Viele Einkaufsabteilungen haben sich in der Coronakrise auf die operativen Aufgaben konzentriert. Doch jetzt ist es Zeit, auch wieder strategisch zu denken und das Procurement neu aufzustellen.
Wie Unternehmen von einem nachhaltigen Einkauf profitieren
Von Marcus Schüller
Procurement in einer unsicheren Welt: Mehr Fokus auf Resilienz und Risikovermeidung
Die Störungen, denen Unternehmen bei ihrem Einkauf ausgesetzt sind, wirken aktuell stärker denn je: Sie reichen von der Coronapandemie bis zum Halbleitermangel, vom Konflikt zwischen den USA und China bis zu den Sanktionen gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine, von massiv steigenden Energie- und Rohstoffpreisen bis zu verschärften Regularien in Bezug auf Klimaschutz oder soziale Kriterien. Zu diesen zum Teil neuen und daher vorrangigen Faktoren kommen wie bisher die internen Anforderungen, etwa der Kostendruck oder die Sicherung funktionierender Lieferketten. All dies ist ein Ausdruck der heutigen volatilen, komplexen und unsicheren Welt und führt dazu, dass der Einkauf sich am Prinzip der Nachhaltigkeit ausrichten und seinen Fokus verstärkt auf Resilienz, die Verringerung von Risiken und andere bisher vernachlässigte Themen legen muss. Dass „Sustainable Procurement“ die richtige Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen ist, belegen Beispiele von Unternehmen, die sich frühzeitig in diese Richtung engagiert haben und heute davon profitieren.
Umfragen zeigen, dass den meisten Unternehmen heute Ziele wie Risikoreduktion, Lieferkettenresilienz, aber auch der Beitrag zu ihren Nachhaltigkeitszielen wichtiger sind als weitere Kostensenkungen im Einkauf. All diese Ziele lassen sich mit Sustainable Procurement erreichen. Und mehr: Durch seine starke Cross-Funktionalität ist der Einkauf prädestiniert dafür, Nachhaltigkeit entlang der drei Dimensionen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG: Environment, Social, Governance) im gesamten Unternehmen zu verankern, dabei überall entlang der Wertschöpfungskette Einfluss zu nehmen (vgl. Abb. 1) und so weitergehende Potenziale zu heben. Dazu gehört neben einer höheren Versorgungssicherheit durch widerstandsfähigere Lieferketten auch ein verbessertes Markenimage, das wiederum hilft, bestehende Kunden zu binden und neue zu gewinnen. Nicht zuletzt vertieft und verbessert das gemeinsame Ziel der Nachhaltigkeit auch Geschäftspartnerschaften mit Lieferanten und Abnehmern und stärkt das Commitment der Mitarbeiter.
Ein nachhaltiger Einkauf birgt also erhebliche Potenziale, doch um diese für das eigene Unternehmen nutzbar zu machen, ist mehr nötig, als nur die nationalen oder internationalen Vorschriften und Gesetze in Bezug auf Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte oder Berichtspflichten einzuhalten. Auch darüberhinausgehende freiwillige Industriestandards oder Selbstverpflichtungen, die sich an den Erwartungen von Kunden und Investoren orientieren, haben zwar ihre Berechtigung, genügen aber in den seltensten Fällen als Basis für ein funktionierendes und umfassendes Konzept, mit dem sich die bestehenden Potenziale vollständig heben lassen. Daher gehen Vorreiter beim Thema nachhaltige Beschaffung noch einen Schritt weiter und gestalten ihr Geschäftsmodell so um, dass das Konzept seine volle Wirksamkeit entfalten kann (vgl. Abb.2).
Einer dieser Vorreiter beim Thema nachhaltiger Einkauf und Lieferkettenmanagement ist ein Hersteller von Sportausrüstung aus Deutschland: Er verfolgt aktiv seine gesamte Lieferkette, unterstützt Materiallieferanten und arbeitet eng mit Institutionen zusammen, um durchgehend für eine nachhaltige Praxis zu sorgen und verbindliche Grenzwerte für kritische Substanzen einzuführen. Damit trägt er indirekt zur Verringerung von Abfall und Emissionen auch beim Produktanwender bei, stärkt so die eigene Unternehmens- und Markenidentität und fördert die Widerstandsfähigkeit seiner Lieferketten, gerade angesichts der aktuellen externen Herausforderungen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie man im Bereich der Nachhaltigkeit etwas bewegen kann, zeigen zwei große französische Unternehmen: Sie unterzeichneten eine Partnerschaft für das Recycling von Polymeren, um ihr Ziel von 30 % recyceltem Inhalt in der Innenausstattung von Fahrzeugen zu erreichen.
Doch nicht nur Sportartikel- oder Kosmetikunternehmen mit ihren entsprechend sensiblen Zielgruppen sehen einen Vorteil darin, sich über gesetzliche Vorschriften und Branchen-Selbstverpflichtungen hinaus um nachhaltige Praktiken zu bemühen: Ein deutscher Pharmahersteller – eine Branche, die sich in der Vergangenheit mit dem Thema Nachhaltigkeit durchaus schwertat – arbeitet an einem System zur internen Kohlenstoffbepreisung für alle Investitionen, um die Emissionen entlang der Lieferkette deutlich zu reduzieren. Zudem hat das Unternehmen gemeinsam mit anderen den Sustainable Procurement Pledge (SPP) gegründet, eine internationale, gemeinnützige Organisation, die das Wissen über verantwortungsvolle Beschaffungspraktiken fördert. Zu den Gründungsmitgliedern des SPP gehört auch ein großer deutscher Konsumartikelkonzern: Er hat sich unter anderem das Ziel gesetzt, sämtliche Beschaffungsentscheidungen auf Basis der drei Nachhaltigkeitssäulen Klimafreundlichkeit, Kreislaufwirtschaft und sozialer Fortschritt zu treffen. Und nicht zuletzt gibt es Vorreiter und auch Nachahmer im IT-Sektor, die sich für die Verringerung des ökologischen Fußabdrucks ihrer Rechenzentren einsetzen, indem sie z. B. eine neue Geschäftseinheit für die Bewertung von Zulieferern schaffen, die ESG-bezogene Audits oder Untersuchungen durchführt.
