Wie Krisen die Transformation von Firmen beschleunigen
Diese Ausgabe geht der Frage nach, wie Gesellschaft und Wirtschaft nach der Coronakrise aussehen werden.
Artikel von Geoff Poulton
Illustrationen von DAQ Studio
Homeoffice ist 2020 eines der meistgebrauchten Wörter und vielleicht der meistgenutzte Ort. Wird die neue Arbeitskultur die Pandemie überleben?
An grossen Gebäuden kann man erkennen, was einer Gesellschaft wirklich wichtig ist. Die Ägypter bestatteten ihre Pharaonen in Pyramiden. Die Römer errichteten Zirkusse, um das Volk zu amüsieren, und Aquädukte, um es mit Wasser zu versorgen. Heute dominieren glänzende Kästen aus Glas und Stahl die Skyline unserer Städte. Unsere Kultstätten sind Bürotürme. Seit mehr als einem Jahrhundert wuchsen sie stetig in die Höhe und in die Fläche. Dann gingen plötzlich die Lichter aus – und das ganz wörtlich.
Das Coronavirus versetzte die Welt in eine Schockstarre. Die Tempel unserer modernen Gesellschaft blieben leer. Und werden sich vielleicht nie wieder füllen. Die Pandemie warf ein Schlaglicht auf unsere Arbeitsweise und hat dabei offenbart, was einige von uns seit Längerem dachten: Wir müssen nicht ständig im Büro sein. Viele stellten fest: Dank der Wunder der modernen Technologie können wir auch zu Hause produktiv arbeiten. Würden wir diese Flexibilität und Autonomie im Arbeitsleben gern beibehalten? Und ob!
Das haben auch die Entscheider in den Unternehmen erkannt. Trotz erster Lockerungen der Corona-Beschränkungen erlaubten viele ihren Mitarbeitern, weiter im Homeoffice zu bleiben. Dell beispielsweise gestattete einem Großteil seiner Belegschaft, bis Ende 2020 zu Hause zu arbeiten, Google sogar bis Juli 2021. Facebook und Twitter erklärten, dass sie Fernarbeit auf Dauer zur Regel machen – zumindest, wenn es die Aufgaben eines Mitarbeiters zulassen. Bald schon könnten darum all die Kicker, Café-Bereiche, Schlafkapseln und Wellness-Center, die Mitarbeiter so lange wie möglich an ihrer Arbeitsstätte halten sollen, der Vergangenheit angehören. Mehr als ein Viertel der Fortune-500-CEOs antwortete auf die Frage, wann mindestens 90 % ihrer Belegschaft ins Büro zurückkehren werden, mit "Nie". James Gorman, CEO von Morgan Stanley, erklärte, seine Bank werde in Zukunft "deutlich weniger Immobilien" benötigen, Barclays-Chef Jes Staley sprach von "langfristigen Anpassungen" beim Bereitstellen von Arbeitsplätzen für seine Tausenden von Angestellten.
Beim schrittweisen Übergang vom Krisenmanagement zur Planungsphase für die neue Normalität wird immer deutlicher, dass viele Veränderungen in unseren Arbeitsgewohnheiten das Virus überleben werden. "Dies ist ein massiver Kulturwandel", sagt Tsedal Neeley , Professorin für Business Administration an der Harvard Business School. "Manche Menschen denken, alles werde wieder so sein wie früher. Aber wir werden nicht zum 'früher' zurückkehren."
Dennoch wird es nicht leicht sein, sich von tief verwurzelten Gewohnheiten zu lösen. Vor dem Ausbruch der Pandemie hatten nur wenige Unternehmen klare Richtlinien für die Arbeit im Homeoffice. Dabei gaben in einer Umfrage des US-Marktforschungsunternehmens Global Workplace Analytics zwei Drittel der Befragten an, dass sie zu Hause äußerst produktiv arbeiteten; 94 % erklärten, dass sie künftig zumindest zum Teil von zu Hause aus arbeiten wollen. Die digitalen Tools für Fernarbeit funktionieren mittlerweile ziemlich gut und entwickeln sich in erstaunlichem Tempo weiter. "Krisen beschleunigen technologische Veränderungen, weil sie für mehr Effizienz sorgen", sagt Andrew McAfee, Co-Direktor der MIT-Initiative zur digitalen Wirtschaft und Co-Autor von The Second Machine Age und Machine, Platform, Crowd: "Ich erwarte, dass viele Unternehmen in den kommenden Monaten mehr Technologie implementieren werden."
Die drängendste Aufgabe wird darin bestehen, die richtige Balance zwischen Homeoffice und Büroarbeit zu finden. Unternehmen müssen lernen, wie man Teams leitet, die von verschiedenen Orten aus effizient zusammenarbeiten sollen. Es wird einige Zeit dauern, bis wir diese Fähigkeiten beherrschen, sagt Neeley. "Einige Führungskräfte ließen den Mitarbeitern völlig freie Hand, was dazu führte, dass diese sich alleingelassen fühlten. Andere betrieben Mikromanagement und verschlimmerten so den ohnehin erhöhten Stress."
