Der Zirkus der Transformation
Think:Act befragt profilierte Experten zu Themen wie Unternehmenswandel, ethisches Wirtschaften, Resilienz und Innovationsstrategien.
von Neelima Mahajan
Fotos von Amy Lombard
Timing kann alles sein. Gute Führungskräfte wissen, wann sie sich aus dem Getümmel zurückziehen und nach übergeordneten Mustern Ausschau halten sollten. Die Strategieexpertin Rita Gunther McGrath empfiehlt, sich Freiraum für Perspektivwechsel zu nehmen – und erst danach eine größere Wende im Unternehmen einzuleiten.
Entscheider suchen Rita Gunther McGrath auf, weil sie eine besondere Fähigkeit hat: Sie kann "um die Ecken schauen". Ihre Gabe, künftige Wendepunkte zu erkennen, gibt Managern Halt in unsicheren Zeiten. In unserem Gespräch erläutert die Professorin von der Columbia Business School, wie man Vorboten der Veränderung wahrnimmt und richtig nutzt. Der wichtigste Tipp aus ihrem Buch Seeing Around Corners (2019) ist aktueller denn je: Bevor Sie eine Initiative ergreifen, treten Sie einen Schritt zurück – und konzentrieren Sie sich auf subtile Veränderungen.
Wenn Sie Ihr Buch heute schreiben würden, gäbe es etwas, das stärker betont werden sollte?
Rita Gunther McGrath ist eine weltweit führende Expertin für Innovation und Wachstum in unsicheren Zeiten. Die amerikanische Wissenschaftlerin ist "Academic Director in Executive Education" an der Columbia Business School in New York. Sie wird regelmäßig unter die Top Ten der weltweit führenden Management-Denker gewählt.
Ich würde mehr Betonung auf die Einsicht legen, dass man zunächst entschleunigen sollte, um dann das Tempo zu erhöhen. Man muss unterschiedliche Perspektiven auf ein Geschehen einnehmen. Wir haben diese schnelle Art des Denkens kultiviert, bei der wir rasch Urteile fällen. Viele Leute, die das während der Covid-Pandemie getan haben, bereuen das heute. Sie haben zu schnell endgültige Aussagen getroffen.
Hatten wir denn Zeit, es ruhiger angehen zu lassen?
Das hing von Ihrer Situation ab. Wenn Menschen in Gefahr waren, wenn eine Fabrik komplett umgerüstet werden musste oder wenn Sie lebenswichtige Güter produziert haben, blieb natürlich nicht viel Zeit. Aber ich spreche nicht von Tagen. Es gibt eine wunderbare Analogie von einem Balkon oberhalb der Tanzfläche. Führungskräfte können nach oben gehen, sich aus dem Getümmel zurückziehen und vom Balkon aus Muster erkennen. Und wenn es nur für ein paar Minuten ist. Was bewirkt diese Entschleunigung? Sie lassen sich nicht beirren. Nehmen Sie sich ein paar Minuten mehr Zeit, um einfach zu fragen: Verstehe ich wirklich, was hier vor sich geht? Erkenne ich die Muster?
Wie beurteilen Sie die Veränderungen durch die Pandemie aus einer organisatorischen Perspektive?
Viele Gewissheiten wurden infrage gestellt. Zum Beispiel, dass das Arbeiten im Homeoffice nicht so gut funktionieren kann wie im Büro. Zu den unangenehmen Entdeckungen gehörte, wie sehr wir uns auf Schulen und Kindertagesstätten verlassen haben. Oder für wie selbstverständlich wir das reibungslose Funktionieren der globalen Lieferketten hielten. Ein bleibender Eindruck ist für mich die Erkenntnis, wie fragil unsere Umwelt doch ist. Ein Technologiekolumnist des Wall Street Journal erklärte mir einmal, wie ein Dongle produziert wird und wie er bis zu einem Käufer nach Connecticut gelangt. Das sind all diese Dinge, die im Hintergrund ablaufen, über die wir uns nie Gedanken gemacht haben. Jetzt lernen wir, wie Häfen funktionieren und was Robotik bedeutet. Die Welt ist viel komplexer, als wir dachten.
