Warum wir uns Zeit nehmen sollten

Think:Act Magazin "Rhythmus finden"
Warum wir uns Zeit nehmen sollten

29. September 2024

Gründer und Botschafter der Slow-Bewegung über schrittweisen Geschäftserfolg

Artikel

von Farah Nayeri
Fotos von Julia Sellmann

Die Bewegung zur Entschleunigung der Produktions- und Konsummuster ist seit vier Jahrzehnten aktiv. Während sich die Grundprinzipien von Slow Food weit über den Lebensmittelbereich hinaus verbreitet haben, bleiben zentrale Fragen zur Bezahlbarkeit und breiten Verfügbarkeit ungelöst.

Gut zu wissen
Global denken, lokal handeln:

Die 1986 in Rom gegründete Slow-Food-Bewegung ist heute in mehr als 150 Ländern aktiv.

Die Bewegung wächst:

Auch die Mode- und Kosmetikindustrie setzen auf bewussten Konsum – derzeit aber vielerorts noch lediglich im Marketing.

Schritt für Schritt:

Wirtschaft und Verbraucher übernehmen schrittweise neue Produktions- und Konsummuster.

Als McDonald's im März 1986 direkt neben der Spanischen Treppe in Rom sein erstes Schnellrestaurant in Italien eröffnete, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Welt. Der Modeschöpfer Valentino, der sein Atelier gleich nebenan hatte, reichte eine Klage ein. Die schärfste Kritik kam jedoch vom italienischen Journalisten und Aktivisten Carlo Petrini. Er organisierte einen spektakulären Protest bei der Eröffnung des McDonald's-Restaurants und servierte den Passanten auf der Straße Spaghetti al dente.

Im selben Jahr noch rief Petrini die Slow-Food-­Bewegung ins Leben. In seinem Manifest forderte er den "Homo sapiens" auf, "die Weisheit wiederzuentdecken und sich von der Schnelligkeit zu befreien, die ihn auf den Weg der Ausrottung führt". Die "Armseligkeit des Fast Food", so Petrini weiter, müsse gegen "den Variantenreichtum und die Aromen der lokalen Küche" eingetauscht werden. Fast vier Jahrzehnte später findet sich das Präfix "Slow" fast überall: in der Modebranche, der Wohnkultur, bei der Stadtentwicklung oder im Marketing. Der Begriff trifft den Zeitgeist – immer lauter werden die Stimmen, die sich gegen den Kapitalismus und seine Folgen für Mensch und Umwelt erheben.

"Das große Interesse zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind."

Carlo Petrini


Gründer
internationalen Slow-Food-Bewegung

"Slow" ist mittlerweile zum Synonym für "nachhaltig" und "grün" geworden. Große wie kleine Unternehmen machen sich das Adjektiv zu eigen, um ihre Haltung zu Ethik und Umwelt zu zeigen. "Im kapitalistischen System ist Zeit buchstäblich Geld. Geschwindigkeit ist ein Zeichen für Erfolg und sogar für Intelligenz. Jemanden als 'langsam' zu bezeichnen, kann als Beleidigung aufgefasst werden", sagt Joanne Lee, Professorin an der University of Warwick in Großbritannien, wo sie zusammen mit ihrer Kollegin Elisabeth Blagrove "Slow Movement" lehrt. "Die Philosophie der Langsamkeit fordert uns auf, unser Verhältnis zur Zeit zu überdenken. Sie befürwortet einen kulturellen Wandel hin zu einem langsameren Lebenstempo und einem bewussten, ethischen und nachhaltigen Konsum", fügt sie hinzu. Die Pandemie war eine wichtige Triebfeder für diese Philosophie. Lee räumt allerdings ein, dass die Slow-Bewegung auch als "elitär und hedonistisch" kritisiert wird. Mehr Gelassenheit muss man sich auch leisten können. Ein weiterer Kritikpunkt: Das Schlagwort "slow" sei in einigen Fällen zu einer Modeerscheinung oder einem reinen Marketinginstrument verkommen, vielleicht ähnlich dem "Greenwashing" von Unternehmen.