Es geht um mehr als nur die Auswahl der richtigen Lieferanten
Was sollten Unternehmen nun tun, die einen nachhaltigen Einkauf einführen und von seinen Vorteilen profitieren wollen? Zunächst gilt es, sich klarzumachen, dass es um weit mehr geht als nur die Auswahl der richtigen Lieferanten oder Vorprodukte. Vielmehr betrifft das Konzept der Nachhaltigkeit sämtliche Geschäftsprozesse, daher müssen entsprechend umfassende Unternehmensziele und Nachhaltigkeits-KPIs definiert werden, an denen sich die Beschaffungspolitik orientieren kann. Beim Aufbau des Sustainable Procurements sollte dann der Fokus zunächst vorrangig auf der Entwicklung einer Einkaufsstrategie und dem Lieferantenmanagement liegen (vgl. Abb. 3). Dazu gehören ein Verhaltenskodex und entsprechende Verpflichtungen für Lieferanten, aber auch die konsequente Anwendung von Nachhaltigkeitskriterien bei Ausschreibungen sowie bei der Auswahl neuer Lieferanten und dem Monitoring ihrer Leistung während der Geschäftsbeziehung.
Eine möglichst umfassende Transparenz über die Nachhaltigkeitsperformance zumindest auf Stufe 1 der Lieferkette ist wichtig, nicht nur, um die Wirksamkeit des eigenen Engagements erfassen zu können, sondern auch, um Risiken besser beurteilen und vermeiden zu können. Zudem steigert sie aber auch die Motivation von Lieferanten, sich selbst auf Nachhaltigkeit zu konzentrieren, um die Vertragsbedingungen einhalten zu können. Unterstützend lassen sich gemeinsame Initiativen entwickeln, die das Thema weiter vorantreiben und auch auf Tier-2- und Tier-3-Zulieferer ausstrahlen. Damit wird die gesamte Lieferkette immer resilienter gegenüber Disruptionen. Dass darüber hinaus gesetzliche Anforderungen (Stichwort "Lieferkettensorgfaltspflichten-Gesetz") proaktiv umgesetzt werden, ist ein weiterer positiver Aspekt.
Ein zusätzlicher Vorteil dieser Transparenz ist, dass das Unternehmen seine Lieferanten bei ihren Klimaschutzbemühungen unterstützen und damit die vorgelagerten Treibhausgasemissionen aus seiner Lieferkette reduzieren kann: Zwar werden die so genannten Scope-3-Emissionen im europäischen Emissionshandelssystem bisher nicht dem Weiterverarbeiter zugerechnet, dennoch fließen sie zunehmend in unternehmerische Treibhausgasbilanzen ein, weil Stakeholder wie Investoren, Kunden oder die allgemeine Öffentlichkeit es fordern. Auch hier ist also ein über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehendes Engagement sinnvoll, zum Beispiel, indem Treibhausgasemissionen freiwillig kompensiert werden, die bei Zulieferern oder auch beim Kunden während der Nutzungszeit von Produkten entstehen.
Der CO2-Preis liegt derzeit bei rund 100 Euro pro Tonne und wird in Zukunft noch deutlich ansteigen (vgl. Abb. 4). Daher wird dieses Thema als Kostenfaktor immer wichtiger. Angesichts der Tatsache, dass der Anteil der Scope-3-Emissionen an den Gesamtemissionen eines Unternehmens je nach Branche bei 50 bis 80 Prozent liegt, verfügt gerade der Einkauf über ein erhebliches Potenzial zur Reduzierung von Emissionen und damit Kosten. Die Procurement-Verantwortlichen sollten daher gemeinsam mit Lieferanten auch in dieser Hinsicht entsprechende Strategien entwickeln
Mehr Nachhaltigkeit bei geringeren Kosten – ein Widerspruch?
Traditionell galt in vielen Unternehmen der Dreisatz Nachhaltigkeit gleich Kosten gleich unwirtschaftlich. Doch dieser Zielkonflikt ist heute längst überholt: Das Beispiel der Scope-3-Emissionen ist nur ein möglicher unmittelbarer Kosteneffekt des Konzepts der nachhaltigen Beschaffung. Mindestens so wichtig sind mittelbare Effekte, etwa durch die Reduktion und Entschärfung unvorhergesehener Risiken, die hohe, nicht budgetierte Kosten verursachen. Zudem fördert ein nachhaltiger Einkauf die Entstehung von Innovationen und deren frühzeitige Einbindung in die Prozesse, wodurch die Kosteneffizienz gesteigert wird (z.B. Nutzung digitaler Tools zum Schaffen von Transparenz über die Lieferantenbasis). Damit lässt sich langfristig sogar die Kostenposition des Einkaufs verbessern. Nicht zuletzt spielt das Kriterium Nachhaltigkeit zunehmend auch bei der Gewinnung von Investoren sowie bei öffentlichen Vergaben eine Rolle. Zieht man all diese Faktoren in Betracht, zeigt sich, dass eine konsequente Umstellung auf Sustainable Procurement in den meisten Fällen zumindest mittel- und langfristig sinkende Kosten und mehr Wirtschaftlichkeit bewirkt.
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