir durch überprüfbare Erklärungen und Vorhersagen wissenschaftliches und technologisches Wissen aufgebaut und organisiert haben. Diese wissenschaftliche Methode geht auf Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts wie Francis Bacon, Galileo Galilei und Isaac Newton zurück. Ihre Methode umfasst sechs Schritte: Sie beginnt mit einer Frage, die zu Forschung führt, aus der eine Hypothese hervorgeht. Diese wird empirisch getestet, gefolgt von einer Ergebnisanalyse und einer Schlussfolgerung. Laut Thomke könnte die Übernahme dieser Prinzipien und die Umsetzung groß angelegter Experimente die Art und Weise, wie Unternehmen arbeiten und wie Manager Entscheidungen treffen, "völlig auf den Kopf stellen". Noch ist diese Erkenntnis in den wenigsten Unternehmen durchgesickert, immer mehr beginnen jedoch, die Wirksamkeit von Experimenten zu schätzen. Bei der Online-Reiseplattform Booking.com laufen gleichzeitig über 1.000 Experimente, insgesamt Zehntausende pro Jahr. Das Gleiche gilt für Facebook, Microsoft und Netflix sowie für Non-Tech-Firmen wie Procter&Gamble, Gap und Nike. Wir brauchen Experimente, um die Urteilsfehler aufzudecken, denen wir alle unterliegen. Doch: "Sich wie ein Wissenschaftler zu verhalten, ist für Führungskräfte schwierig, weil es ihnen Demut abverlangt", sagt Thomke.

Die harte Realität ist, dass die meisten Experimente scheitern werden. Das aber ist für viele Unternehmen schwer zu akzeptieren, weiß Ron Kohavi, der große Experimente bei Microsoft, Amazon und Airbnb durchgeführt und darüber ein Buch geschrieben hat: Trustworthy Online Controlled Experiments: A Practical Guide to A/B Testing. "Als ich zu Microsoft kam und A/B-Tests vorschlug, betonte ich, dass bei Amazon mehr als 50 % der getesteten Ideen nicht die Kennzahlen verbessert haben, für die sie entwickelt wurden. Die Antwort war: “Unsere Programmmanager sind besser“, erzählt Kohavi. "Einige Jahre später wussten wir, dass bei Microsoft etwa zwei Drittel solcher Ideen scheiterten, bei ihrer Suchmaschine Bing sogar 85 %."

Warum dann überhaupt experimentieren? Kohavi erzählt die Geschichte eines Mitarbeiters, der an Bing arbeitete und die Anzeige von Werbeüberschriften verbessern wollte. Da seine Idee niedrig priorisiert wurde, wurde sie erst Monate später getestet. Kaum implementiert, zeigte sich, dass die Neuerung den Umsatz um 12 % steigerte, ohne die Nutzer zu stören. Hochgerechnet aufs Jahr bedeutete dies eine potenzielle Gewinnsteigerung von mehr als 100 Millionen US-Dollar allein in den USA.

Selbst wenn sie "scheitern", sind Experimente oft wertvoll. Experimentieren ist ein iterativer Prozess – ein Misserfolg führt oft zu Erkenntnissen, die es dem Experimentierenden ermöglichen, die Hypothese zu modifizieren, das Experiment anzupassen und es erneut zu versuchen. Um dies effektiv umzusetzen, benötigt ein Unternehmen eine bestimmte Art von Kultur sowie organisatorische und technische Infrastruktur. "Unternehmen sollten Experimente zu einem integralen Bestandteil des täglichen Lebens machen", sagt Thomke.

Several pole vaulters in different stages of motion appearing as if many more are competing simultaneously, some are mid-leap in the air with poles, others are in landing positions on the mat, some onlookers are at the sides.
Die Stille inmitten des Chaos: Die Kompositionen des Fotokünstlers Pelle Cass mögen oberflächlich betrachtet überladen und chaotisch wirken, aber auf einer tieferen Ebene sind sie tatsächlich ziemlich rhythmisch und strukturiert.
"Veränderung ist konstant, aber wir müssen sichergehen, dass sie wirkt."

Lukas Vermeer

Ehemaliger Leiter der Experimente
Booking.com

Die Bilder zu diesem Artikel stammen aus der Kollektion Crowded Fields des Fotokünstlers Pelle Cass. Cass sagt über seine Arbeit: "Meine komplizierten, chaotischen Kompositionen in Crowded Fields reflektieren meinen inneren Aufruhr, meine Verwirrung. Die Welt ist unübersichtlich, und meist weiß ich nicht, wo oben und unten ist. Vielleicht beeinflusst das meine Kompositionen."

Eines der Unternehmen, die darin am besten sind, ist Booking.com. Hinter den vielen Tausenden von Experimenten und Milliarden gleichzeitiger Variationen von Landing Pages steht eine Kultur, die Transparenz fördert und Fehler akzeptiert. Etwa drei Viertel der 1.800 Technologie- und Produktmitarbeiter von Booking nutzen die interne Experimentierplattform des Unternehmens. Dort diskutieren sie Ideen, analysieren Ergebnisse und überprüfen Hypothesen.

