Der Druck auf die Lieferketten wird auch nach Covid-19 nicht nachlassen. Unternehmen müssen sich auf eine neue Normalität vorbereiten.
Vom Kunden zum Kern: neue Denkansätze für die Lieferkette
Von Carsten Bock und Sebastian Feldmann
Das Lieferkettenmanagement befindet sich im Umbruch
Anhaltend volatile Märke und die steigende Zahl der Stock Keeping Units – auch als SKU-Proliferation bezeichnet – zwingen die Unternehmen dazu, ihre Ausgangslogistik von Grund auf neu zu denken. Das Supply Chain Management befindet sich im Umbruch. Von einer im Wesentlichen auf die Warenlieferung beschränkten Funktion entwickelt es sich zu einem wichtigen Wertschöpfungstreiber und Differenzierungsfaktor. Wie sollten die Unternehmen auf diese Entwicklung reagieren? Wir empfehlen die Umschaltung von einer internen zu einer externen Betrachtung der Lieferkette, um dadurch die Prozesse vom Kunden zum Kern des Unternehmens zurückzuverfolgen. Zur Umsetzung dieser radikal anderen Sichtweise stellen wir im Folgenden unser Konzept für eine Lieferkettenplattform vor und zeigen auf, wie Unternehmen Komplexitäten verringern und ihren Mehrwert erhöhen können.
Zeit zum Umdenken
Drei Faktoren verändern die Rolle der Lieferkette über Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg.
An erster Stelle ist dabei die COVID-19-Pandemie zu nennen. Sie hat nicht nur einen Boom bei den Online-Verkaufszahlen und E-Commerce-Plattformen ausgelöst, sondern auch den Druck auf die Ausgangslogistik erhöht, jederzeit lieferfähig und skalierbar zu sein. Kurze Vorlaufzeiten bis hin zur tagesaktuellen Lieferung gehören auch in der Industrie zur neuen Normalität. Der Kunde rückt immer mehr ins Zentrum des Geschehens. Die Lieferkette ist zu einem Differenzierungsfaktor geworden und muss angesichts von Nachfrageverschiebungen ihre Anpassungsfähigkeit und Agilität unter Beweis stellen.
Als zweiten Treiber für den Wandel sehen wir das zunehmende Nachhaltigkeitsbewusstsein. Für den Verbraucher ist Nachhaltigkeit immer häufiger ein entscheidendes Kaufkriterium. Für Regulierungsbehörden und Investoren ist sie schlicht eine Notwendigkeit. Investmentfonds ohne überzeugende Nachhaltigkeitsstrategie oder ohne Verpflichtung zum Netto-Null-Ziel laufen Gefahr, aus dem Anlageuniversum zu verschwinden. Für eine erfolgreiche Belieferung der Kunden wird es deshalb immer wichtiger, die Lieferkette so zu gestalten, dass sie sowohl effizient als auch nachhaltig ist.
Der dritte Faktor besteht in der anhaltenden Volatilität der Märkte, verschärft durch die Pandemie und durch globale Konflikte wie den Krieg in der Ukraine. All dies übt erheblichen Druck auf Kosten und Rentabilität der Unternehmen aus. Die unsichere Marktlage hat auch die internationalen Lieferketten nicht verschont und weltweit zu einer angespannten Nachschubsituation geführt. In dieser Situation müssen Unternehmen die Kosten ihrer Funktionen und Lieferketten strikt im Zaum halten und Assets minimieren, um bei ökonomischen Turbulenzen schnell reagieren zu können.
Trotz dieser Unwägbarkeiten zeigt unsere Erfahrung mit global agierenden Industrieunternehmen, dass die meisten Akteure an überkommenen Lieferkettenkonfigurationen festhalten. Sehr häufig sind diese stark fragmentiert, mit einer Vielzahl an heterogenen Prozessen zwischen Produktion und Kunden, die sich kaum effizient managen und noch viel weniger skalieren lassen. Mit solchen Konfigurationen sind die erwähnten Faktoren nicht zu bewältigen. Schlimmer noch: Sie erhöhen drastisch das Risiko, dass sich weder die Kundenanforderungen noch die eigenen Performanceziele erfüllen lassen.
Bei einem Mischkonzern aus dem High-Tech-Sektor identifizierten wir für ein Portfolio mit 50 Produktgruppen sage und schreibe über 3.100 verschiedene Lieferkettenkonfigurationen – das heißt einzelne Logistikprozesse mit jeweils eigenen Steuerungsmechanismen und sogar eigenen Outsourcing-Partnern. In einer Zeit mit weltweiten Einflussfaktoren auf die Märkte können solche Konfigurationen ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden. Zur Sicherung des künftigen Erfolgs müssen Lieferketten zu einem Wertschöpfungstreiber und Differenzierungsfaktor weiterentwickelt werden. Sie müssen sich leichter skalieren lassen, um zusätzliche Märkte bedienen oder Vorlaufzeiten, Preise usw. an neue Kundenanforderungen anpassen zu können – mit minimalen Kosten und möglichst geringem Kapital- und Arbeitsaufwand. Unser Plattformkonzept verfolgt genau dieses Ziel.