Vertrauen ist der wichtigste Faktor. "Viele Manager wissen nicht, wie sie sicherstellen sollen, dass Mitarbeiter produktiv arbeiten, wenn sie sie nicht sehen können", sagt Neeley. Einige hätten sogar die Tastenanschläge ihrer Untergebenen erfasst. "Das ist nicht hilfreich", sagt die Harvard-Professorin, "wir bräuchten stattdessen Makromanager, die für Klarheit sorgen, indem sie Verantwortung übernehmen und sinnvolle Ziele setzen", sagt sie. "Wir müssen lernen, in Ergebnissen zu denken, nicht in Prozessen."
Aber man steckte Menschen nicht nur in Büros, um sie so besser kontrollieren zu können. Eine virtuelle Konferenz vermittelt nun mal nicht die Nähe einer physischen Besprechung. Es fehlen nonverbale Signale. Das kann irreführend sein, manchmal auch nervtötend. Virtuelle Teams sind zwar gut dafür geeignet, mit bereits vorhandenem Wissen Arbeit schneller und produktiver zu erledigen. Kreative Prozesse und Innovationen entstehen aber oft bei unstrukturiertem Brainstorming, von Angesicht zu Angesicht.
Den Austausch untereinander zu organisieren, ist einer der schwierigsten Aspekte der Fernarbeit. Für einige Interaktionen sind Kommunikationswege besser geeignet, die den Teammitgliedern Zeit zum Nachdenken und Priorisieren lassen, bevor sie antworten. Viele eingespielte virtuelle Teams setzen darum oft auf E-Mails. Bei anderen Themen ist es notwendig, dass Teammitglieder unmittelbar reagieren. Die Beschränktheit von Videokonferenzen und unser angeborenes Bedürfnis nach menschlicher Interaktion zeigen: Die ideale Situation für die Zeit nach der Pandemie wird wahrscheinlich eine Kombination aus Fern- und Büroarbeit sein.
Aber wie sieht dann das Büro der Zukunft aus? Zum einen wird es mehr Hygienemaßnahmen geben, meint Simon Pole, Designdirektor bei Unispace, einem Unternehmen für Bürogestaltung. Zum anderen würden Unternehmen ihre Büroflächen im Schnitt um 20 bis 30 % verkleinern, die Qualität dieser Büros aber werde um 20 bis 30 % höher liegen. Bislang planten wir Büros um Schreibtische herum. Künftig wird es vor allem darum gehen, Wissen und Erfahrungen zu teilen. Darum gibt es schon jetzt eine größere Nachfrage nach Gemeinschaftsräumen, in denen Teams Probleme lösen, Innovationen vorantreiben und soziale Kontakte pflegen können.
Besprechungsräume werden nicht mehr so formell gestaltet sein – ein angenehmer Nebeneffekt monatelanger Zoom-Konferenzen aus Wohnzimmern und Küchen. Despina Katsikakis vom Gewerbeimmobilienservice-Unternehmen Cushman & Wakefield glaubt, dass gesichtslose, graue Kabinen und Besprechungsräume verschwinden werden. Dafür würden Büros mehr die Marken und Werte des Unternehmens verkörpern: "Erfahrungsaustausch, kuratierte Veranstaltungen, Innovation und Mentoring werden wichtiger. Wenn Menschen sich aussuchen können, wo sie arbeiten, müssen Unternehmen attraktive Orte schaffen."
Der Abbau von Büroflachen in teuren Innenstadtlagen könnte unsere Lebens- und Arbeitsgewohnheiten sogar noch grundlegender verändern. Statt zu pendeln, könnten Arbeitnehmer den Coworking-Space an ihrem Wohnort zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen, um von dort mit Kollegen oder Geschäftspartnern in Kontakt zu treten. Facebook ist bereits in Atlanta, Dallas und Denver auf der Suche nach regionalen Hubs für Fernarbeiter.
Einige Arbeitnehmer könnten ihr Verhalten noch einschneidender ändern, sagt MIT-Co-Direktor McAfee. Denn in den vergangenen Monaten haben viele von ihnen erkannt, dass sie aus der Ferne fast genauso effizient wie vom Büro aus arbeiten können. Er glaubt, dass einige diese Erkenntnis dazu ermutigen wird, sich vom teuren Stadtleben zu verabschieden, und sich dadurch der Trend zum "digitalen Nomadentum" verstärkt. Laut einer Umfrage sehen sich bereits fünf Millionen Amerikaner als digitale Nomaden, mehr als dreimal so viele wären es gerne.
Auch Arbeitgeber profitieren von der Fernarbeit. Sendible, ein Softwareunternehmen mit Sitz in London, führte das Homeoffice 2009 ein. "Von da an waren wir nicht mehr auf Großbritannien beschränkt, sondern hätten Zugriff auf die talentiertesten Mitarbeiter aus der ganzen Welt", sagt Sendible-Mitarbeiterin Martine Hammar. Sicher: Auch nach dem Ende der Pandemie werden viele Arbeitnehmer die tägliche Interaktion mit Kollegen und die Trennung von Job und Privatleben bevorzugen. Trotzdem markiert die Coronakrise einen Wendepunkt: Die Obsession für durchgehende Präsenzpflicht, die die Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts prägte, ist vorbei.
Diese Ausgabe geht der Frage nach, wie Gesellschaft und Wirtschaft nach der Coronakrise aussehen werden.