Wir erleben Handelskriege, Lieferkettenprobleme, geopolitische Konflikte und einen Krieg. Sind die strategischen Herausforderungen mehr geworden – oder fühlen wir uns einfach nur überfordert?
Der Eindruck der zugespitzten Krisen entsteht zum Teil aus dem Blick zurück in die Vergangenheit. Wenn wir zurückblicken, dann wissen wir, wie etwas ausgegangen ist. Das ist dann meist nicht mehr so schlimm. Lebte man jedoch während des Ersten oder Zweiten Weltkriegs, war die Unsicherheit damals enorm hoch. Wenn man nicht weiß, was passieren wird, fühlt sich das beängstigend an. Nehmen wir zum Beispiel die Rezession von 2008. Wir fürchteten nach der Lehman-Pleite den Zusammenbruch des Finanzsystems. Heute wissen wir, dass wir die Krise überwunden haben. Blicke ich auf die heutigen Krisen, haben wir auch Angst. Wir wissen eben nicht, wie es ausgehen wird. Das ist der Unterschied. Die emotionale Belastung scheint oft größer zu sein als die echte Bedrohung.
Wie hat die Pandemie die Konkurrenzsituation von Unternehmen beeinflusst?
Die Pandemie hat Gewinner und Verlierer hervorgebracht. Unternehmen wie Clorox, Peloton und Amazon reagierten auf die gestiegene Nachfrage, indem sie ihre Kapazitäten aufstockten. Wenn man allerdings historische Vergleiche anstellt, weiß man, dass die Nachfrage nach solchen Ausnahmesituationen wieder zurückgeht. Folglich werden die meisten Unternehmen ihre Produktion nicht dauerhaft ausweiten. Amazon ist ein gutes Beispiel, wie man es nicht tun sollte: Das Unternehmen hat sich verschätzt und musste Entlassungen auf Managementebene vornehmen. Das ist unüblich.
Ich denke außerdem, dass sich unsere Art und Weise, nach einem Nutzen zu suchen, verändert. Wir suchen heute nach Lösungen, die in ein Ökosystem eingebettet sind. Diese Entwicklung lässt sich zwar schon seit einiger Zeit beobachten. Aber inzwischen sind es immer mehr die Dienstleistungen, die den größten Nutzen stiften. Keiner kauft heute mehr einen Hammer, ohne Bewertungen anderer Kunden zu lesen. Praktisch jedes Produkt ist heute digital in irgendeiner Weise mit seiner Umwelt vernetzt. Das Wesen der meisten Unternehmen hat sich dadurch bereits verändert.
Haben die jüngsten Ereignisse Auswirkungen auf die Lebenszyklen von Geschäftsmodellen? Man hat den Eindruck, das Tempo hat sich beschleunigt.
Ich denke, das stimmt. Schauen Sie sich nur die Geschwindigkeit der Technologieentwicklung an. TikTok macht Facebook das Leben schwer. Das Netzwerk ist in kürzester Zeit auf eine Milliarde Nutzer angewachsen. Sie können Geschäftsmodelle exponentiell skalieren. Wir erleben das Erodieren traditioneller Wettbewerbsvorteile. Markteintrittsbarrieren sind heute viel kleiner als früher. Geschäftsideen können einfacher kopiert werden.
Wir entdecken auch etwas wieder, das wir nie hätten vergessen dürfen: die sogenannte Strategie 101. Schauen Sie sich die vielen Direktvermarkter an, die in den Jahren um 2010 und 2011 entstanden sind: Dollar Shave Club, Warby Parker oder Harry's. Sie haben gelernt, wie man Geschäftsmodelle einfach starten und auf den Markt bringen kann. Allerdings waren sie auch wirklich leicht zu kopieren. Die Strategie 101 gilt noch immer: Man braucht eine Strategie für eine langfristig tragfähige Wettbewerbsfähigkeit, wenn man ein Unternehmen gründet.
Drücken wir gerade eine Art Reset-Knopf, wodurch sich unsere Annahmen über Branchen, Geschäftsmodelle, Verbraucher und Märkte ändern?