Zukunftssichere Supply Chains durch ein Plattformkonzept
Mit unserem Konzept für eine Supply Chain Plattform können Unternehmen das Skalierungspotenzial ihrer existierenden Lieferkette nutzen, um dadurch Mehrwert zu generieren. Der Clou besteht in der Abstimmung der optimalen Lieferkettenkonfiguration auf das Produktgeschäftsmodell und den Konsolidierungsstatus der Lieferkettenprozesse. Letztere lassen sich innerhalb von nur vier bis sechs Monaten um bis zu 70 Prozent reduzieren, wobei die geringere Komplexität der Lieferkette mit einer höheren Flexibilität einhergeht.
Im Zentrum des Plattformkonzepts von Roland Berger steht ein eigens entwickeltes Customer-to-Core (C2C)-Modell. Es sieht die Umschaltung von einer internen zu einer externen Betrachtung der Supply Chain vor, bei der die Unternehmen ihre Prozesse vom Kunden zum Kern zurückverfolgten und somit die bisherige Sichtweise radikal umkehren. Das C2C-Modell definiert Modi für den Markteintritt, z. B. über einen internen oder externen Hub oder über eine direkte Belieferung des Kunden. Es setzt den Kunden an erster Stelle und identifiziert potenzielle Komplexitätstreiber und Problemstellen für dessen Belieferung, z. B. umständliches Produkthandling oder langwierige Vorlaufzeiten. Fachkundig unterstützt durch unsere Experten analysieren die Unternehmen den Konsolidierungsgrad ihrer Lieferkette, um die verschiedenen Eintrittsmodi möglichst erfolgreich zu nutzen.
Der Einsatz einer unternehmensweiten Plattform mit Lieferkettenkonfigurationen für alle Produkte in allen Märkten anstelle des bisherigen Silo-Ansatzes hat positive Auswirkungen auf folgende Bereiche:
- Lieferkettenstrategie: Im aktuellen Marktumfeld muss die Vielzahl der ausgehenden Logistikketten für jede einzelne Geschäftseinheit durch produkt- und marktspezifische Lieferketten ersetzt werden, die im gesamten Unternehmen zum Einsatz kommen.
- Operative Performance: Anstelle der Konzentration auf Expertenteams für das Alltagsgeschäft müssen Unternehmen ihren Blick weiten und auch beim Lieferkettenmanagement eine Steigerung ihrer operativen Performance anstreben.
- Prozesse: Unternehmen müssen organisch gewachsene durch kundenzentrierte Prozesse ersetzen, die sich bei Nachfrageverschiebungen einfach skalieren lassen und auf verschiedene Produktportfolios übertragbar sind.
- Partnerschaften: In der Vergangenheit wurden die Partner im Lieferkettenmanagement oft als bloße „Transporteure“ betrachtet. Diese Sichtweise ist veraltet. Heute müssen sie als potenzielle Quellen für die Lieferkettentransparenz und als Marktöffner wertgeschätzt werden.
- Transparenz: E-Mails und Telefonate sind nicht mehr zeitgemäß. Unternehmen müssen einen digitalen Werkzeugkasten in ihre Lieferkettenplattformen integrieren und eine umfassende Datenkontrolle sicherstellen.
- Nachhaltigkeit: Unternehmen, die bisher die Verantwortung für ihre Nachhaltigkeitsziele an Partner ausgelagert haben, sind nun aufgefordert, das Thema Nachhaltigkeit von Anfang an in ihre Plattform einzubauen.
Auf dem Weg zu weniger Komplexität und mehr Wertschöpfung
Der erste Schritt auf diesem Weg besteht darin, die verschiedenen im Unternehmen vorhandenen Betriebsmodelle zu analysieren und auf ihre Konsolidierung zu überprüfen. Anhand dieser Informationen lassen sich etwaige Cluster ermitteln, d. h. Schnittmengen zwischen identischen Betriebsmodellen mit ähnlichen Konsolidierungsattributen aus anderen Geschäftsbereichen und Geografien. Auf dieser Grundlage kann dann das Standardisierungs- und Harmonisierungspotenzial bestimmt werden, das als Ausgangspunkt für die Konfiguration der Lieferkettenplattform dient.
Im zweiten Schritt wird eine individuelle Blaupause für die Lieferkettenplattform des Unternehmens erstellt, ergänzt durch eine Reihe von Lieferkettenaktivitäten und eine schrittweise Umsetzungsroadmap mit priorisierten Hebeln. Die Blaupause enthält aktuelle Best Practices, die anhand des SCOR-Modells (Supply Chain Operations Reference) bewertet werden. Sie berücksichtigt zudem die Ziele, die sich das Unternehmen hinsichtlich seiner künftigen Position in der Wertschöpfungskette setzt.
Durch die Umgestaltung und Vereinfachung der Supply Chain gemäß unserem Plattformkonzept können Unternehmen den Konsolidierungs- und Standardisierungsgrad ihrer ausgehenden Logistikprozesse verbessern. Diese Straffung führt zu mehr Flexibilität und Agilität, sodass die Logistik je nach Nachfragesituation ausgebaut oder zurückgefahren werden kann. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das Roland-Berger-Konzept keinerlei Kompromisse beim Produktportfolio erfordert. Unternehmen können so sicherstellen, dass sie über eine robuste, übersichtliche Lieferkettenkonfiguration verfügen, mit der sie für die neue Normalität gewappnet sind.