Der geistige Vater dieses Trends ist natürlich Petrini. Wie sieht er die Entwicklung seiner Bewegung? "Das ist ein Zeichen der Zeit", sagt er in einem Interview. "Das große Interesse, das diesen Themen heute entgegengebracht wird, zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass sich unsere Botschaft durchgesetzt hat. Es war nicht mehr akzeptabel, Lebensmittel als etwas zu betrachten, das nichts mit unserem Leben zu tun hat. Es war an der Zeit, das Thema Ernährung in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken. Denn Essen ist ein wesentlicher Bestandteil unseres täglichen Lebens. Gesundheit hat mit Kultur und Beziehungen mit Freunden haben mit Genuss zu tun. In diesem Moment begann eine echte Revolution."

In einem Garten, umgeben von Bäumen, nimmt eine Person in Imkerhut und -jacke einen Rahmen mit Bienenwaben aus einem Bienenstock.

14 % mehr CO2: Anstieg der Emissionen der globalen Landwirtschaft zwischen 2000 und 2021, etwas mehr als die Hälfte davon stammt aus der Viehzucht.

Quelle: Vereingte Nationen

Der Slow-Food-Gründer weist darauf hin, dass die Agrar- und Lebensmittelindustrie für rund ein Drittel aller Treibhausgas-Emissionen verantwortlich ist. Die Bewegung sei damals ihrer Zeit voraus gewesen, sagt Petrini. Denn sie habe vor den Risiken gewarnt, die die landwirtschaftliche Produktion für den Planeten, die Artenvielfalt und die lokale Wirtschaft und Kultur mit sich bringe. "Ausgehend von den Lebensmitteln haben wir die großen Herausforderungen der ökologischen Nachhaltigkeit, der sozialen Gerechtigkeit, der biologischen Vielfalt und der kulturellen Aufwertung der lokalen Gastronomie verfolgt", erinnert sich Petrini.

Die Grundidee der internationalen Slow-Food-Bewegung sei "global denken, lokal handeln", erklärt der 75-jährige Autor und Aktivist. "Diese Einsicht hat es dem Verein ermöglicht, sich in über 150 Ländern der Welt zu etablieren und Wurzeln zu schlagen." Aus dieser Weitsicht erwächst aber auch die Verantwortung, weiterhin eine führende Rolle zu spielen. "Wenn die Slow-Food-Bewegung an der Spitze bleiben will, muss sie sich weiterentwickeln und ihr Netzwerk auf den Kampf gegen den globalen Klimawandel ausrichten", ist Petrini überzeugt. "Alles muss revolutioniert werden: wie wir reisen, wie wir konsumieren, wie wir Energie erzeugen und nutzen." Und er setzt große Hoffnungen in die Jugend: "Die Sensibilität für ökologische und soziale Nachhaltigkeit wächst bei den nachfolgenden Generationen."

Ein weiterer Spitzenreiter in der Rangliste der umweltschädlichsten Wirtschaftszweige der Gegenwart ist die Modebranche. Nach Angaben der Vereinten Nationen ist sie für ein Zehntel aller weltweiten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich und verbraucht mehr Energie als der Luft- und Schiffsverkehr zusammen. Allein der spanische Modekonzern Zara produziert jedes Jahr rund 450 Millionen Kleidungsstücke. Doch das Bewusstsein der Verbraucher für fair und ökologisch produzierte Kleidung hat zugenommen. Zahlreiche neue, aber auch immer mehr etablierte Modemarken setzen deshalb auf den Trend Slow Fashion in ihren Kollektionen.

Die Modeindustrie spürt den Druck: Kleidung soll nach den Vorstellungen vieler Konsumenten ethischer, ökologischer und damit auch transparenter produziert werden. Kleinere Modelabels setzen die Platzhirsche unter Zugzwang. Die kanadische Slow-Fashion-Modemarke Encircled zum Beispiel setzt auf sogenannte Athleisure-Kleidung, bei der sportliche und bequeme Kleidungsstücke im Alltag und auf Reisen kreativ und modisch miteinander kombiniert werden.