"Experimente sind eine großartige Möglichkeit, Dinge tatsächlich zu verbessern", beschrieb Lukas Vermeer, damaliger Leiter der Experimente bei Booking, den Prozess im Jahr 2019: "Veränderung ist eine Konstante, wir müssen unsere Produkte ständig aktualisieren, um sie zu verbessern, aber wir müssen auch sicherstellen, dass diese Veränderungen tatsächlich funktionieren." Und tatsächlich kehrte Booking nach einem Einbruch während der Pandemie 2022 zu Rekordumsätzen zurück.

Thomke sieht drei Hauptmodelle für Unternehmen, die experimentieren wollen. Eine zentralisierte Struktur ist gut für langfristige Projekte, liegt aber weit ab vom Tagesgeschäft und hat möglicherweise mit Prioritätskonflikten zu kämpfen. In einem dezentralen Modell können sich Experimentierende in einen bestimmten Geschäftsbereich vertiefen, allerdings kann sie dies von wichtigem Feedback ihrer eigenen Kollegen ausschließen. Das Modell eines Exzellenzzentrums vereint beide Ansätze; aber eine Organisation, die diesen Ansatz wählt, sollte die Verantwortlichkeiten zwischen der zentralen Einheit und den Produktteams sehr klar definieren.

Ein Exzellenzzentrum für Experimente be-treibt beispielsweise Netflix. Der Streaming-Gigant nutzt A/B-Experimente, um die Leistung in verschiedenen Bereichen zu verbessern, darunter Zahlungsprozesse, Werbung, Streaming-Infrastruktur sowie Nutzerempfehlungen und nachrichten. Selbst die Artworks für Filme und Serien werden rigoros getestet, was manchen Titeln 20 bis 30 % mehr Zuschauer beschert hat. Wenn Unternehmen ihre Kennzahlen verbessern, stecken häufig inkrementelle Gewinne durch konstantes Experimentieren dahinter. "Menschen neigen dazu, große, disruptive Ideen zu verherrlichen, aber in Wirklichkeit kommt der größte Fortschritt durch die Implementierung Hunderter oder Tausender kleiner Verbesserungen zustande", versichert Thomke.

A volleyball court with multiple volleyball players in different stages of motion, appearing as if the whole court is crowded with players on both sides of the net with at least 40 volleyballs thrown into the air. A dark red interior wall of the sports hall is in the background.
Entscheidende Momente, unerwartete Schnappschüsse: Während normale Fotografie Sekundenbruchteile einfängt, zeigen Cass' Bilder mehrere Sekunden. Cass lässt das Hier und Jetzt aufeinanderprallen – und verstärkt damit das Ergebnis.

Online-Unternehmen fällt es leichter, Experimente in großem Maßstab durchzuführen. Dennoch sind sich Thomke und Kohavi einig, dass fast jedes Unternehmen versuchen sollte, alltäglich zu experimentieren. "Es wird immer einfacher und erschwinglicher, Tests in vielen verschiedenen Bereichen durchzuführen", sagt Kohavi. Supermärkte wie Walmart oder Sainsbury's experimentieren regelmäßig mit Ladengestaltung, Marketing, Angeboten oder neuen Technologien wie Läden ohne Kasse. Ein Experiment in Gap-Filialen ergab, dass eine festere Zeitplanung für die Mitarbeiter sowohl den Umsatz als auch die Produktivität verbesserte.

Sollten wir also zur Entscheidungsfindung menschliche Meinungen, Erfahrungen und Urteile komplett außer Acht lassen? Nicht wirklich. Wie Kohavi betont, kann Technologie das Experimentieren erleichtern, aber auch leicht falsche Ergebnisse liefern: "Ich habe das immer wieder gesehen. Wir müssen Ergebnisse immer hinterfragen und Dinge doppelt prüfen." Letztlich träfen Menschen die Entscheidungen – selbst in einem Unternehmen wie Netflix. Für jede bedeutende Entscheidung trifft ein "sachkundiger Hauptmann" eine Entscheidung auf der Grundlage von Eingaben von Kollegen und relevanten Daten.

Für Thomke sind Experimente der "Motor der Innovation", der dank Technologie immer einflussreicher wird. Um diesen Antrieb zu nutzen, bräuchten Unternehmen einen wissenschaftlicheren Ansatz für ihre Entscheidungsfindung. Da technologiegetriebene Unternehmen Experimenten gegenüber viel offener sind, wächst laut Thomke die Kluft zwischen denjenigen, die gute Experimente durchführen, und denen, die es nicht tun. "Deshalb sollten wir herausfinden, wie wir Unternehmen, die noch nicht experimentieren, dazu bringen können, sich darauf einzulassen."

ÜBER DEN AUTOR
Portrait of Geoff Poulton
Geoff Poulton
Geoffs Artikel über Innovation und Nachhaltigkeit wurden vom Guardian, von der Times und der Deutschen Welle veröffentlicht. Er hat für globale Marken wie BMW und Airbus gearbeitet. Geoff lebte viele Jahre in Deutschland, danach in London, heute schreibt er am Meer in Cornwall.
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