Ich würde nicht sagen, dass sich alle unsere Annahmen verändern. Jeff Bezos sagte einmal, dass er seine Geschäfte daran ausrichtet, was sich ändern wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute in zehn Jahren sagen werden: "Jeff, ich liebe Amazon. Aber würdest du bitte langsamer ausliefern und mehr Geld verlangen?" Einige Dinge ändern sich nicht. Man muss als Unternehmen eine Aufgabe erledigen. Was sich ändert, ist die Art und Weise, wie wir das tun. Denken Sie zum Beispiel an Rauchzeichen, Telegramme, Festnetztelefone und Smartphones. Bei all diesen Technologien geht es um eine Form von Kommunikation, die Zeit und Raum überwindet. Die Technologie stellt nicht die Aufgabe infrage, sondern die Annahmen darüber, wie Unternehmen diese Aufgaben erledigen.
Wer ist besser für solche Wendepunkte gerüstet – große Konzerne oder Start-ups?
Ich habe behäbige Start-ups gesehen. Und ich habe flexible Großunternehmen gesehen. Ich glaube deshalb nicht, dass das von der Größe abhängt, sondern von der Führung. Am besten auf Veränderungen vorbereitet sind Firmen, die freie Ressourcen haben und bei denen sich kreative Mitarbeiter ausprobieren können. 3M ist ein Beispiel. Hier gilt die Devise: Wir wissen nie, wo eine interessante Idee herkommt. Wenn eine Krise kommt, haben sie bei 3M den Schrank voller Ideen, an denen die Mitarbeiter eine Weile gearbeitet haben. Man steht also nie vor einem leeren Schrank und stellt fest, dass da nichts ist. Ich denke, dass Unternehmen, die über Reservekapazitäten verfügen und ihre Portfolios gut verwalten, eine gewisse Sensibilität für Veränderungen entwickelt haben. Solche Unternehmen sind am besten aufgestellt.
Sie haben Führungsqualitäten erwähnt. Was zeichnet denn Führungskräfte aus, die als Gewinner aus Krisen hervorgehen?
Sie sind neugierig und glauben nie, dass sie auf alles eine Antwort haben. Sie werden sagen: "Das ist jetzt im Moment die beste Wahl, aber es ist nicht die beste überhaupt." Es gibt immer noch etwas zu verbessern. Sie sind sehr gut darin, umfangreiche Informationsstrukturen aufzubauen. Solche Führungskräfte sprechen regelmäßig mit ihren Mitarbeitern der unteren Ebenen. Sie sind deshalb bestens vernetzt, ohne sich im Mikromanagement von Detailfragen zu verzetteln. Aber sie wollen wissen, was im Unternehmen vor sich geht. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie das ganze Unternehmen durch irrationale Entscheidungen in Aufruhr versetzen. Sie verfügen über ein umfassendes Wissen über alles Mögliche, was um sie herum passiert. Wenn man dieses grundlegende Wissen hat, registriert man Veränderungen, die über die Zukunft der Firma entscheiden könnten. Wenn man aber nicht die Zeit investiert hat, um die Grundlagen zu analysieren, erkennt man das nicht. Und es fällt einem schwer, Situationen richtig einzuschätzen.
Hat die Pandemie im Hinblick auf die Innovationsfähigkeit oder das Nachdenken in Unternehmen über ihre Wettbewerbsposition Gutes bewirkt?
Ja, ich bin überzeugt, dass die Pandemie auch viel Gutes mit sich gebracht hat. In dem Jahrzehnt vor der Pandemie war sehr viel Geld im Umlauf. Die Situation war in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit den späten 1990er-Jahren. Unternehmen wurden zu groß. Vielen Leuten ging es sehr gut, und sie merkten gar nicht, wie gut sie es hatten. Dann kam das Schockereignis, das alles auf den Kopf stellte. Es zwingt uns zu kreativen Antworten.
Ergänzende Lektüre:
Seeing Around Corners von Rita Gunther McGrath, 259 Seiten. Houghton Mifflin Harcourt, 2019. 27,40 Euro.
Think:Act befragt profilierte Experten zu Themen wie Unternehmenswandel, ethisches Wirtschaften, Resilienz und Innovationsstrategien.