Wie man ein Traditionsunternehmen aufbaut

Think:Act Magazin "Rhythmus finden"
Wie man ein Traditionsunternehmen aufbaut

29. September 2024

Die Geheimisse von Firmen, die jahrhundertelang im Geschäft bleiben

Artikel

von Bennett Voyles
Fotos von Julia Sellmann

Längst nicht alle Firmen setzen auf das Schnelle Geschäft und den kurzlebigen Erfolg. Manche Traditionsunternehmen bleiben jahrzehnte- oder jahrhundertelang am Markt. Forscher beobachten gewisse Gemeinsamkeiten, die auch für andere Unternehmen interessant sind: Klare Werte spielen dabei eine zentrale Rolle.

Gut zu wissen
Solide Grundlagen:

Alteingesessene Firmen wachsen langsam, haben weniger als 300 Mitarbeiter und stabile Wettbewerbsvorteile.

Die Werte zählen:

Bei sehr alten Unternehmen steht der Gewinn meist nicht an erster Stelle. Wichtiger ist Loyalität gegenüber der Familie oder der Gesellschaft.

Der Kunde ist nicht immer König:

Viele alte Betriebe halten sich an eine klare Zielsetzung. Das hilft ihnen in stürmischen Zeiten des Wandels.

Nahaufnahme von zwei ineinander verschränkten Händen vor einem dunkelgrünen Hintergrund. Am Ringfinger der schmaleren Hand stecken zwei Ringe.

Die meisten Unternehmen werden nicht besonders alt. Nicht einmal die Hälfte aller Aktiengesellschaften bleiben länger als elf Jahre an der Börse, das entspricht in etwa der Lebenserwartung eines großen Hundes. Nur eine Handvoll überlebt den Durchschnittsmenschen, hat Geoffrey West, Professor für theoretische Physik am Santa Fe Institute, für eine Statistik ermittelt.

Aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel: zum Beispiel das Nishiyama Onsen Keiunkan, ein japanisches Heilbad mit heißen Quellen in Hayakawa. Dort werden bereits seit dem Jahr 705 unserer Zeitrechnung Gäste zum wohltuenden Bad empfangen. Oder der Staffelter Hof in Kröv an der Mosel: Das im Jahr 862 eröffnete Weingut füllt bis heute Weine ab. Nishiyama Onsen und der Staffelter Hof sind nicht die Einzigen: Eine Studie der Bank of Korea von 2008 listet weltweit mehr als 5.500 Unternehmen auf, die schon 200 Jahre oder älter sind; 56 % davon finden sich in Japan, 15 % in Deutschland und 4 % in den Niederlanden.

Auf solche Unternehmen blickte man vor einem Jahrzehnt noch eher abschätzig – als eine zum qualvollen, langsamen Scheitern verurteilte Expedition oder doch zumindest als eine Serie verpasster Zukunftschancen. Seit Nachhaltigkeit und Resilienz als wichtige Unternehmensziele anerkannt werden, sieht die Sache anders aus: Könnte es sich nicht doch lohnen, sich das Erfolgsrezept solcher Traditionsfirmen einmal genauer anzuschauen?

Experten für Nachhaltigkeit

Manche Gemeinsamkeiten stechen sofort ins Auge: Der Staffelter Hof zum Beispiel gehörte – und das war früher ziemlich verbreitet – zu einem Kloster. Heute findet man unter den Dauerläufern im Unternehmenssektor vor allem Familienunternehmen. Sie wachsen üblicherweise sehr langsam und haben weniger als 300 Beschäftigte. Einige gründen ihr Geschäftsmodell auf einen dauerhaften komparativen Wettbewerbsvorteil, wie die heißen Quellen von Nishiyama Onsen zum Beispiel. Oder sie setzen auf eine besondere Beziehung zu ihren Kunden, so wie die Glockengießerei Marinelli im italienischen Agnone, die seit Jahrhunderten Kirchenglocken in Handarbeit herstellt. Ihr Hauptkunde ist die römisch-katholische Kirche. Die (spätestens) im Jahr 1339 gegründete Gießerei bekam vor einem Jahrhundert von Papst Pius XI. das Privileg verliehen, das päpstliche Wappen auf ihren Glocken zu verwenden.

22 Jahre: Zeitraum, innerhalb dessen 75 von 100 Aktienunternehmen in Streubesitz wieder vom Markt verschwanden.

Quelle: The Santa Fe Institute

Alteingesessene Unternehmen sind in der Regel äußerst risikoscheu. "Sie sind oft nicht besonders ambitioniert", sagt Geoffrey West, Autor des 2017 veröffentlichten Buches Scale: The Universal Laws of Life and Death in Organisms, Cities and Companies. Ein traditionelles japanisches Gasthaus zum Beispiel "will nicht zum Best Western werden und sich auf der ganzen Welt verbreiten. Das haben die Betreiber dieser Ryokans gar nicht im Sinn. Sie wollen einfach ihren Service bestmöglich weiterführen." Es gibt sogar eine Vereinigung von rund 50 Familienunternehmen in Europa und Japan, die seit mindestens 200 Jahren durchgängig im Mehrheitsbesitz der Gründerfamilien blieben. Die französische Association les Hénokiens geht auf den biblischen Patriarchen Henoch zurück, den Vater Methusalems, der 365 Jahre alt geworden sein soll.

Eines der Mitglieder ist die Van Eeghen Gruppe, ein niederländisches Unternehmen, im Jahr 1662 gegründet. Ihr Vorsitzender, Duco Sickinghe, sagt, die meisten Unternehmen in dieser Gruppe "konzentrieren sich sehr stark auf ihre Werte, ihr Kerngeschäft und ihre Ausdauer".