12,5 Milliarden: Die geschätzte Anzahl der CO2-Emissionen in Kilogramm, die jedes Jahr allein in Großbritannien durch 50 % weniger neue Kleidung eingespart werden könnten.

Quelle: Oxfam

Kristi Soomer gründete das Unternehmen 2012, weil sie als Unternehmensberaterin damals "frustriert war" vom Komfort und der fehlenden Vielseitigkeit von Damenbekleidung, insbesondere auf Reisen", wie sie sagt. Soomer erfand ein Kleidungsstück, das auf mindestens acht verschiedene Arten getragen werden konnte. Daraus entstand ihre Marke. Das meistverkaufte Produkt von Encircled ist heute eine elegante Jogginghose, die auch bei der Arbeit getragen werden kann.

Bei einem Jahresumsatz von 2,5 bis 3,5 Millionen US-Dollar wird alles in Kanada produziert, in Fabriken, die weniger als 20 Kilometer vom Atelier entfernt sind. Die meisten Stoffe sind biologisch abbaubar, die Kleidungsstücke werden in Kleinserien hergestellt. Pro Monat bringt die Marke etwa zwei Produkte auf den Markt. Zum Vergleich: Beim chinesischen Fast-Fashion-Händler Shein sind es Tausende – jeden Tag. "Ich möchte, dass die Frauen unsere Kleidung lange tragen", erklärt Soomer. "Denn wir brauchen nicht so viele Kleider, die ohnehin die meiste Zeit im Schrank hängen." Die Modedesignerin räumt allerdings ein, dass es gar nicht so einfach ist, Kundinnen mit ihrer Botschaft zu erreichen. Selbst wohlhabende Kundinnen neigten dazu, sich jedes Quartal eine ganze Reihe von Fast-Fashion-Kleidungsstücken zu kaufen – die am Ende oft nicht einmal getragen werden.

Nahaufnahme von Bienen und Honigwaben in einem Bienenstock.

Bei einer Slow-Fashion-Marke gehe es darum, den "Konsum zu drosseln und zu erkunden, wie die Produkte hergestellt werden", sagt Soomer. "Und sich jeden Kauf gut zu überlegen." Eine Umfrage von Encircled habe gezeigt, dass Kunden diese Standards schätzen. "Der wichtigste Grund, warum Menschen bei Encircled einkaufen, sind ethische Grundsätze und Nachhaltigkeit", betont Soomer. "Vor zehn Jahren war das noch undenkbar." Natürlich gehören die Kunden von Encircled zu den Besserverdienenden. Preise wie bei H&M oder Zara findet man hier nicht. Ein Blazer oder ein Kleid können schon mal mehr als 200 US-Dollar kosten. Die Kleidung hält zwar länger, ist aber auch teurer.

"Kunden sollen ihren Konsum drosseln und erkunden, wie Produkte hergestellt werden. "

Kristi Soomer


Gründerin und CEO
Encircled

Das gilt auch für Beaumont Organic, ein Modelabel aus dem britischen Manchester. Ein Leinenkleid wurde in diesem Frühjahr auf der Website für umgerechnet 374 US-Dollar angeboten, eine Baumwollhose für knapp 200 US-Dollar. Hannah Beaumont-Laurencia gründete die Marke 2008 und produziert nur zwei Kollektionen mit jeweils 70 Teilen pro Jahr. Die Modedesignerin will den Konsumenten vermitteln, dass sie pro Saison nur ein bis zwei neue Teile kaufen müssen. Alle Produkte werden in einem kleinen Umkreis um die Stadt Braga in Portugal in zertifizierten Fabriken zu existenzsichernden Löhnen hergestellt.