Bei diesen Unternehmen steht der Gewinn meist nicht an erster Stelle. Dies gilt zumindest für Van Eeghen. Das Amsterdamer Unternehmen begann mit dem Handel von Wolle und Leinen, stieg im 19. Jahrhundert auf nordamerikanische Immobilien um und handelt heute mit Nahrungsergänzungsmitteln. Sickinghe erzählt, wie seine Familie im Laufe der Jahre oft einen Großteil seiner Gewinne aus dem Unternehmen verschenkte. "Wann immer sie zu viel Geld hatten, haben sie es verschenkt. Sie waren Baptisten, und Baptisten behalten nicht so gerne Geld", erklärt er. "Geld stinkt." Zwar sind nicht alle Eigentümerfamilien religiös, aber die Gründer von Traditionsunternehmen und deren Nachfahren sind meist von einer Verpflichtung geprägt, erläutert Morten Bennedsen, Ökonomie-Professor in Kopenhagen: "Sie sind einer Sache gegenüber loyal. Einige von ihnen sind nur der Familie gegenüber loyal. Andere fühlen sich ihren Gemeinden verpflichtet. Und manche sind auch loyal gegenüber ihren Ländern."

Kopf einer älteren Frau mit grauem Haar. Ansicht von der Seite hinten auf ihr linkes Ohr. Das kinnlange Haar wird durch eine schlichte Haarklammer hinter dem Ohr gehalten.

Neue Werte entstehen

Von Zeit zu Zeit kommen auch neue Werte hinzu. Nach sieben Jahren als Unternehmensberater kehrte Claudio Stefani in das Unternehmen seiner Familie zurück. Acetaia Giusti stellt im italienischen Modena hochwertigen Balsamico-Essig her. Doch als Stefani mehrere Angebote von Private-Equity­-Firmen für den 400 Jahre alten Familienbetrieb bekam, entschied er sich, das Unternehmen zu behalten. Er wollte sicherstellen, dass seine Mitarbeiter gut behandelt werden. Japanische Traditionsunternehmen wiederum verstehen ihre Kundenbeziehungen grundlegend anders als westliche Firmen, sagt Yoshinori Hara, Professor an der Kyōto University. "In westlichen Ländern steht der Kunde über dem Dienstleister. In Japan begegnen sich Kunde und Dienstleister auf Augenhöhe", erklärt er. "Der Service soll die Menschen dazu ermutigen, mehr über den Wert der Gastfreundschaft zu lernen."

Alt, älter, erfolgreich!

Wie man ein Unternehmen für die Ewigkeit vorbereitet:

↘ Friedlicher Machtwechsel. Alte Unternehmen haben in der Regel ein stabiles System für den Übergang von einer Generation auf die nächste entwickelt.

↘ Verstehen, wer man ist. Familienunternehmen verfügen über ein klares Verständnis ihrer Identität, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird.

↘ Wer würde Sie vermissen? "Man sollte sich immer die Frage stellen, wer uns vermissen würde", sagt Autor Jim Collins. "Wenn Sie eine wirklich gute Antwort darauf haben, ist das eine solide Grundlage."

↘ Langfristig planen. Beständige Unternehmen sind gut darin, funktionierende Systeme und Führungs­kräfte aufzubauen.

↘ Das Jetzt zählt. Duco Sickinghe ist auch Chef von Fortino Capital, einer Risiko­kapital- und Private-Equity­-Firma. Er fragt Unternehmen nicht nach ihrem Zehnjahresplan. Er möchte wissen, was sie nächste Woche vorhaben: "Unternehmen, die jede Woche gut abschneiden, werden auch langfristig erfolgreich sein."

"Geschichten sind kein Marketing. Sie können hilfreich sein."

Jim Collins

Autor von Immer erfolgreich und Der Weg zu den Besten

Traditionsreiche Unternehmen haben meist auch eine klare Zielsetzung. Als Beispiel nennt Hara ein Unternehmen, das Blumenarrangements anbietet unter dem Motto: "Das Leben ist grenzenlos". Damit will die Firma ausdrücken, dass es keine Rolle spielt, ob man in Japan oder im Ausland Bouquets verkauft, weil man nur jeweils einheimische Pflanzen verwendet. Dank dieser klaren Ausrichtung könnten Firmen gut unterscheiden, an welchen Prinzipien sie dauerhaft festhalten und was verändert werden kann.

Ein starker Sinn für ihr Erbe scheint Traditionsunternehmen hier wie dort wichtig zu sein. "Diese alten Familienunternehmen haben alle ihre eigene Geschichte, und viele von ihnen orientieren sich an dem Wirken ihrer Vorfahren", sagt Bennedsen.

Jim Collins, Co-Autor des Buches Immer erfolgreich: Die Strategien der Top-Unternehmen, stimmt zu, dass Geschichten zur Unternehmensidentität wichtig sind. "Geschichten sind kein Marketinginstrument. Sie vermitteln die Wurzeln eines Unternehmens und seine Kernziele", sagt Collins. "Sie können enorm hilfreich sein für junge Unternehmen, für Mittelständler und über einen sehr langen Zeitraum hinweg auch für die wirklich großen, alten Unternehmen."

Über den Autor
Portrait of Bennet Voyles
Bennet Voyles
Bennet Voyles ist ein Wirtschaftsjournalist und lebt in Berlin. Im Laufe der vergangenen 20 Jahre hat er mehr als 1.000 Artikel über die unterschiedlichsten Themen geschrieben. Zudem ist er Autor des Reiseberichts Onward, Backward! -or- A Ramble to Santiago.
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Veröffentlicht September 2024. Vorhanden in
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