Beaumont-Laurencia kritisiert, dass der Begriff "Slow Fashion" nicht klar definiert sei. Dadurch bleibe oft nicht viel mehr als ein Marketingbegriff übrig. So brächten zwar große Modelabels ethisch und nachhaltig produzierte Kollektionen auf den Markt, die mit dem Schlagwort "slow" gekennzeichnet seien. Die Labels seien aber oft fragwürdig, weil sie nicht das ganze Unternehmen und die gesamte Lieferkette einbezögen. Laut Beaumont-Laurencia tragen die großen Ketten so jedoch immerhin dazu bei, das Bewusstsein ihrer Kunden für die Gefahren von "Fast Fashion" zu schärfen. Denn Kunden, die aus Kostengründen bei H&M oder Primark einkaufen, seien schwer zu bekehren, hat sie beobachtet.

Nahaufnahme der Innenseite einer Hand, die auf einer sonnenbeschienenen Wiese mit Daumen und Zeigefinger einen von zwei Krokussen berührt.

Die Beauty-Industrie, also die gesamte Branche der Kosmetik- und Körperpflege, ist ein weiterer Bereich, in dem es unter dem Schlagwort "Slow Beauty" in Zukunft etwas bedächtiger und achtsamer zugehen soll. Das Slow-Image passt gut zu den Produkten, und die Branche ist riesig: Schätzungen zufolge wird sie 2024 ein Volumen von rund 646 Milliarden US-Dollar umsetzen und weiter wachsen. Gleichzeitig produziert die Industrie jedes Jahr geschätzte 120 Milliarden Kunststoffverpackungen. Das zu ändern, ist nicht ganz einfach. Kindred Black versucht es. Das Unternehmen bietet plastikfreie, handgefertigte Haut- und Körperpflegeprodukte an. Es wurde im Jahr 2015 von Jennifer Black Francis und Alice Kindred Wells in den USA gegründet. Die beiden Frauen arbeiteten zuvor für eine Handtaschen-Marke. Die auf Öl basierenden Produkte und Düfte von Kindred Black bestehen aus reinen Inhaltsstoffen, werden in Flaschen und Tiegeln geliefert, die in einer Glasbläserei in Mexiko handgefertigt werden.

Natürlich ist Kindred Black eine Luxusmarke für eine Luxuskundschaft, räumt Jennifer Francis ein. "Ich kann hier auf meiner Seifenkiste sitzen und über all das reden. Zugleich biete ich aber auch Produkte an, die 165 US-Dollar und mehr kosten. Ich wünschte, unsere Produkte wären für mehr Menschen erschwinglich", sagt sie. "Aber wenn ich kleine Mengen einkaufen muss, mit Bauern und Glasbläsern zusammenarbeite und nicht versuche, die Preise meiner Lieferanten zu drücken, ist es fast unmöglich, einen günstigeren Preis für meine Endprodukte anzubieten." Die Idee von Kindred Black und anderen Slow-Beauty-Marken sind langlebige Qualitätsprodukte, die umweltfreundlich verpackt sind und über einen langen Zeitraum verwendet werden können. Das Prinzip steht indes im krassen Gegensatz zu den Konsumgewohnheiten des 21. Jahrhunderts. "Die Kardashian-Kultur bleibt vorherrschend, und diese Kultur lautet einfach: 'Kauf' weiter, gib weiter Geld aus und werde durch Shopping zu einem besseren Menschen'", sagt Francis. "Das ist eine Welle, gegen die man nur schwer ankommt. Und es fühlt sich manchmal ziemlich hoffnungslos an."

Haben Unternehmen, die auf Langsamkeit und eine ethisch ambitionierte Produktion setzen, überhaupt eine Chance, das schnelle Geschäft in Zukunft dauerhaft zu verdrängen? "Sicher nicht", meint Joanne Lee von der University of Warwick: "Wir leben in einer schnellen Welt, in einem kapitalistischen System, das uns immer mehr abverlangt. Und ich glaube nicht, dass sich das so bald ändern wird."

Über den Autorin
Portrait of Geoff Poulton
Geoff Poulton
Farah Nayeri ist die Autorin von Takedown: Art and Power in the Digital Age (2022). Sie arbeitet als Journalistin in London. Außerdem ist sie Gastgeberin des CultureBlast-Podcasts. Sie schreibt für die New York Times und war zuvor als Korrespondentin für Bloomberg in London, Paris und Rom tätig.
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Veröffentlicht September 2024. Vorhanden in
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